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Grüne Ampeln funktionieren in beide Richtungen, dachte Lena. Sie geben die Straße frei. Aber gleichzeitig zwingen sie einen, weiterzufahren und sich vielleicht in unbekanntes Gebiet zu wagen, das man nicht so ohne Weiteres wieder verlassen kann, Rückkehr ungewiss.
Vaughan erwartete sie am Empfang, und Lena begleitete ihn zu seinem Auto auf dem Besucherparkplatz. Offenbar konnte er sein Glück kaum fassen, dass Ramsey ihnen freie Hand ließ. Endlich konnten sie ungehindert in die Richtung ermitteln, in die die Indizien wiesen.
»Ich brauche Sie morgen früh«, sagte er.
»Wofür?«
»Tim Hights Produzent ist ein Typ namens Pete London. Er ist einverstanden, mit uns zu sprechen. Sie arbeiten schon seit zwanzig Jahren immer wieder mal zusammen.«
»Wie haben Sie ihn dazu gekriegt?«
»Er hat mich heute Nachmittag selbst angerufen. Offenbar muss er sich etwas von der Seele reden. Er produziert derzeit eine Reality-Serie für einen Musiksender. Hight hat eine Weile Regie geführt und dann kurz nach dem Tod seiner Tochter aufgehört.«
»Hat er Hight rausgeschmissen?«
»Am Telefon wollte er nicht ausführlicher werden. Er sagte nur, sie würden in einem Haus in Venice drehen. Er hat mir die Adresse gegeben und erwartet, dass wir morgen pünktlich um acht dort auf der Matte stehen.«
Vaughan entriegelte seine Autotür und öffnete sie. Als ihre Blicke sich trafen, trat er einen Schritt auf sie zu.
»Ich fasse es nicht, was du heute Abend gemacht hast«, flüsterte er. »Higgins so in die Mangel zu nehmen. Falls es sich je herumsprechen sollte, dass du Higgins mit heruntergelassenen Hosen erwischt hast, wird dein Foto auf dem Schreibtisch jedes Staatsanwalts im Haus stehen.«
Als sie lächelte, umarmte Vaughan sie lachend. Er stieg ins Auto und kurbelte das Fenster herunter.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie nickte.
»Wo möchtest du mich morgen treffen?«
»Ich wohne im Rustic Canyon. Von dort aus sind es fünf Autominuten nach Venice. Wenn du früh genug da bist, lernst du die Kinder kennen.«
»Klingt gut«, erwiderte sie. »Dann also bis halb acht.«
»Ich schicke dir eine SMS mit der Adresse.«
Er lachte noch einmal auf und fuhr davon.
Lena konnte es nicht in Worte fassen. Lag es an seinen Augen, seiner Figur oder einfach nur an seiner Art? Sie wusste nur, dass etwas geschehen war. Die Umarmung hatte etwas verändert, und sie nahm seine körperliche Gegenwart nun deutlich wahr.
Sie fuhr auf dem Hollywood Freeway nach Hause. Der Wind hatte aufgefrischt, eine knochentrockene Brise, die dichte Staubwolken aus der Wüste in die Stadt wehte.
Lena zündete sich eine Zigarette an und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren. Obwohl sie nicht sicher war, vermutete sie, dass sie ihn aus Versehen mit ihren Brüsten gestreift hatte. Aber es hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert. Sicher hatte er es gar nicht bemerkt.
Sie zog noch einmal an der Zigarette und versuchte, den Gedanken beseitezuschieben. Im Moment ging es in ihrem Leben ohnehin drunter und drüber. Außerdem würde sie sich auf keinen Fall auf ein Techtelmechtel à la Bennett-Watson einlassen.
Warum also fühlte sich das Kribbeln in ihrem Magen plötzlich so angenehm an?
Die Ausfahrt Beachwood lag hundert Meter vor ihr. Lena wechselte auf die rechte Spur und fuhr weiter bis zur Gower Street. Dort bog sie an der grünen Ampel rechts ab und machte sich auf den Weg den Hügel hinauf. Zu ihrer Überraschung durchbrach sie die Staubwolke, als sie die Kuppe erreichte. Nach einigen Kurven kam rechts ihre Einfahrt in Sicht. Doch als sie hinter dem Abhang am Straßenrand ein Auto bemerkte, fuhr sie weiter.
Es war ein weißer Lincoln.
Während Lena noch überlegte, warum der Wagen wohl in der Dunkelheit stand, wurde ihr klar, dass sie in den letzten sechs Stunden ihren gesamten Vorrat an Angst und Anspannung aufgebracht hatte. Jetzt hatten Gereiztheit und Neugier die Oberhand gewonnen.
Sie rollte die Straße hinauf zum nächsten Haus und in die Einfahrt. Wegen einer Zwangsversteigerung stand das Haus, ebenso wie das Nachbaranwesen, seit über einem Jahr leer. Lena durchquerte den Garten und folgte den von Kojoten ausgetretenen Trampelpfaden zwischen den Bäumen hindurch und um die Hügelkuppe herum. Als sie unter den Bäumen hervortrat, stand sie neben dem Pool an der Rückseite ihres Hauses. Sie duckte sich hinter einen Busch.
Cobb kam gerade in Sicht.
Sie beobachtete, wie er versuchte, aus einem Fenster aufs Dach der Veranda zu klettern. Seine Bewegungen wirkten unbeholfen, und sie hörte ihn ächzen. Als er endlich draußen war, glitt er auf den Dachpfannen aus und das Dach hinunter, bis er sich im letzten Moment an der Dachkante festhalten konnte.
Nachdem er sich wieder gefasst hatte, spähte er zu dem offenen Fenster. Lena wusste, was in seinem Kopf vorging. Er robbte noch einmal hinauf, um das Fenster zu schließen. Die Prozedur dauerte eine Weile und schien ihm einige Schmerzen zu verursachen. Nachdem Cobb das Fenster geschlossen hatte, verlor er wieder den Halt und schlitterte zur Kante hinunter, wo er sich eine Weile ausruhte und den Plattenweg unter sich betrachtete. Kaum hatte er wieder Kräfte gesammelt, tastete er mit den Füßen nach dem Fallrohr und kletterte hinunter. Keuchend stand er vor der Veranda und wischte sich die Stirn mit einem Stück Stoff ab, das eher an einen Putzlappen als an ein Taschentuch erinnerte.
Lena schlich in den Garten, blickte Cobb nach, der in der Dunkelheit verschwand, und hörte ihn schließlich davonfahren. Sobald seine Scheinwerfer außer Sicht waren, rannte sie durchs Gebüsch zu ihrem Auto und kehrte nach Hause zurück.
Trotz der späten Stunde war sie hellwach, als sie die Eingangstür aufschloss und die Deckenbeleuchtung einschaltete. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und hielt Ausschau nach Veränderungen. Dass Cobb das Haus verwanzt hatte, glaubte sie nicht, denn er hatte kein Werkzeug bei sich gehabt. Doch als sie vor dem Tisch an der Schiebetür stand, fiel ihr sofort die Akte neben Gants Tagebuch auf, und sie erkannte, dass die Papiere darin durcheinandergeraten waren. Sie zog den Stuhl heraus und spürte mit dem Finger, dass die Sitzfläche warm war. Eine Überprüfung der Glühbirne unter dem Lampenschirm erbrachte das gleiche Ergebnis: Sie war noch heiß.
Cobb hatte an diesem Tisch gesessen. Und zwar geraume Zeit.
Lena wusste nicht, was sie von dieser Unverfrorenheit halten sollte. Es kümmerte ihn offenbar nicht, welches Risiko er einging.
Sie setzte sich auf den Stuhl und versuchte, den Tisch von Cobbs Warte aus zu betrachten. Offenbar hatte er Gants pornographischen Roman zur Seite geschoben, und die Akte und das Tagebuch lagen nun vorne in der Mitte. In der Akte fand Lena ihre Aufzeichnungen und den Zeitplan, den sie am Abend nach dem Mord an Bosco und Gant angefangen hatte. Aufzeichnungen und Tagebuch waren Cobb neu gewesen. Diese Informationen konnte er an Bennett weitergeben.
Ihr Mobiltelefon vibrierte. Es war Sid Kosinski aus der Gerichtsmedizin.
»Entschuldigen Sie die späte Störung, Lena, aber ich komme gerade aus dem Autopsiesaal.«
Der Empfang war miserabel. Lena öffnete die Schiebetür und trat hinaus auf die Terrasse.
»Was gibt es, Sid?«
»Vielleicht ist es ja nicht weiter wichtig, aber der Detective, der im Fall Lily Hight ermittelt hat, war vor etwa drei Stunden hier.«
»Cobb?«
»Genau. Er wollte meine Autopsieprotokolle in Sachen Bosco und Gant einsehen und wirkte ziemlich nervös. Außerdem hat er eine Menge Fragen gestellt. Komischerweise ging es hauptsächlich um Sie.«
Lena rutschte die Mauer hinunter, bis sie saß.
»Haben Sie ihm etwas über den Fall erzählt?«
»Natürlich nicht. Doch wahrscheinlich hat er doch was mitgekriegt.«
»Warum das?«
»Er hat Freunde hier.«
»Was für Freunde?«
»Aus alten Zeiten«, erwiderte Kosinski. »Als er noch bei der Mordkommission war.«
Lena hatte keine große Lust, einen von Cobbs Freunden kennenzulernen. Wie benommen blickte sie über die Hügel. Die schmutzige Staubwolke füllte das Tal bis zum Rand und verbarg die ganze Stadt mit Ausnahme des Library Tower in der Stadtmitte. Der Mond beleuchtete die Oberfläche der Wolke, die so stabil aussah, als könne man darauf spazieren gehen.
»Sind Sie noch dran, Lena?«
»Ja, Sid. Danke für die Info.«
»Wahrscheinlich war Cobbs Besuch nicht weiter wichtig, oder? Keine große Sache.«
Lena betrachtete wieder die Wolke und erschauderte trotz der Hitze.
»Richtig«, antwortete sie. »Keine große Sache.«