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Ein Stück weiter oben an der Straße bemerkte Lena zwei Männer, die den Rasen mähten. Eine junge Frau schob einen Kinderwagen den Gehweg hinunter.
Sie drehte sich wieder zu Watsons Haus um, läutete und musterte die Eingangstür. Keine Reaktion. Rasch durchquerte Lena den Vorgarten, trat in den Garten und spähte zum Wohnzimmerfenster hinein. Als sie nichts Ungewöhnliches entdeckte, schlich sie weiter ums Haus und überprüfte sämtliche Fenster und Türen.
Falls jemand sie beobachtete und die Polizei rief, hatte Lena nichts dagegen. Dennoch war sie schneller, wenn sie das Schloss an der Hintertür knackte.
Sie kramte den Spanner und einen kurzen Haken hervor und holte ein paarmal tief Luft, um ihre Nerven zu beruhigen. Das Schloss war so alt, dass sie trotz der Geräusche ringsherum die Stifte einrasten hörte. Eine knappe Minute später spürte sie, wie der Speerhaken sich drehte, und versetzte der Tür einen Stoß.
Lena stand in einem kleinen Garderobenraum. Die Alarmanlage war nicht eingeschaltet, und sie hörte in der Stille einen Fernseher laufen. In der Diele drehte sich langsam der Deckenventilator. Sie warf einen Blick in die Essecke. Der Tisch, auf dem zwei Gedecke und zwei halb volle Gläser Rotwein standen, war gestern Abend nicht mehr abgeräumt worden. Lena hob die Flasche an, sie war leer. Der Fernseher in der Ecke war auf CNN eingestellt. Im nächsten Moment stieg ihr etwas in die Nase: ein Putzmittel mit einem stark chemischen Geruch.
Grapefruit vielleicht. Jedenfalls seltsam. Es passte irgendwie nicht ins Bild.
Lena kehrte in die Diele zurück, bog um die Ecke und ging in die Küche. Auf dem Boden stand ein Eimer mit Wasser. An der Wand lehnte ein Mopp. Neben dem Waschbecken bemerkte Lena einen Haufen Putzlappen und eine Flasche Mr Clean. Als ein Telefon läutete, zuckte Lena zusammen, fasste sich aber rasch wieder. Sie entdeckte das Mobiltelefon auf dem Frühstückstisch neben Watsons Handtasche, fasste es jedoch nicht an, sondern sah aufs Display: Watsons Büroanschluss. Offenbar machte sich die Sekretärin weiterhin Sorgen und versuchte, ihre Chefin zu erreichen.
Draußen ging die Sonne unter. Lena atmete noch zweimal tief durch und knipste die Deckenbeleuchtung an. Sie funktionierte nicht. Lena konnte die düstere Vorahnung nicht abschütteln.
Sie wandte sich um. Auf der Arbeitsfläche lagen ein großes Schneidebrett und ein Satz handgearbeiteter Profikochmesser aus Japan. An der Wand dahinter hing ein Foto von Watson mit einem kleinen Mädchen auf einer Schaukel. An der Wand neben der Tür bemerkte Lena eine weitere Schalttafel für die Alarmanlage. Die Tür führte zur Garage.
Ihr Blick fiel auf den Fußboden. Die Fliesen. Das Blut war nur oberflächlich weggewischt worden. Die Schmierspuren zeigten in Richtung Garage.
Lena erschrak, nahm sich jedoch zusammen und ging vorsichtig um die Blutflecken herum. Sie öffnete die Tür und betrachtete den weißen Audi in der dunklen Garage. Als sie den Geruch wahrnahm, wurde ihr klar, dass das Gespräch mit Debi Watson recht einseitig verlaufen würde.
Sie machte Licht und suchte den Raum nach einer Leiche ab. Da der Boden sauber war, beschloss sie, das Auto unter die Lupe zu nehmen. Sie kehrte in die Küche zurück, holte den Schlüssel aus Watsons Handtasche, machte noch einmal einen Schritt über die Schleifspuren hinweg und betätigte den Türöffner. Es kostete sie Mühe, ruhig zu bleiben.
Das Auto piepste; der Kofferraum sprang auf.
Schlagartig stieg ein scharfer und säuerlicher Geruch auf. Lena hielt sich Mund und Nase zu und eilte um das Auto herum, um einen Blick hineinzuwerfen.
Sie erstarrte.
Watsons Leiche lag zusammengekrümmt in dem kleinen Kofferraum. Lena musterte ihr Gesicht. Ihre blonden Locken. Das getrocknete Blut an ihrem Mund. Sie hatte Schusswunden im Unterleib und in der Brust und war in durchsichtige Plastikfolie eingewickelt worden. Ihre Augen standen offen, ihre Handflächen pressten sich gegen die Plane, als hätte sie noch gelebt, als jemand sie eingepackt und in der Dunkelheit zurückgelassen hatte. Es war eindeutig kein gnädiger Tod gewesen.
Lena taumelte zurück in die Küche. Das grausige Bild stand ihr noch deutlich vor Augen, als sie die Garagentür schloss.
Sie nahm sich einen Moment Zeit, um sich zu sammeln, bevor sie zu Watsons Telefon griff, um die Anruferliste zu überprüfen.
Ihr letzter Anruf gestern Abend um 18:25 Uhr hatte Lena gegolten. Bennett hatte sich eine halbe Stunde davor mit ihr in Verbindung gesetzt, und die beiden hatten einige Minuten miteinander telefoniert. Am nächsten Tag war sie um zehn Uhr vormittags von ihrem Büro angerufen worden; die Sekretärin hatte stündlich versucht, Watson zu erreichen.
Lena legte das Telefon weg und dachte nach.
Eines war klar: Der Mörder hatte sein Werk noch nicht vollendet. Er hatte die Tote eingewickelt und in den Kofferraum gestopft, um sie wegzuschaffen. Außerdem war er mit dem Saubermachen nicht fertig geworden. Der Wassereimer, die sauberen Lappen neben der Putzmittelflasche, der Mopp an der Wand. Klare Hinweise darauf, dass er zurückkehren würde. Und da Einbruchsspuren fehlten, hatte Watson den Täter gekannt. Vermutlich hatten sie gestern gemeinsam zu Abend gegessen und dazu eine Flasche Wein getrunken. Offenbar konnte er nach Belieben kommen und gehen, weil er einen Schlüssel besaß. Und das hieß, dass er bald wieder hier sein würde, um die Arbeiten abzuschließen.
Warum also wollten die Zweifel sich nicht legen?
Lena lief die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Auf der Kommode stand ein Foto von Watson und Bennett. Anscheinend war es auf der Rennbahn in Del Mar, ein Stück südlich von hier, entstanden. Die beiden saßen, Cocktails vor sich, an einem Tisch. Während Watsons Lächeln echt wirkte, konnte Lena sich des Gedankens nicht erwehren, dass Bennett selbst in diesem Freizeitidyll einen hinterhältigen und böswilligen Eindruck machte.
Sie stellte das Bild weg und ging in das mit zwei Waschbecken ausgestattete Bad, wo sie einen Föhn und Schminksachen neben dem einen und auf der Ablage des anderen Beckens Rasierzeug entdeckte. Ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf, außer dass das Etui mit dem Rasierzeug ziemlich vollgestopft war. Im Unterschränkchen fand sie einige leere Körbe. Die Flecken im Geflecht verrieten ihr, dass diese einmal Kosmetikartikel enthalten hatten und dass Bennett offenbar gerade beim Zusammenpacken war.
Sie spürte, wie sich ihre Schultern anspannten. Ein frischer Adrenalinstoß durchfuhr ruckartig ihren Körper.
Lena betrachtete kurz das große Bett mit der Satinwäsche und riss die Türen des Wandschranks auf. Watsons Kleider hingen dicht nebeneinander. Für einen Mitbenutzer war hier kein Platz. Auch in den Schubladen stieß sie auf nichts, was Bennett gehören könnte.
Lena eilte den Flur hinunter zum Gästezimmer und machte Licht. Beim Eintreten bemerkte sie auf dem Bett zwei Kartons mit Hemden, frisch aus der Wäscherei. Neben einem Stuhl standen einige elegante Herrenschuhe. Auf der Kommode am Fenster bemerkte sie einen offenen Koffer. Lena öffnete die Schranktüren und zählte fünf Anzüge. Ein sechster befand sich noch in einer Zellophanhülle und war vermutlich mit den Hemden aus der Reinigung gekommen.
Der Moment drohte sie zu überwältigen und raubte ihr beinahe den Atem.
Sie entfernte die Plastikhülle von dem Anzug, erst langsam, dann immer schneller, als sie die Nadelstreifen erkannte. Ihr Gesicht war erhitzt, und ihr Blick wanderte über den Stoff, bis er am linken Revers hängen blieb – wo sich das Loch befand.