16
Es ging weniger um die genaue Anzahl der offenen Fragen als um deren Tragweite und Sprengkraft.
Lena ahnte, dass ihr das nächste Problem ins Haus stand, sobald Dan Cobb aus der Tür trat und sie am Empfang begrüßte, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen. Dann verlagerte er das Gewicht auf die Absätze und musterte Lena mit unverhohlenem Argwohn.
Cobb hatte die Ermittlungen im Mordfall Lily Hight geleitet. Lena war quer durch die Stadt zur Pacific Station gefahren, um ihm einen unangemeldeten Besuch abzustatten. Der Mann hatte doch tatsächlich ihre Dienstmarke sehen wollen, was nicht nur überflüssig, sondern auch albern war, weil er genau wusste, wer sie war.
»Worum geht es?«, fragte er.
Der diensthabende Kollege am Empfang telefonierte gerade, und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Lena warf einen Blick auf die Tür zur Mordkommission.
»Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass wir uns da drin unterhalten?«
Er dachte einen Moment nach, während er mit dem Münzgeld in seiner Hosentasche klimperte.
Cobb war ein stämmiger, breitschultriger Mann Mitte fünfzig. Sein kurz geschorenes Haar hatte verschiedene Grauschattierungen. Und sein noch kürzerer Kinnbart hätte beinahe als Stoppeln durchgehen können, so tief versank er in den Falten seiner wettergegerbten Haut. Obwohl er Lena eindringlich und abschätzend musterte, konnte sie nicht feststellen, welche Farbe seine Augen hatten, weil er eine Brille trug, deren Gläser sich bei Sonneneinstrahlung tönten. Das Brillengestell aus durchsichtigem Plastik hatte eine Form, die so altmodisch war wie Cobbs Kleidung. Offenbar hatte er bei Lenas Ankunft gerade aus dem Fenster geschaut.
»Ich denke, das ginge«, erwiderte er schließlich. »Falls es nicht zu lange dauert.«
Er öffnete eine Tür und marschierte los, ohne abzuwarten, ob sie ihm folgte. Was er von ihr hielt, war nicht zu übersehen, denn seine abfällige, ruppige Art konnte man nur als Unverschämtheit bezeichnen.
Doch Lena machte gute Miene zum bösen Spiel und achtete nicht auf sein Benehmen. Wenn sie erreichen wollte, dass er in dieser wichtigen Sache mit ihr an einem Strang zog, musste sie seine schlechten Manieren eben schlucken.
Im Großraumbüro sah Lena sich um, kein bekanntes Gesicht. Als sie Cobbs Schreibtisch erreichten, winkte er sie weiter.
»Nicht hier«, meinte er. »Wir setzen uns in eins der Vernehmungszimmer.«
Er griff nach einem Notizblock und machte sich auf die Suche nach einem Stift. Auf seinem Schreibtisch war nichts Persönliches, nur ein alter Schnappschuss, der an der Tischplatte festgeklebt war. Interessanterweise waren darauf keine Menschen, sondern eine Landschaft abgebildet. Auf dem verblassten Foto war eine hinter einem Palmenhain im Ozean versinkende Sonne zu sehen.
»Wo wurde das gemacht?«, fragte sie.
Cobb, der noch immer seine Schublade nach einem Stift durchwühlte, blickte nicht auf.
»Hualalai«, erwiderte er gleichmütig. »Vor fünfzehn Jahren. Ich habe dort in einem Fall ermittelt. Seitdem wollte ich immer mal wieder hin.« Endlich hatte er ein Schreibutensil entdeckt. »Bringen wir es hinter uns.«
Er führte Lena in ein Vernehmungszimmer, schaltete die Deckenbeleuchtung ein und wies auf einen der am Boden befestigten Stühle. Doch ehe er sich setzte, testete er den Stift auf seinem Notizblock und stellte prompt fest, dass er eingetrocknet war.
»Bin gleich zurück«, sagte er.
In Lenas Augen handelte es sich um einen klaren Fall von Verzögerungstaktik. Cobb trieb Spielchen mit ihr. Wenn er die letzten zwölf Stunden nicht im Koma verbracht hatte, musste er genau wissen, was sie hier wollte. Sie drehte sich um und spähte durch die Tür. Der Detective war nicht an seinem Schreibtisch. Als sie schon aufstehen wollte, kam er eilig um die Ecke ins Zimmer und stieß die Tür mit dem Fuß zu. Lena wartete ab, bis er ihr gegenüber am Tisch Platz genommen und den neuen Stift ausprobiert hatte. Offenbar funktionierte er.
»Warum sind Sie hier, Gamble?«, fragte Cobb.
»Ich möchte gern die Akte im Mordfall Lily Hight einsehen.«
»Warum? Die Sache ist aufgeklärt. Der Mann, der sie umgebracht hat, wurde letzte Nacht getötet. Die Akte ist geschlossen. Der Täter ist tot.«
»Ich habe den Vater des Mädchens kennengelernt. Jetzt würde mich interessieren, warum Sie ihn für unschuldig gehalten haben.«
Das war eine berechtigte Frage, die jeder Detective gestellt hätte, ganz gleich, wie er den Fall nun einschätzte. Und dennoch lehnte Cobb sich zurück und musterte sie wieder abschätzend durch seine Brille. Da die Gläser nun heller wurden, konnte sie sehen, wie seine Augäpfel sich bewegten.
»Sie sind es also, was?«, entgegnete er. »Das neue Gesicht in der PR-Maschinerie der Polizei von L. A. Der frische Wind. Ich kenne Sie, Gamble. Die benutzen Sie nur, um aus dem Schlamassel rauszukommen, in den sie sich selbst reingeritten haben.«
»Sie stecken genauso tief drin wie wir anderen auch, Cobb. Wir sitzen alle im selben Boot. Also, wie haben Sie die Verdachtsmomente gegen Tim Hight ausgeräumt?«
Er zuckte die Achseln, ohne Lena aus den Augen zu lassen. »Ich hatte doch den Jungen. Welchen Grund hätte ich haben sollen, Hight zu verdächtigen?«
Wieder blitzte ein warnendes Licht auf. Lena nahm es zwar zur Kenntnis, sagte aber nichts. Lily Hight war zu Hause in ihrem Zimmer ermordet worden. Also hätten sich die ersten Ermittlungen mit ihrer Familie – ihren Eltern – befassen und so lange andauern müssen, bis die Unschuld jedes Haushaltsmitglieds zweifelsfrei feststand.
Cobb beobachtete sie und zählte eins und eins zusammen wie ein Gedankenleser. Als er auflachte, klang es rau und bösartig, ja, sogar ein wenig wahnwitzig.
»Ach, jetzt kapiere ich«, höhnte er. »Darauf wollen Sie also hinaus. Sie glauben, Daddy hätte sein kleines Mädchen kaltgemacht. Das kommt bestimmt prima an, weil er doch inzwischen ein Held ist.«
Zornig schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, sprang auf und ging an der Wand hin und her wie ein Tier im Käfig.
»Wenn Sie Nebelkerzen werfen wollen«, zischte er. »Wenn Sie einen Sündenbock suchen, weil die Witzbolde, die Mist gebaut haben, nicht zu ihren Fehlern stehen können – wenn das Ihr Plan ist, Gamble –, dann leide ich ab jetzt an Gedächtnisschwund. Keine Ahnung, was es gestern zum Abendessen gab. War es Steak oder Hummer? Oder vielleicht auch nur eine Schüssel voll mit guter alter Scheiße.«
Lena schüttelte den Kopf.
»Setzen Sie sich, Cobb. Sie machen mich nervös.«
»Ich mache Sie nervös? Das ist ja spitzenklasse! Ich krieg mich gar nicht mehr ein! Ich mache Sie also nervös. Und was glauben Sie, was Sie hier mit mir veranstalten? Der Junge hat sie umgebracht. Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Ich bin jetzt schon seit fünfundzwanzig Jahren bei der Mordkommission und wusste auf Anhieb, dass der kleine Stinker unser Täter war. Als ich hörte, dass ihn jemand ins Jenseits befördert hat, habe ich mir erst mal einen Cutty Sark genehmigt.«
»Jetzt mal halblang, Cobb. Beruhigen Sie sich und setzen Sie sich hin. Was ist passiert, als sie Gant einem Lügendetektortest unterzogen haben?«
Endlich kehrte Cobb zum Tisch zurück. Er schien seinen Stuhl in Augenschein zu nehmen, dann ließ er sich darauf nieder.
»Wer redet hier von einem Lügendetektortest?«
»Heißt das, Sie haben gar keinen gemacht?«
»Das war nicht nötig. Die Ergebnisse der Blutuntersuchung kamen rein. Die DNA. Die Resultate stimmten, und ich habe ihn festgenommen. Wozu noch einen Lügendetektortest riskieren? Der Junge war ein Lügner, wie er im Buche steht. Was, wenn der miese Scheißkerl den Test bestanden hätte? Was hätte Paladino dann wohl veranstaltet? Dieses Arschloch von einem Anwalt hätte es doch sofort in der ganzen Stadt herumposaunt. Wir hätten weit und breit keinen unvoreingenommenen Geschworenen mehr gefunden.«
Lena antwortete nicht.
Cobb grinste sie triumphierend an. »Dazu fällt Ihnen wohl nichts mehr ein, richtig?«, spöttelte er. »Sie wären das Risiko auch nicht eingegangen. Das hätte nämlich niemand getan.«
Lena dachte daran, wie sie beschlossen hatte, zur Polizei zu gehen. Damals hatte sie sich eine Liste angelegt. Auf der einen Seite hatte sie sich ihre Ziele notiert und auch ihre Gründe dafür. Auf die andere hatte sie geschrieben, wie sie auf keinen Fall werden wollte, ebenso mit Begründung. Als sie nun Cobb betrachtete, sein wettergerbtes Gesicht, sein ungehobeltes, ja, sogar aggressives Verhalten und seine mangelnde Selbstbeherrschung, wurde ihr klar, dass er alle in der zweiten Spalte vermerkten Eigenschaften verkörperte. Seine Äußerungen enthielten zwar auch ein Körnchen Wahrheit, doch der vorherrschende Eindruck war Verbitterung, Überforderung und Großspurigkeit.
Lena sah ihn noch einmal an, nun jedoch in der Hoffnung, dass er ihre Gedanken lesen konnte. Er sollte wissen, was sie von ihm hielt, ohne dass sie es aussprechen musste, weil sie sich das aus Professionalität lieber verkniff. Als sie ihren Stuhl zurechtrücken wollte, fiel ihr ein, dass dieser ja am Boden festgeschraubt war. Während sie sich in dem kleinen Raum umblickte, nahm sie den Schweißgeruch in der stickigen Luft wahr.
»Warum unterhalten wir uns eigentlich hier, Cobb? Weshalb in einem Vernehmungszimmer, nicht in einem Konferenzraum?«
Er zuckte die Achseln, als sei es ihm scheißegal.
»Das sind nichts als Machtspielchen, richtig?«, hakte sie nach. »Macht und Einschüchterung. Das ist Ihre Methode, andere unter Druck zu setzen, weil Sie glauben, so im Vorteil zu sein. Sind Sie mit Jacob Gant auch so umgesprungen? Haben Sie ihn geschlagen? Ihn misshandelt?«
Die Augen musterten sie durch die Brillengläser. Die Augäpfel glitten noch immer hinter der getönten Brille hin und her, und Lena sah etwas aufblitzen, einen Funken, der ins Wasser fiel und dort mit einem Zischen verlosch.
Aber Cobb schwieg weiter. Und als ihm eine Vierteldollarmünze aus der Tasche fiel und über den Boden rollte, rührte er sich nicht von der Stelle.
Lena erhob sich und riss die Tür auf. »Holen Sie mir die Fallakte, Cobb. Es ist spät, und ich will hier raus.«
Nach einer Weile wuchtete er seinen steifen Körper vom Stuhl hoch. Wieder eine Verzögerungstaktik, als er quälend langsam vor ihr hertrottete. Allerdings kochte er vor Wut. Als er endlich an der Tür angelangt war, schenkte er ihr ein Lächeln, das eher ein Zähnefletschen war.