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Inzwischen lag es für sie auf der Hand.
Der gesamte Prozess gegen Jacob Gant stand und fiel mit den DNA-Spuren am Körper und an der Kleidung von Lily Hight. Für Cobb, Bennett und Watson war die Übereinstimmung mit der von Gant der Beweis gewesen, dass sie ihren Mörder hatten. Und als die Proben – zusammen mit dem Höschen des Opfers – im Labor verschlampt worden waren, hatte Paladino die Geschworenen von der Unzuverlässigkeit der vor Gericht präsentierten Laborergebnisse überzeugen können, denn schließlich waren diese nun nicht mehr nachprüfbar.
Lena hatte die Laborberichte in Cobbs Fallakte gesehen. Paladino mochte ein Meister darin sein, Geschworene zu beeinflussen, doch sie zweifelte keinen Moment daran, dass die vom Labor genommenen und analysierten Spermaproben echt waren und eindeutig von Gant stammten. Wenn Gant also die Wahrheit sagte, war das Vorhandensein seines Spermas bei dem Opfer nur natürlich und bewies noch lange nicht, dass er das Opfer vergewaltigt, misshandelt und ermordet hatte. Die Tat hätte auch jemand anders verüben können, nachdem Gant längst das Haus verlassen hatte.
Doch für Lena stützte sich die Anklage ebenso auf den mutmaßlichen Todeszeitpunkt.
Das Zeitfenster war sehr klein, höchstens zwei Stunden, genauer konnte man es nicht eingrenzen. Soweit Lena feststellen konnte, basierten die Berechnungen weniger auf wissenschaftlichen Untersuchungen oder Indizien als auf den Aussagen von Jacob Gant und Tim Hight. Die Uhr begann ab dem Zeitpunkt zu laufen, als Gant angeblich das Haus des Opfers verließ, und endete, als Hight ihre Leiche fand. Das war der Zeitrahmen, auf den sich die Anklage stützte, denn beide Männer waren vor Ort gewesen.
Lena ging durch das Untergeschoss des Parker Center und warf einen Blick durch die Panzerglasscheibe der Asservatenkammer, es gab zwei, die eher an eine Bank kurz vor der Pleite erinnerten. Ein Mann füllte an einem der beiden Tische neben der Tür ein Formular aus, während ein anderer an der Theke wartete und beobachtete, wie die Sachbearbeiterin, eine ältere Frau hinter einer Barriere aus beigem Drahtgeflecht, sein Päckchen in eine Liste eintrug. Beide Männer waren Detectives, doch Lena kannte sie nicht.
Obwohl niemand aufblickte, als sie den Raum betrat, hielt sie den Kopf gesenkt, wandte ihnen den Rücken zu und stellte sich vor den zweiten Tisch, um das Ausgabeformular auszufüllen. Da die Beweisstücke im Computer verzeichnet waren, würde jeder, der genauer hinschaute, Lunte riechen und konnte ihr und Vaughan eine Menge Ärger machen. Doch sie schob ihre Befürchtungen beiseite.
Lena war nicht auf der Suche nach Blut, Sperma, ja, auch nicht nach Speichelrückständen, denn die würde sie nicht finden. Nach den Tatortfotos zu urteilen, waren Lilys Jeans und Stiefel einen guten Meter entfernt von der Leiche achtlos auf den Fußboden geworfen worden.
Vielmehr war Lena an Hautzellen interessiert, die der Täter möglicherweise hinterlassen hatte, als er Lily gewaltsam Jeans und Stiefel vom Leib riss.
Und dieser Einsatz von Gewalt war der springende Punkt, denn es mussten lebende Hautzellen sein. Ohne Gewaltanwendung reichte die DNA nicht, um den Übertragungsweg nachzuweisen.
Während Lena das Antragsformular ausfüllte, die Fallnummer eintrug und über ihrer Dienstnummer unterschrieb, dachte sie, dass es zwar die richtige Entscheidung, aber ein Vabanquespiel war. Und dabei stand noch nicht einmal fest, ob es ihr gelingen würde, Martin Orth zum Mitmachen zu überreden. Er konnte die Tests nur heimlich durchführen und würde damit seine Karriere gefährden – und ausgerechnet jetzt, da das kriminaltechnische Labor sowieso schon im Kreuzfeuer der Kritik stand.
Und wofür?
Sie hätte Vaughan reinen Wein einschenken und ihm sagen sollen, dass sie eine Verzweiflungstat plante. Darauf ließ man sich nur ein, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren, in der Hoffnung, dass der Täter in seiner Raserei Hautschuppen verloren hatte.
Lena drehte sich zur Theke um und sah die alte Frau hinter dem Maschendraht an. Einer der beiden Männer lächelte ihr im Hinausgehen zu. Der zweite Detective gab gerade ein Päckchen mit Beweisstücken zurück. Nachdem er draußen war, schob Lena ihr Formular durch den Schlitz und wartete, während die Sachbearbeiterin ihre Brille zurechtrückte und die Fallnummer in den Computer eintippte.
»Lily Hight«, sagte die alte Frau schließlich. »Ihr Daddy hat den Kerl doch erledigt. Wozu brauchen Sie die Sachen noch?«
Lena merkte der Sachbearbeiterin an, dass sie allmählich argwöhnisch wurde. Aus ihrem Kopf, ihr Haar wirkte wie eine billige Perücke, schien eine Antenne auszufahren. Eigentlich brauchte Lena sich nicht für ihre Anfrage zu rechtfertigen. Andererseits war der Fall möglicherweise mit einem Warnvermerk versehen, und Lena wollte nicht, dass die alte Frau zum Telefon griff.
»Ich muss für meinen Chef eine Liste der Beweisstücke anlegen«, erwiderte sie deshalb, langweilige Verwaltungsarbeit vorschützend. »Noch mehr Berichte und Papierkrieg. Sie kennen das ja. Ich hatte gehofft, dass die Sachen noch nicht im Piper Tech eingelagert worden sind. Bei dieser Hitze noch einmal quer durch die Stadt zu gurken hätte mir gerade noch gefehlt.«
Die alte Frau glaubte ihr und grinste sie an.
»Schon gefunden, meine Liebe. Alles ist hier. Bin gleich zurück.«
Lena blickte der Sachbearbeiterin nach, die einen langen Flur entlangging und um eine Ecke bog. Da der Lagerraum hinter der Theke riesengroß war, würde sie vermutlich eine Weile brauchen.
Lena stand Höllenqualen aus, denn schließlich befand sie sich in einem verglasten Raum mit freier Sicht auf den stark frequentierten Korridor, der als Abkürzung zwischen dem Gebäude und dem Parkhaus auf der anderen Straßenseite diente. Lena schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es fast zwölf Uhr war. Als sie den Kopf hob und Barrera und den stellvertretenden Polizeichef Ramsey erkannte, wandte sie sich zur Theke um. Doch schon im nächsten Moment öffnete sich die Tür hinter ihr. Sie hörte Barreras Stimme, und Furcht durchzuckte sie, als treffe sie der Atemhauch eines Drachen.
»Gamble?«
Sie nahm sich zusammen und drehte sich um. Barrera hielt die Tür auf. Ramsey stand hinter ihm auf dem Flur. Die Zeit reichte nicht, um sich Gedanken darüber zu machem, was ihr Gesichtsausdruck wohl vermittelte.
»Ich wollte Ihnen nur das Neueste erzählen«, sagte er. »Dieses miese kleine Dreckstück von einem Klatschreporter ist wieder auf freiem Fuß. Dick Harvey wurde heute Morgen entlassen. Offenbar gibt er Ihnen die Schuld an seiner Verhaftung und schreit nach Rache. Ich an Ihrer Stelle würde nicht zu viel Zeit vor dem Fernseher verbringen.«
Lena hörte Schritte hinter sich: Die alte Frau kehrte zurück. Timing war das halbe Leben. Sie holte tief Luft.
»Spitze«, erwiderte sie. »Danke für den Tipp.«
Barrera ließ den Blick durch den Raum schweifen und schien etwas zu ahnen, sagte aber nichts. Lena rechnete jeden Moment mit dem Satz: »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?« Doch er riet ihr nur, ein Auge auf Harvey zu haben, bezeichnete ihn noch einmal als mieses kleines Dreckstück und schloss die Tür.
»War das Ihr Chef, Schätzchen?«
Lena drehte sich um, während Barrera und Ramsey davongingen. Die alte Frau stand, einen Asservatenkarton in der Hand, hinter dem Maschendraht. Sie nickte Lena zu, entriegelte das Fenster und schob den Karton über die Theke.
»Ja«, erwiderte Lena. »Wie er leibt und lebt.«