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Sie saß, ein großes Glas Eistee neben sich, in der frühen Morgensonne am Pool und fühlte sich körperlich und geistig ausgelaugt. Vaughan hatte sie zwar getröstet, dennoch hatte sie nicht schlafen können. Clayton Hu hatte dreimal angerufen, und jede neue Nachricht war noch beängstigender gewesen als die vorhergehende. Die Streifenwagen aus West L. A. waren jede mögliche Strecke zwischen Bennetts Haus und der Notaufnahme des UCLA in Westwood abgefahren. Außerdem hatten zusätzliche Einheiten jeden Zentimeter Straße zwischen dem Haus und dem St. John’s Medical Center in Santa Monica durchkämmt.
Cobb war wie vom Erdboden verschluckt.
Sie hörte, wie ihr Mobiltelefon auf seiner Ladestation läutete. Vermutlich war das wieder Hu, der ihr mitteilte, dass Cobbs Leiche endlich gefunden worden und dass ihr neuer Freund tot war, und Lena hatte keine Eile, die Hiobsbotschaft in Empfang zu nehmen.
Als sie das Telefon erreichte, war bereits die Mailbox angesprungen. Offenbar hatte sich jemand verwählt: Ein Laden namens L. A. HUND UND KATZE rief an einem Samstagmorgen vor sieben bei ihr an. Als das Telefon erneut läutete und sie dieselbe Nummer sah, meldete sich ihr Bauchgefühl: Offenbar doch kein Irrtum.
»Spreche ich mit Lena Gamble?«
Es war eine Männerstimme, die ziemlich argwöhnisch klang.
»Ja, ich bin Lena Gamble«, erwiderte sie zögernd. »Und wer sind Sie?«
»Sind Sie Detective bei der Mordkommission in Los Angeles?«
Lena versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
»Ja«, entgegnete sie. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete der Mann. »Und ich bin nicht sicher, ob die Zeit reicht, um sie zu erzählen.«
»Hat das vielleicht mit jemandem namens Dan Cobb zu tun?«
Kurz hielt er inne.
»Ja«, antwortete er. »Und es ist dringend.«
Lena schob den Barhocker weg und nahm Block und Stift von der Theke. Der Mann gab seinen Namen mit Dr. Frank an und behauptete, Tierarzt in Santa Monica zu sein. Er nannte ihr seine Adresse und bat sie, sich zu beeilen.
Die Fahrt nach Westen dauerte eine Ewigkeit. Endlich entdeckte Lena L. A. HUND UND KATZE auf der rechten Seite, sah Cobbs Lincoln davor am Straßenrand und zwang sich zur Ruhe. Beim Einparken bemerkte sie eine Delle im vorderen Kotflügel des Lincoln und auf dem Gehweg einen umgekippten Briefkasten. Als sie die Tür öffnete, blickte sie am Empfang ein Mann im weißen Arztkittel an.
»Lena Gamble?«, fragte er.
Sie nickte.
»Wo ist er?«
»Hinten.«
Er brachte sie in einen Operationsraum, wo Cobb unter Laken und Decken auf einem Tisch aus Edelstahl lag und mit seiner Pistole an die Decke zielte. Lena rannte zu ihm. Als sie sein Gesicht und seinen leeren Blick sah, hielt sie ihn schon für tot.
»Ich komme zu spät.«
Dr. Frank tastete an Cobbs Hals nach dem Puls.
»Noch nicht, aber er schwebt in Lebensgefahr.«
»Warum haben Sie keinen Krankenwagen gerufen?«
»Er hat es nicht zugelassen, und er hat eine Pistole. Er hat gedroht, mir die Rübe wegzupusten.«
Schockiert musterte Lena Cobb und strich ihm über den Kopf. Dr. Frank schien ebenso bestürzt zu sein wie sie. Seine Stimme zitterte, und die vergangene Nacht hatte ihn offenbar ziemlich mitgenommen.
»Er sagte, er hätte sein Telefon verloren, aber ich habe es heute Morgen in seiner Tasche gefunden. Als ich Ihre Nummer sah, habe ich Sie angerufen. Er hat viel über Sie gesprochen und dazwischen immer wieder das Bewusstsein verloren. Meistens konnte ich nichts verstehen, doch er vertraut Ihnen … so viel habe ich kapiert. Und er macht sich Sorgen um Sie. Wer ist Steven Bennett?«
»Warum?«
»Er sagte, Bennett hätte ihn reingelegt.«
»Hat er gesagt, wie?«
»Nein, aber ich denke, jemand hat ihm in den Rücken geschossen.«
Bennett hatte Cobb in den Rücken geschossen!
Dr. Frank ging um den Tisch herum und nahm das Laken von Cobbs Brust, um Lena die Austrittswunden zu zeigen.
»Zwei glatte Durchschüsse«, sagte er. »Eine Kugel steckt noch in seiner Schulter. Ich habe die Blutung gestoppt, aber er muss wirklich ins Krankenhaus.«
»Helfen Sie mir, ihn zu meinem Auto zu tragen.«
Lena legte die Hand um Cobbs Pistole und zog mit der anderen an. Sie war überrascht, wie entschlossen er sich an die Waffe klammerte. Endlich gelang es ihr, ihm die Pistole zu entwinden und sie in die Jackentasche zu stecken. Dr. Frank rollte einen kleinen Stahltisch auf Rädern herein. Nachdem sie Cobb daraufgelegt hatten, schoben sie ihn zur Hintertür hinaus auf den Parkplatz. Lena wendete ihr Auto, und es gelang ihnen mit einiger Mühe, Cobb auf dem Beifahrersitz festzuschnallen. Er stöhnte einige Male. Als Lena einstieg, griff er nach ihrer Hand und hielt sie so fest wie vorhin die Pistole.
Das St. John’s Medical Center lag einundzwanzig Häuserblocks östlich von hier am Santa Monica Boulevard. Eine zähe Stop-and-go-Fahrt mit Ampeln an jeder Ecke. Doch Lena legte ohnehin nur die ersten anderthalb Kilometer auf dem Pacific Coast Highway zurück. Denn dann ließ Cobb ihre Hand los. Sie sah ihren neuen Freund an, beobachtete, wie er seinen letzten Atemzug tat, und wusste Bescheid.
Lena wurde langsamer und rang um Fassung.
Als sie vor sich die Temescal Canyon Road erkannte, bog sie links ab. Auf der Hügelkuppe war ein Parkplatz. Lena stoppte an der einzigen Stelle mit Meerblick, von der aus man auch Palmen sehen konnte. Es war ein wunderschönes Panorama – wenn vielleicht auch nicht so malerisch wie das, was Cobb in Hawaii fotografiert hatte … doch es kam dem Motiv recht nahe. Lena öffnete die Fenster, um Meeresluft hereinzulassen. Als sie das Päckchen Camel Lights auf dem Armaturenbrett bemerkte, zündete sie sich eine an und zog das Nikotin in die Lunge. Sie war machtlos dagegen. Sie konnte nicht mehr klar denken.
Sie wünschte nur, Cobb hätte noch lange genug durchgehalten, um die Palmen zu sehen.
Lena ertastete die Sig Sauer unter ihrer Jacke und holte sie heraus. Als sie das Magazin herausnahm, wurde ihr klar, dass Cobb den Tierarzt mit einer ungeladenen Waffe in Schach gehalten hatte. Sie lächelte unmerklich. Als sie Cobb über die Stirn strich, fiel ihr auf, dass im Hintergrund leise das Radio spielte. Das Stück erschien ihr vertraut, weshalb sie es lauter stellte. Es war Miles Davis, eine Aufnahme, die sie schon lange nicht mehr gehört hatte.
My Funny Valentine.