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Eine Viertelstunde später hatte Lena geduscht und sich angezogen und brauste den Hügel hinunter. Als sie die gerade Strecke an der Gower Street erreicht hatte, raste sie am Monastery of the Angels vorbei und trat das Gaspedal durch. Ihrer Schätzung nach würde sie in knapp vier Minuten vor Ort sein. Lena fuhr einen metallicgrünen Crown Victoria mit getönten Scheiben, der unmissverständlich nach einem Polizeiwagen aussah. Es war ihr Dienstwagen, der jetzt jeglichen Luftstrom verdrängend über die Straße schlingerte. Allerdings dachte Lena im Moment weder an ihren fahrbaren Untersatz noch daran, dass ihr Honda vor kurzem seinen Geist aufgegeben hatte, weshalb trotz ihrer angespannten Finanzlage ein neues Auto hermusste. Denn sie wurde den Klang von Barreras zitternder Stimme nicht los.
Die Straßen waren leer. Als Lena an der Franklin Avenue eine rote Ampel überfuhr, verursachte der V8-Motor einen Rückstoß wie bei einer Schrotflinte. In Gedanken war sie beim Club 3 AM. Und bei dem Mann, der die treibende Kraft hinter dem Unternehmen war und dem ein gewisser Ruf vorauseilte, zum Beispiel: Er mischte überall mit.
Johnny Bosco.
An der Yucca Street bog Lena rechts ab. Als sie die Ivar Street überquerte und in raschem Tempo um die Kurve bog, erkannte sie in der Ferne den Nachtclub und ging vom Gas. Der Club 3 AM lag zwischen der Yucca Street und der Grace Avenue und erinnerte eher an eine zweistöckige mediterrane Villa als an ein Nachtlokal. Beim Näherkommen fiel Lena die hohe Mauer rings um das Gebäude auf. Vermutlich war die Vorderseite des Gebäudes nur eine Attrappe, und es gab einen Hintereingang, sodass Hollywoods Oberpromis unbemerkt ein und aus gehen konnten. Nachdem sie an einem rechts parkenden weißen Transporter vorbeigefahren war, hatte sie eine bessere Sicht. Zehn schwarzweiße Streifenwagen blockierten die Straße. Als Lena eine Lücke in der Barrikade suchte, bemerkte sie einen Polizisten, der ihr mit einem Klemmbrett zuwinkte. Noch während sie langsam über die Kreuzung rollte, wurde die Nacht auf einen Schlag taghell, und grellweiße Lichtexplosionen bombardierten ihr Auto.
Lena zuckte zusammen. Sie drehte sich um und stellte fest, dass sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Reportermeute drängte. Hunderte von Kameras veranstalteten ein nicht enden wollendes Blitzgewitter. Offenbar hatten die Paparazzi Blut gewittert: zwei Leichen in Hollywood. Sie schoben sich schreiend zu den Absperrbändern vor und beschimpften die uniformierten Polizisten, die sie in Schach zu halten versuchten.
Lena ließ das Autofenster herunter und kniff die Augen zusammen, als das Scheinwerferlicht, nicht mehr gedämpft von den getönten Scheiben, gleißend hell wie ein Blitzschlag ins Wageninnere eindrang. Nachdem der Polizist Lena auf seiner Liste eingetragen hatte, wies er auf die mit einem Tor gesicherte Auffahrt, wobei er sich schützend die Hand vor Augen hielt.
»Der Laden ist verkehrtrum!«, rief er. »Hinten ist vorne.«
Auf seinem Gesicht war nicht die Spur eines Lächelns zu sehen, und er verkniff sich eine Bemerkung zu dem Tohuwabohu. Lena fühlte sich von seinem Augenausdruck an Barreras ängstlichen Tonfall erinnert. Der Mann machte Platz, bevor sie ihm noch eine Frage stellen konnte, griff nach seinem Funkgerät und winkte sie durch. Lena erwiderte die Geste. Dann lenkte sie ihren Crown Vic die Auffahrt entlang außer Sichtweite der Paparazzi, die sich weiter die Hälse verrenkten.
Lena stieg aus und verriegelte die Türen. Als sie den Blick über den von Palmen gesäumten Parkplatz schweifen ließ, fielen ihr die vielen Polizeifahrzeuge am Tatort auf. Der schwarze Lincoln, der mit laufendem Motor in der Dunkelheit stand, wies darauf hin, dass der stellvertretende Polizeichef Ramsey bereits eingetroffen war. Lena warf einen Blick auf den Transporter des SID, wo einige Kriminaltechniker ihre Tatortkoffer bestückten. Dann sah sie sich noch einmal rasch auf dem Parkplatz um.
Etwas fehlte, und zwar das, womit sie eigentlich fest gerechnet hatte.
Kein einziger Ferrari oder Lamborghini war zu sehen, ebenso wenig die Besitzer der Luxuskarossen, also mögliche Zeugen. Da es im Club 3 AM keine Sperrstunde gab, hatten die Stars allem Anschein nach die Flucht ergriffen, ehe jemand die Polizei verständigt hatte. Das Revier von Hollywood befand sich nur wenige Straßen südlich von hier. Also waren die ersten Kollegen sicher schon wenige Minuten später eingetroffen und hätten es niemals jemandem erlaubt, sich vom Tatort zu entfernen. Die Mordkommission von Hollywood war gewiss kurz darauf hier gewesen.
»Hier entlang, Lena, schnell.«
Als sie sich umdrehte, erblickte sie ihren Vorgesetzten auf einer verschnörkelten Treppe, die rings um einen Brunnen verlief. Barrera winkte sie zur Veranda und zum Haupteingang hinauf. Lena hastete nach oben zur Tür. Als sie im Lichtschein einen Blick auf sein Gesicht erhaschte, erschreckte sie seine besorgte Miene.
»Was ist passiert, Frank? Wer ist gestorben?«
Er schaute ihr nicht in die Augen.
»Nicht hier«, erwiderte er. »Folgen Sie mir.«
Barrera wandte sich ab und ging voraus durch das Foyer. Als sie die Bar passierten, bemerkte Lena an den Tischen einige Detectives von der Mordkommission. Manche sprachen in ihre Mobiltelefone, andere schienen Bereitschaftsdienst zu haben. Sie hatten Styroporbecher mit Kaffee in der Hand, sahen Lena bedrückt an und begrüßten sie mit einem knappen Nicken. Hinter ihnen bemerkte sie Dante Escabar, Johnny Boscos Geschäftspartner. Er stand allein hinter dem Tresen und schenkte sich ein Glas Bourbon ein, als hätte er es bitter nötig.
Lena wandte sich wieder zu Barrera um. Während sie ihm den Flur hinunter folgte, dachte sie über die Szene nach.
»Wie viele Leute sind heute denn hier?«
»Alle«, antwortete er.
Barrera wurde schneller und marschierte die Haupttreppe hinauf. Lena hatte keine Zeit, Einzelheiten wahrzunehmen. Sie stellte nur fest, dass der Nachtclub Eleganz verströmte und nichts mit einem öffentlichen Vergnügungsort gemeinsam hatte. Die mediterrane Villa hatte hohe, mit kunstvollem Stuck verzierte Decken und war offenbar rings um einen großen Hof mit Swimmingpool erbaut. Das Licht brach sich im Wasser, strömte durch die Fenster herein und tauchte die Treppe in einen blauen Schein.
Schließlich hatten sie die oberste Etage erreicht. Sie kamen an einigen offenen Türen vorbei, Privaträume mit gut bestückten Bars. Terrassentüren führten auf zurückgesetzte Balkone, die vom Parkplatz aus nicht auszumachen waren. Hinter dem Ende einer Kurve lagen private Suiten mit Schlafzimmern.
Hier spielt sich bestimmt so einiges ab, dachte Lena. Johnny Bosco sorgte dafür, dass seine prominenten Gäste sich wie zu Hause fühlten, und erfuhr dabei ihre Geheimnisse.
Nach der letzten Biegung am Ende des Flurs traten sie durch eine Glastür in ein Büro. Die Balkontüren standen offen. Barrera forderte Lena auf zu warten und ging hinaus in die Dunkelheit. Fünf oder sechs schemenhafte Gestalten waren zu erkennen, die allerdings so leise sprachen, dass Lena nichts verstand. Allmählich wurde sie ungeduldig. Für gewöhnlich hatte ein Ermittler nur eine einzige Gelegenheit, einen Tatort richtig in Augenschein zu nehmen. Und dieser Tatort wirkte auf sie, als solle hier etwas beschönigt, ja, sogar vertuscht werden. Wo waren die Leichen? Warum war die gesamte Armee zusammengetrommelt worden, die nur tatenlos herumstand? Und weshalb hatte man sie nicht als Erste verständigt, sondern offensichtlich als Letzte – obwohl es doch angeblich ihr Fall war?
Sie versuchte, sich nicht den Kopf zu zerbrechen, und schaute sich im Zimmer um. Mit Jalousien ausgestattete Fenster gaben die Sicht auf die Bar und die Speiseräume in der Etage darunter frei. Was mit bloßem Auge nicht wahrzunehmen war, wurde von Überwachungskameras aufgezeichnet, die Verbindung zu einem hauchdünnen Flachbildschirm über dem Kaminsims hatten. Lena betrachtete Sofa und Sitzecke und trat hinter den Schreibtisch, um die Wände besser begutachten zu können. Die geschnitzte Holzvertäfelung ahmte den Faltenwurf der Vorhänge nach. Lena hatte so etwas noch nie gesehen und konnte sich nicht vorstellen, wie man es bewerkstelligte oder wie viel es wohl gekostet haben mochte. Offenbar war es Boscos und nicht Dante Escabars Büro. Die zahlreichen Fotos an der Wand, die Bosco Arm in Arm mit seinen berühmten Gästen zeigten, bestätigten diese Vermutung. Oscarpreisträger, hochdekorierte Sportler und einer der wenigen kalifornischen Senatoren, der vier Legislaturperioden ohne Amtsenthebungsverfahren durchgestanden hatte. Als Lenas Blick an einem Foto von Bosco mit Oberstaatsanwalt Jimmy J. Higgins hängen blieb, bekam sie ein beklommenes Gefühl in der Brust.
Sie wusste, dass Bosco und Higgins Freunde waren, und kannte das Foto sogar, denn die Los Angeles Times hatte es erst vor wenigen Wochen abgedruckt.
Zwei Tote in Hollywood. Zwei einflussreiche Persönlichkeiten, die alle Ressourcen mobilisiert hatten. Alle Mann an Deck.
Lena bemerkte, dass ihre Finger zitterten. Im nächsten Moment kam jemand hinter ihr vom Balkon ins Zimmer. Sie drehte sich um.