14

Harry Gant machte nicht auf. Daraufhin Lena ging die Einfahrt zwischen den beiden Häusern hinauf. Er saß in der Küche und aß Frühstücksflocken aus einer Schale. Die Terrassentür stand einen Spalt weit offen, und Lena wartete nicht darauf, hereingebeten zu werden. Als sie die Tür hinter sich schloss, sah der Junge sie entsetzt an.

»Was bilden Sie sich eigentlich ein?«

»Ich hatte den Eindruck, dass Sie etwas beschäftigt«, entgegnete Lena. »Bevor Sie heute Morgen nach oben gelaufen sind, wollten Sie mir doch eigentlich etwas sagen.«

Er sah sie mit offenem Mund an.

»Wenn Sie reden wollen, müssen Sie warten, bis mein Dad zurück ist.«

Mit bemüht gelangweilter Miene aß er weiter, vermutlich in der Hoffnung, dass die Polizistin in seiner Küche sich in Luft auflösen würde, wenn er sie ignorierte. Er trug Jeans und ein altes T-Shirt und versteckte sich hinter seinen langen Haaren. Allerdings wusste Lena, dass er nur Theater spielte. Sie beobachtete nämlich seine Beine unter dem Tisch. Seine nackten Füße klopften auf den Boden, als stünde er unter Hochspannung. Offenbar war Harry mit dieser Situation überfordert.

»Mir ist klar, dass Sie nicht viel Zeit hatten, sich alles zu überlegen«, fuhr sie fort. »Aber sind Sie vielleicht schon einmal auf den Gedanken gekommen, dass wir auf derselben Seite stehen?«

Gelangweilt aß er noch einen Löffel Frühstücksflocken.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich versuche herauszufinden, wer Ihren Bruder umgebracht hat, Harry.«

Als er auflachte, konnte sie den Schmerz heraushören. Und die Trauer.

»Sie haben gerade drei Stunden im Haus des Mörders verbracht«, entgegnete er. »Lilys Dad hat Jake getötet. Oder haben Sie Tomaten auf den Augen?«

»Angeblich hat er Ihren Bruder seit dem Prozess nicht mehr gesehen.«

Endlich schob Harry die Schale weg.

»Dann hat er anscheinend auch Tomaten auf den Augen. Er hat Jake jeden Tag gesehen. Weil er nämlich in seinem Sessel sitzt und uns wie so ein Spinner nachspioniert. Die beiden haben sich gestern sogar gestritten.«

»Worüber?«

»Ich war nicht da. Jake hat nur gesagt, dass sie sich wieder angebrüllt hätten.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Irgendwann am Vormittag. Jake war draußen an der Garage und hat Hufeisen geworfen.«

Lena hatte gleich gemerkt, dass Hight sie angelogen hatte, als er behauptete, er habe Jacob Gant seit der Gerichtsverhandlung nicht gesehen. Es war eine Lüge von vielen. Doch Harry war im Moment wichtiger. Er machte endlich den Mund auf. Offenbar hatte sich bei ihm etwas getan.

»Könnten Sie mir vielleicht das Zimmer Ihres Bruders zeigen?«, fragte sie.

Nachdem er sie eine Weile gemustert hatte, nickte er wortlos. Sie folgte ihm durch die Diele nach oben und einen Flur entlang. Der Grundriss entsprach dem von Hights Haus. In dem Zimmer auf der rechten Seite bemerkte sie eine Elektrogitarre auf einem ungemachten Bett. Als sie sich umdrehte, stand Harry vor der Tür gegenüber.

Lena spürte, dass er zögerte, das Zimmer zu betreten. Schließlich schob sie die Tür auf und ging voran. Im nächsten Moment erschrak sie.

Von Jacob Gants Zimmer aus konnte man direkt zu Lily hinüberblicken. Außerdem trennte sie nur eine schmale Einfahrt voneinander. Lena wunderte sich, warum ihr das nicht schon früher aufgefallen war. Die Äste, die einen Teil der Sicht versperrten, gaben einem das trügerische Gefühl, in Lilys Zimmer unbeobachtet zu sein.

Harry stellte sich neben sie ans Fenster. Seine Stimme war so leise, dass sie ihn kaum verstand.

»Mein Dad hat mir erzählt, dass David Gamble Ihr Bruder war.« Wieder zögerte er, sprach aber dann entschlossen weiter. »Und Mr Paladino sagt, Sie hätten ihm letztes Jahr bei einem Problem geholfen und wären in Ordnung.«

Lenas Bruder war Gitarrist gewesen und kurz nach einem Konzert seiner Band in einem Nachtclub am Strip ermordet worden. Das Verbrechen war zwar inzwischen schon acht Jahre her, doch es war wie ein Schatten, der Tag für Tag seine Größe veränderte, allerdings nie völlig verschwand.

»Ich bin auf Ihrer Seite, Harry. Wirklich.«

Harry setzte sich aufs Bett. Als ihm Tränen in die Augen traten, schlug er die Hände vors Gesicht.

Lena rollte sich den Schreibtischstuhl heran und nahm ebenfalls Platz.

»Erzählen Sie mir, warum Jake letzte Nacht im Club 3 AM war. Was wollte Ihr Bruder von Johnny Bosco?«

Diesmal rannte Harry bei dieser Frage nicht aus dem Zimmer, sondern wischte sich die Tränen von den Wangen. Er schien zu überlegen, wie er sich ausdrücken sollte.

»Bosco hat ihm geholfen«, erwiderte er.

»Wobei geholfen?«

»Den Kerl zu finden, der Lily tatsächlich umgebracht hat. Jake hat mir gesagt, etwas sei passiert und er müsse mit Johnny reden. Sie glaubten zu wissen, wer es war, und haben gehofft, es letzte Nacht beweisen zu können.«

Eine Sekunde surrte vorbei wie eine verirrte Kugel.

Lena blickte sich im Zimmer um. Die Gewaltszenen darstellenden Skizzen und Bilder aus der Hand von Jacob Gant nahm sie kaum wahr. Sie sah nur die Straße. Der Weg, der ihr noch vor wenigen Minuten so klar vorgezeichnet erschienen war, löste sich nun auf wie eine Fata Morgana. Sie beugte sich vor und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.

»Ihr Bruder hat den Mord an Lily Hight untersucht?«

Harry nickte.

»Warum Bosco?«

Er zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung.«

»Was hat Ihr Bruder Ihnen anvertraut?«

»Gar nichts. Er fand es zu gefährlich.«

»Was ist mit Paladino?«

»Jake hat mit niemandem drüber geredet. Nur mit Johnny Bosco. Er wusste nämlich, wie es wirken würde.«

»Wie würde es denn wirken?«

Harry ließ sich rücklings aufs Bett fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.

»Er sagte, dass niemand ihm glauben würde, und zwar wegen der DNA. Falls jemand erfahren sollte, was er da treibt, belaste ihn das nur noch mehr, weil so ein Verhalten eben typisch für einen Verbrecher sei. So wie die Spinner in der Glotze. Erst bringen sie ihre Frau um, und dann tun sie so, als würden sie den wahren Täter suchen. Das ist zwar nur Theater, aber die Leute im Fernsehen sind so doof, dass sie es ihnen abkaufen, weil sie selber solche Loser sind.«

Ein angespanntes Schweigen entstand.

»Ihr Bruder hatte Blutergüsse an Hals und Armen«, sagte Lena. »Und seine Fingerknöchel waren aufgeschürft wie nach einer Prügelei.«

Harry öffnete die Augen und sah sie an.

»Er hat sich oft geprügelt.«

»Mit wem?«

Der Jugendliche zuckte die Achseln.

»Mr Paladino hat ihn zwar aus dem Gefängnis geholt, aber das heißt noch lange nicht, dass ihm außer den Geschworenen jemand geglaubt hat. Ganz egal, wo Jake auch hinging, ständig wurde er angebrüllt oder jemand hat versucht, ihm eine zu verpassen. Er wollte rauskriegen, wer Lily umgebracht hat, aber es steckte noch viel mehr dahinter. Jake musste den Typen einfach finden. Er sagte, wenn es jetzt klappt, geht er in Mr Paladinos Kanzlei und zeigt ihm alles. Und wenn sie dann den richtigen Täter hätten, würde der Mist endlich aufhören, und wir hätten keine Probleme mehr.«

»Was ist mit Lilys Vater? Du hast erzählt, sie hätten sich gestritten. Sind sie jemals gewalttätig geworden?«

Harry drehte sich zur Seite und sah Lena an.

»Ich glaube nicht. Allerdings hatte ich immer den Verdacht, dass er Lily umgebracht hat. Der Typ tickt nicht ganz sauber. Er hat eine Menge Probleme.«

Während Lena zuhörte, betrachtete sie den Teppich am Fenster mit den Abdrücken eines Lesesessels, der verschoben worden war – so wie bei Lily Hight. Jacob Gants Sessel stand nun neben dem Schreibtisch.

Lena stand auf und schob ihn über den Teppich. Nun zeigte der Sessel zum Bett, getaucht in das weiche Licht, das durch das Fenster hereinströmte. Doch als sie den Teppich wieder in Augenschein nahm, passten die Sesselbeine nicht zu den Abdrücken.

»Jake hat ihn umgestellt«, erklärte Harry. »Nach Lilys Tod. Er gehört eigentlich anders herum.«

Lena drehte den Sessel um. Jetzt passten die Beine in die Abdrücke. Sie setzte sich und schaute aus dem Fenster. Der Blick in Lilys Zimmer war bemerkenswert. Man konnte direkt hineinschauen und sogar die Schatulle auf dem Nachttisch neben dem Bett erkennen.

Harry stand auf und gesellte sich zu ihr ans Fenster. Er kniete sich hin, stützte die verschränkten Arme aufs Fensterbrett und blickte über die Einfahrt.

»Sie haben immer am Fenster gesessen«, sagte er, »jeden Abend, und haben miteinander telefoniert. Sie sind aufeinander abgefahren. Mir wollte nie in den Kopf, warum das kein Mensch kapiert hat.«

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