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Der Mensch ist zu allem fähig.

Unter den richtigen Voraussetzungen kann sogar der sanfteste und zurückhaltendste Mensch plötzlich um sich schlagen und sich in eine reißende Bestie verwandeln.

Das war die Lektion, die Lena von ihrem ersten und letzten Partner im Dienst gelernt hatte. Dass man die Menschlichkeit genauso mühelos abstreifen konnte wie ein getragenes Hemd. Alles, was man über einen Menschen wusste, konnte innerhalb eines Sekundenbruchteils die Gültigkeit verlieren. Und wenn man von Berufs wegen für Recht und Gesetz zuständig war, bedeutete diese Erkenntnis zuweilen den Unterschied zwischen Leben und Tod.

Lena stand im Flur. Barrera war auf die Veranda hinausgegangen, um eine Zigarre zu rauchen und mit dem stellvertretenden Polizeichef zu telefonieren. Während Lena beobachtete, wie Mifune in der Küche Hight untersuchte, schoss ihr durch den Kopf, dass der Verdächtige mit der Entwicklung der Dinge vermutlich gar nicht so unzufrieden war. Er hatte davon geträumt, Jacob Gant zu töten, und der negative Prozessausgang hatte ihm die Gelegenheit gegeben, diesen Traum in die Tat umzusetzen. Ein Psychologe hätte das vermutlich als die schnellste Methode der Trauerarbeit bezeichnet. Als Abkürzung zum Schlussstrich. Gant würde nie wieder interviewt werden, in der Öffentlichkeit auftreten oder Diskussionsthema sein. Nun war er endgültig Schnee von gestern.

Der Gedanke verblasste, als sie die Treppe hinauf ins Obergeschoss ging. Carson und Street durchsuchten das Elternschlafzimmer am Ende des Flurs. Im vorderen Teil konnte Lena ein kleines Gästezimmer erkennen, anheimelnd eingerichtet, die hohen Fenster mit Stores und Vorhängen versehen und mit einer hübschen Aussicht auf Venice und das Meer am Fuß des Hügels. Eine Tür links von ihr stand offen. Eine unlackierte Treppe führte zum Speicher, und Lena hörte, dass oben zwei Detectives Gegenstände herumschoben. Auf der anderen Seite des Flurs war Hights Arbeitszimmer.

Es war ein großer Raum, im Stil ähnlich wie das Wohnzimmer. Und wie im Erdgeschoss waren die Jalousien geschlossen, sodass alles in Dunkelheit lag. Beim Anblick des großen Fernsehers an der gegenüberliegenden Wand verstand sie den Grund. Lena betrachtete den Couchtisch aus Glas, das Ledersofa und die Sessel. Offenbar diente das Zimmer gleichzeitig als Büro und Vorführraum. Neben dem Schreibtisch war Fred Wireman, ein älterer Detective, der nächstes Jahr in den Ruhestand ging, gerade mit dem Wandschrank beschäftigt. Lena wusste, dass Wireman, ebenso wie Carson und Street, als ausgesprochen sorgfältig galt.

»Massenweise Filme, was?«, sagte er.

Mit einem Nicken musterte Lena die Bücherregale. Hights Filmbibliothek schien ebenso umfangreich zu sein wie die Plattensammlung, die sie von ihrem Bruder geerbt hatte. In den vom Boden bis zur Decke reichenden Regalen standen einige Tausend Titel. Als Lena die Sammlung im Dämmerlicht betrachtete, stellte sie nach einer Weile fest, dass sie nach Regisseuren, nicht nach Filmtiteln sortiert war. Da diese Information nicht auf dem Rücken der DVD-Hülle stand, kannte Hight sich offenbar in der Filmgeschichte aus. Jedenfalls entdeckte Lena einige ihrer Lieblingsregisseure – Truffaut, Bresson, Bunuel, Bertolucci, Hitchcock, Huston, Kubrick, Kurosawa und Herzog, sie alle waren vertreten.

Sie nahm das alles zur Kenntnis, obwohl sie eigentlich der Mord an Jacob Gant beschäftigte und die Erinnerungen, die der Anblick seiner Kopfverletzungen in ihr ausgelöst hatte. Also machte sie sich auf die Suche nach John Ford. Als sie die DVD mit Der schwarze Falke gefunden hatte, holte sie sie aus dem Regal.

Eine Kopie des Originalplakats zierte den Deckel: John Wayne und Jeffrey Hunter, hoch zu Ross, die Gewehre quer über dem Sattel. Die Worte Er musste sie finden … über dem Bild wurden zweimal wiederholt.

Der zündende Gedanke blieb aus.

»Hey, Fred«, sagte sie. »Gehen Sie gern ins Kino?«

»Seit meiner Kindheit.«

»Haben Sie je den hier gesehen?«

Sie drehte sich um und hielt ihm die Hülle hin. Beim Lesen des Titels breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Das ist einer meiner Lieblingsfilme«, sagte er. »Zusammen mit Ringo, Der Mann, der Liberty Valance erschoss und Faustrecht der Prärie

»Das ist doch der Film, in dem jemandem die Augen ausgeschossen werden, richtig? Ohne Augen hat man keinen Zutritt zur Geisterwelt.«

Wireman überlegte eine Weile, nickte und hielt dann inne, als ihm ein Licht aufging.

»Ja, das stimmt«, sagte er. »Natürlich beweist das nichts.«

»Das will ich auch gar nicht behaupten. Es bedeutet nur, dass er den Film besitzt und ihn vermutlich ein-oder zweimal gesehen hat.«

»Mehr als ein-oder zweimal, würde ich mal vermuten, Lena. Bevor Hights Karriere den Bach runtergegangen ist und er zum Reality-TV wechseln musste, hat er Regie bei Wind der Prärie geführt. Da drüben an der Wand hängt das Plakat.«

Als Wireman die Tür des Wandschranks schloss, kam ein gerahmtes Plakat zum Vorschein. Lena hatte den Film öfter gesehen, einmal mit ihrem Bruder und einmal mit Rhodes, und er hatte ihr gut gefallen.

»Sie machen so ein erstauntes Gesicht«, sagte Wireman.

»Es war mir gar nicht bewusst, dass er der Regisseur ist. Was ist schiefgelaufen? Warum hat er aufgehört, Filme zu drehen?«

Achselzuckend wandte Wireman sich wieder seiner Arbeit zu. »Manche Leute haben eben Pech im Leben. Und offenbar hat er überdurchschnittlich viel davon abgekriegt.«

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