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Wenn Lena an Escabars Lachen dachte, bekam sie ein mulmiges Gefühl. Der Unterton. Die düstere Vorahnung ließ sie nicht los, als sie über die Straße zum Parkhaus hastete. Sie suchte Vaughans Nummer aus der Liste der Anrufe heraus und war sehr erleichtert, als er sich meldete.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Unten«, antwortete er. »Das Auto meiner Ex wird gerade gebracht.«
Sie schilderte ihm die Lage in drei Sätzen und endete mit den Worten: »Lily Hight hat den Club 3 AM in Begleitung eines Typen verlassen.«
»Wir treffen uns«, sagte er. »Ich bin fünf Minuten nach dir da.«
Lena rauschte durch eine rote Ampel, während sie die unheilvolle Vorahnung nicht abzuschütteln vermochte. Sobald sie auf dem Freeway 101 war, beschloss sie, Verstärkung anzufordern. Das Revier von Hollywood befand sich nur wenige Häuserblocks südlich vom Club. Die Telefonistin notierte sich die Informationen und wiederholte sie.
Wahrscheinlich falscher Alarm, aber würden Sie bitte einen Streifenwagen zum Club schicken?
Wahrscheinlich falscher Alarm, aber könnten Sie sich beeilen?
Lena brauchte trotz Bleifuß fünfundzwanzig Minuten nach Hollywood. Als sie sich dem Club 3 AM näherte, war der Wachmann nicht in seinem Häuschen, und das Tor stand offen. Sie bog in die Einfahrt ein und umrundete das Gebäude. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass der Pickup Toyota und Escabars Ferrari die einzigen Autos auf dem Parkplatz waren. In der Ferne hörte sie zwar Sirenen, die sich jedoch zu entfernen schienen.
Nachdem sie das Gebäude prüfend gemustert hatte, hastete sie die Stufen zum Haupteingang hinauf. Die böse Vorahnung folgte ihr weiter wie ein Schatten. Lena griff nach der Türklinke, zog langsam daran und hoffte, dass die Tür abgeschlossen war.
Doch sie ließ sich öffnen. Lena erschrak. Nun war alles klar …
Lena betrat das Foyer. Es war dunkel und still. Sie kramte ihr Telefon aus der Tasche, klickte Escabars Nummer an und drückte auf ANRUFEN. Zwei oder drei Sekunden später hörte sie, dass irgendwo oben sein Telefon läutete. Das Geräusch hallte gespenstisch durchs Haus. Darauf folgte ein unheimliches Schweigen, als seine Mailbox ansprang und das Klingeln verstummte.
Lena bemühte sich um Fassung.
Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte sehen, dass ziemlich dicht vor ihr jemand auf dem Boden lag. Sie betätigte einen Lichtschalter an der Wand. Es gingen zwar nur ein paar schwache, in den Boden eingelassene Lampen an, die den Weg zur Treppe wiesen, doch das genügte, um Einzelheiten zu erkennen.
Langsam näherte sie sich der Leiche und kniete sich hin. Jemand hatte dem Mann einen grünen Müllsack über den Kopf gestülpt und ihn am Hals zugebunden. Schuhe und Hose des Toten verrieten Lena, dass sie den Wachmann vor sich hatte. Ohne nachzudenken, wollte sie ihm den Puls fühlen, als ihr Blick auf sein durch den Plastikbeutel schimmerndes Gesicht fiel. Sie hielt inne.
Nur wenige Menschen starben einen schönen Tod …
Nach Luft schnappend, wandte sie sich ab. Im nächsten Moment hörte sie hinter sich ein Geräusch. Die Tür öffnete sich, und es wurde taghell im Foyer. Vaughan wirkte ängstlich und nervös, als er neben sie trat und auf den Toten starrte.
»Ich habe Verstärkung angefordert«, sagte sie leise.
»Am Sunset hat es einen Bankraub gegeben«, flüsterte er. »Es kam im Radio.«
Lena bemerkte eine Pistole am Gürtel des Wachmanns.
»Wir können nicht warten«, entgegnete sie. »Kannst du mit einer Waffe umgehen?«
Vaughan schüttelte ängstlich den Kopf.
»Ich bin Anwalt.«
Lena schürzte die Lippen. Auch wenn sie in der Klemme steckten, musste sie sich eingestehen, dass etwas an Vaughan sie sehr ansprach. Sie schob das Gefühl beiseite und zog die Pistole des Wachmanns aus dem Halfter. Selbst im Dämmerlicht funkelte die Beretta .40 wie nagelneu. Der Hahn war halb gespannt, die Pistole gesichert. Lena entsicherte sie und reichte sie Vaughan, während sie ihm in die Augen blickte.
»Der Täter ist vermutlich schon über alle Berge«, raunte sie. »Schaffst du das?«
Er nickte entschlossen.
»Ich bin bereit.«
Lena zückte ihre Waffe, holte ihr Telefon heraus und drückte auf WIEDERWAHL.
Vaughan sah sie entgeistert an.
»Was machst du da?«
»Ich rufe einen Toten an«, erwiderte sie.
Kurz darauf begann Escabars Mobiltelefon wieder zu läuten. Vaughan verstand. Rasch huschten sie durch die Dunkelheit die Treppe hinauf und folgten dem gespenstischen Geräusch den Flur entlang, bis es verstummte. Nachdem Lena erneut auf WIEDERWAHL gedrückt hatte, steuerten sie weiter auf das Läuten zu. An der Ecke angekommen, wurde ihnen klar, dass Escabars Telefon sich in Boscos Büro befinden musste, und sie rannten los.
Sie fanden ihn auf dem Fußboden neben dem Schreibtisch – mit einer Kugel in der Stirn und zwei weiteren mitten in der Brust. Sein Mund stand offen. Doch noch auffälliger war sein nun für immer vor Furcht erstarrtes Gesicht. Die Pistole lag neben seiner rechten Hand. Lena betrachtete die Wand und entdeckte ein Einschussloch im Putz neben der Tür. Escabar hatte einen Schuss abgegeben, allerdings hatte er zu hoch gezielt und nicht getroffen.
»Etwas ist mit dem Computer«, sagte Vaughan.
Lena umrundete Escabars Leiche, während ihr Blick zwischen dem Monitor auf dem Schreibtisch und dem Fernseher über dem Kamin hin und her wanderte. Da die beiden Bildschirme miteinander vernetzt waren, zeigten sie dasselbe Bild.
»Da werden gerade riesige Dateien gelöscht, Lena.«
Lena suchte nach der Option ABBRECHEN, klickte das Symbol an und setzte sich an den Schreibtisch.
»Bilddateien«, sagte sie. »Die Überwachungskameras.«
»Sind wir zu spät dran?«
»Nicht unbedingt.«
»Escabar hat dir doch gesagt, er hätte eine Kopie gemacht.«
Sie nickte. »Er hat sie gerade gebrannt, als ich anrief.«
Auf dem Schreibtisch lag nur ein Stapel DVD-Rohlinge. Das Computerlaufwerk war leer. Lena kramte in den Schreibtischschubladen, allerdings vergeblich. Nachdem sie rasch Escabars Leiche untersucht hatte, wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu und überlegte.
Escabar hatte einige Programme geöffnet. Sie waren verkleinert am unteren Bildschirmrand zu sehen. Lena klickte das Symbol an, worauf sich die Software öffnete und ein Fenster erschien.
Möchten Sie eine zweite Kopie anfertigen?
Das Programm hatte die Datei aufgezeichnet und gesichert. Wortlos sah Lena Vaughan an, legte eine neue DVD in den Computer ein und wählte JA. Die nächsten fünf Minuten vergingen wie in Zeitlupe, die Anspannung war unerträglich. Als das Laufwerk zu surren aufhörte, klickte Lena die DVD an, und der Film lief gleichzeitig auf dem Monitor und dem Fernsehbildschirm über dem Kamin.
»Mein Gott, sie ist es«, rief Vaughan aus.
Lena stand auf, ging zum Fernseher und starrte gebannt auf das Bild.
Lily saß, ein Glas Weißwein vor sich, am Tresen. Sie hatte den roten Lippenstift benutzt und trug ein schwarzes, ziemlich knappes Kleid ohne BH, das ihre Brüste nur teilweise bedeckte. Die Bar lag im Kerzenlicht, doch Lily überstrahlte alle. Neben ihr stand ein Mann im Nadelstreifenanzug. Sein Kopf verlor sich in den Schatten oberhalb des Bildrands. Doch Escabar hatte die Szene richtig geschildert. Lily lachte mit dem Mann und strich ihm mit den Fingern über die Hand.
»Sieht die für dich wie sechzehn aus?«, fragte Vaughan.
Lena schüttelte den Kopf. Kurz huschte ein trauriges Lächeln über ihr Gesicht. In der Freitagnacht, eine Woche vor ihrer Ermordung, wirkte Lily Hight ganz und gar nicht wie eine Jugendliche. Das schimmernde blonde Haar. Das Funkeln in ihren Augen. Ihre lebendige Ausstrahlung, ihre Schönheit und ihr anziehendes Lächeln. An jenem Abend war Lily eine unwiderstehliche Frau gewesen.
Lena verdrängte das Entsetzen, das sie überfiel, und konzentrierte sich auf Lilys Begleiter. Leider war nicht viel zu sehen, da die Kamera diesen Bereich nur spärlich abdeckte. Lena glaubte, einen Ehering zu erkennen, doch als Lily schließlich die Finger wegnahm, ließ der Mann die Hand unter den Tresen sinken. Der Nadelstreifenanzug schien teuer zu sein. Als der Mann sich umdrehte und die Brust an Lilys nackte Schulter drückte, wanderte Lenas Blick zum rechten Revers seines Sakkos.
»Da ist etwas an seinem Revers«, sagte sie.
Vaughan trat näher und starrte angestrengt auf den Bildschirm.
»Ja, ich sehe es auch.«
»Eine Art Loch im Stoff.«
»Glaubst du, es stammt von einer Anstecknadel?«
Je länger Lena hinschaute, desto offensichtlicher erschien es ihr. Doch schon im nächsten Moment stieg Lenas Anspannung wieder: Lily suchte ihre Sachen zusammen. Der Mann half ihr beim Aufstehen und begleitete sie hinaus. Und schon waren sie aus dem Lichtkegel des Kerzenscheins verschwunden. Lily strahlte nicht mehr. Sie ging mit dem Mann im Nadelstreifenanzug durch die Dunkelheit zur Tür.