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Vaughan trat aus seinem Haus. Als er Lena erkannte, die vor einem weißen Lincoln in seiner Einfahrt stand, erstarrte er und wirkte plötzlich angespannt, ängstlich und ratlos.
»Was ist los, Lena?«, fragte er leise. »Alles in Ordnung?«
Sein Blick galt Cobb, der am Steuer saß. Als er wieder Lena ansah, nickte sie. Es war ein Fehler gewesen, ihn nicht von unterwegs anzurufen und ihm alles zu erzählen. Nun erstattete sie so knapp wie möglich Bericht.
»Cobb hat Paladino den Tipp gegeben«, sagte sie. »Lily wurde nicht in ihrem Zimmer ermordet. Der Tatort war inszeniert.«
Vaughan rührte sich nicht.
»Was sind das für Striemen an deinem Hals? Bist du sicher, dass das keine Falle ist?«
»Es ist keine Falle, doch die Dinge sehen alles andere als rosig aus. Wir müssen reden, Greg. Lass uns fahren.«
Er zögerte zwar, stieg aber hinten ein. Als Cobb ihm die Hand hinhielt, schüttelte er sie wortlos. Er wirkte noch immer verstört.
Cobb fuhr auf dem Pacific Coast Highway nach Süden zu Tim Hights Haus. Während der Fahrt erklärte Lena Vaughan in allen Einzelheiten, was im kriminaltechnischen Labor geschehen war. Vaughan wirkte nicht sehr überzeugt, bis Lena Lilys rechten Stiefel erwähnte. Schließlich hatte er Cobbs Verhalten im Zeugenstand mit eigenen Augen gesehen, und nun lagen die Gründe auf der Hand.
Die Fahrt dauerte nur eine knappe Viertelstunde. Als Hights Haus in Sicht kam, stoppte Cobb am Straßenrand und schaltete den Scheinwerfer ab. Lena erinnerte sich an den Moment, als sie und Rhodes hier zum ersten Mal eintrafen. Im Haus der Gants waren alle Fenster von einem warmen, hellen Licht erfüllt, während das von Hight bis auf das Leuchten des Polizeifunkempfängers dunkel war.
»Man kann die Glut von seiner Zigarette sehen«, flüsterte Cobb.
Lena nickte.
»Stimmt.«
»Er sitzt einfach nur da«, sagte Vaughan, »hört den Polizeifunk ab und beobachtet Gants Haus. Warum tut er das wohl?«
»Weil er Bescheid weiß«, erwiderte Cobb.
»Was weiß er?«
»Der Täter ist noch auf freiem Fuß, Vaughan. Der Kerl, der ihm die Tochter weggenommen hat. Er hat sie geliebt.«
Lena warf Cobb einen Blick zu.
»Wir können nachweisen, dass er im Club in dem Raum war, wo der Mord stattgefunden hat. Er hat mitgekriegt, was mit Gant passiert ist. Er ist schon die ganze Woche im Bilde.«
»Warum hat er dann nichts gesagt?«, fragte Vaughan.
»Aus demselben Grund, warum ich geschwiegen habe«, entgegnete Cobb. »Vermutlich hat er Angst.«
Vaughan rückte näher ans Fenster heran.
»Und wo haben die das Blut gefunden?«
»In der Einfahrt an der Hintertür«, antwortete Cobb.
Orth hatte vorhin erwähnt, dass möglicherweise nicht die Kriminaltechnik schlampig mit den Beweisstücken umgegangen war, sondern dass der Mörder Blutspuren in der Einfahrt hinterlassen hatte, als er Lily ins Haus trug.
Allerdings hörte Lena den beiden Männern nur mit halbem Ohr zu. Sie war in Gedanken bei der Mordwaffe, der Pistole, die sich, wie sie ursprünglich geglaubt hatte, Cobb aus der Asservatenkammer ausgeliehen und mit der jemand vor acht Jahren aus einem vorbeifahrenden Auto auf Elvira Wheaton und ihren Enkel geschossen hatte. Bis jetzt hatte sie Cobb Kurzsichtigkeit und Unbeherrschtheit unterstellt und ihn für den Schützen gehalten.
Bis sie Cobb so kennengelernt hatte, wie er wirklich war.
Der Mörder musste einen bestimmten Grund gehabt haben, ausgerechnet diese Waffe zu verwenden. Warum sollte jemand eine so leicht zu identifizierende Pistole benutzen? Und wer war einfach in die Asservatenkammer spaziert und hatte unter dem Namen Dan Cobb das Antragsformular ausgefüllt? Wer hatte die Waffe an sich genommen?
Higgins wäre aufgefallen. Und auch Bennett war ein höchst unwahrscheinlicher Kandidat. Lena sah Debi Watsons aufgeblasene Titten vor sich: Diese Frau hätte wohl niemand mit Dan Cobb verwechselt.
Was war mit Jerry Spadell?
Spadell war schon seit Jahren nicht mehr im Geschäft, kannte sich jedoch in der Branche aus. Die Asservatenkammer war sieben Tage die Woche rund um die Uhr geöffnet. Die Sachbearbeiter waren Zivilisten. Sicher hatte Spadell über die Staatsanwaltschaft Zugriff auf Cobbs Dienstnummer und besaß die nötigen Kenntnisse, um einen Ausweis zu fälschen. Vermutlich hatte er seinen Besuch auf die späte Nacht gelegt. Und was noch wichtiger war: Spadell konnte mit einer Waffe umgehen. Lena war überzeugt, dass seine Erfahrung für einen Auftrag wie diesen ausreichte, solange die Bezahlung stimmte. Außerdem war er sicher abgebrüht genug, um jemanden niederzuschießen.
Vielleicht war es tatsächlich so abgelaufen.
Ein Mann hatte erst Lily Hight vergewaltigt und ermordet und danach vier weitere Menschen von Spadell umlegen lassen, damit wieder Ordnung herrschte. Und zwar der Mann, den Lena dabei ertappt hatte, wie er, begleitet von Spadell, in Boscos Haus in Malibu einbrach. Der Mann, der die Überwachungsvideos aus dem Club 3 AM gesichtet und die Flucht ergriffen hatte, als Lena an die Tür klopfte.
Der für den Bezirk Los Angeles zuständige Oberstaatsanwalt.
Jimmy J. Higgins im Nadelstreifenanzug.
Lena hatte ein ungutes Gefühl. Etwas ging nicht ganz auf. Zumindest noch nicht. Nicht, solange ihr noch die Antwort auf eine Frage fehlte.
Warum ausgerechnet diese Pistole?
Lena kehrte in die Gegenwart zurück. Vaughan sagte gerade, Bennett, Watson und Higgins hätten mit Sicherheit in ihrem Computernetzwerk eine versteckte elektronische Spur aus E-Mails hinterlassen. Nachdem die beiden Männer ihre Debatte beendet hatten, wandte Lena sich an Cobb.
»Warum ausgerechnet diese Pistole?«, wiederholte sie ihre Frage laut. »Warum benutzte der Täter eine Pistole, die so leicht zu identifizieren ist?«
Er überlegte.
»Warum?«, beharrte sie.
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, Gamble. Und es gibt nur eine Erklärung dafür.«
»Und die wäre?«
Cobb bedachte sie mit einem vielsagenden Blick.
»Weil er wollte, dass sie identifiziert wird.«
»Das ist doch keine Erklärung.«
»Ich weiß«, entgegnete er.
Plötzlich wurde das Wageninnere hell erleuchtet. Als Lena in den Rückspiegel schaute, sah sie einen weißen Transporter langsam um die Ecke biegen. Während der Wagen vorbeirollte, drehte sie sich um und beobachtete, wie der Fahrer in eine Parklücke fünf Autolängen weiter die Straße hinauf einscherte. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Dick Harvey sprang heraus, eine kleine Videokamera in der Hand.
Obwohl er sich in beide Richtungen umsah, bemerkte er sie nicht, da er Cobbs Lincoln offenbar nicht erkannte. Außerdem schien er sich voll auf Tim Hights Haus zu konzentrieren. Er starrte auf den Wintergarten: Hights Silhouette und der Lichtpunkt seiner Zigarette waren im Dämmerschein des Polizeifunkempfängers gerade noch auszumachen.
Lena wechselte einen Blick mit Cobb und Vaughan.
Harvey musterte noch einmal die Umgebung. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, schlüpfte er durchs Tor und in Hights Vorgarten. Lena schaute ihm nach, als er durch die Schatten huschte, bis er schließlich das Fenster erreichte, wo er das Objektiv einstellte und die Kamera ans Auge hob.
Hight trauerte. Und Harvey war nur auf ein paar Bilder für die nächste Episode von Bettgeflüster aus Hollywood aus. Er war eben der Inbegriff eines schleimigen Opportunisten, ein typischer Vertreter der Spezies von Klatschreportern, deren Machenschaften man allabendlich im Fernsehen bewundern konnte.