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Lena hatte Vaughan angerufen und ihm alles erklärt. Auch Clayton Hu hatte sie Bescheid gegeben. Obwohl Bennett bereits wegen sechsfachen Mordes gesucht wurde – ein Blutbad, das mit Lily Hight begonnen und mit Debi Watson geendet hatte –, lief die Maschinerie wegen seines siebten Opfers nun auf Hochtouren.
Denn jetzt war Bennett ein Polizistenmörder. Und was noch schlimmer war: Er hatte Cobb dreimal in den Rücken geschossen. Nun würde niemand, der eine Dienstmarke besaß, auch nur die Spur von Mitgefühl mit diesem miesen Dreckskerl haben.
Lena wollte sich die Stelle, wo auf Cobb geschossen worden war, gern noch einmal bei Tageslicht ansehen. Vaughan und Hu hatten sich bereit erklärt, sich vor Ort mit ihr zu treffen. Nun war sie auf dem Weg vom St. John’s, wo sie Cobb zurückgelassen hatte. Und sie hatte seine Sig Sauer bei sich. Die Pistole war aus Sicherheitsgründen ins Handschuhfach eingeschlossen.
Seit ihrem Abstecher in den Temescal Canyon Park war das Radio abgeschaltet. Lena wollte nur das Dröhnen des Motors hören. Das Geräusch einer Maschine, die sich vorwärtsbewegte.
Nun fuhr sie auf der Twenty-Sixth Street nach Norden. Links von ihr glitt der Riviera Country Club vorbei. Menschen schoben Golfwagen und schlugen kleine weiße Bälle über manikürte Rasenflächen, als sei dieser Samstag nur einer von vielen im sonnigen L. A. Lena wandte sich wieder der Straße zu und zündete sich noch eine Zigarette an. Obwohl sie nicht wusste, warum, steigerte der Anblick der Golf spielenden Menschen ihre Wut noch mehr, und der Tag erschien ihr auf einmal noch düsterer.
Am liebsten hätte sie auf etwas eingeschlagen.
Auf dem Sunset Boulevard bog sie rechts ab und fuhr durch die hufeisenförmige Kurve und den Hügel hinauf und an der Rockingham wieder links. Inzwischen waren die Streifenwagen fort. Eine Frau kam in einem mit Kindern beladenen Land Rover vorbei. Die Ereignisse der letzten Nacht schienen vergessen – oder noch schlimmer: Die meisten hatten offenbar gar nichts davon bemerkt. Vaughan und Hu waren zwar noch nicht da, doch ein Transporter parkte vor Bennetts Haus. Wahrscheinlich waren bereits Handwerker mit der Reparatur der Wohnzimmerfenster beschäftigt. Doch als Lena an dem Wagen vorbeifuhr und einen Blick zurück aufs Haus warf, trat sie ruckartig auf die Bremse.
Bennett war zu Hause. Sein BMW stand mit offenem Kofferraum rückwärts in der Garage. Auch die Tür zwischen Haus und Garage war offen.
Lena parkte so in der Einfahrt, dass sie dem BMW den Weg versperrte, und entsicherte die .45er. Dann stieg sie aus, zog noch ein letztes Mal an der Zigarette, zertrat die Kippe mit der Schuhspitze und setzte sich in Bewegung. Eine Kugel in der Kammer – der Rest würde sich zeigen.
Als sie die Garage betrat, dachte sie kurz daran, dass es ein wahrhaft symbolischer Akt gewesen wäre, Cobbs Sig Sauer zu benutzen. Aber sie hatte keine Munition. Cobb hatte eine Neun-Millimeter besessen, während Lena Kaliber .45er bevorzugte – insbesondere dann, wenn sie es mit einem Ungeheuer zu tun hatte. Einem Außerirdischen.
Sie hatte schon Menschen getötet.
Im Dienst, doch obwohl der Tote schuldig gewesen war, forderte es seinen Tribut, einem Menschen das Leben zu nehmen. Es verfolgte Lena jeden Tag. Sie hatte einen Preis dafür bezahlt, und diese Tat würde sie nicht mehr loslassen bis ans Ende ihrer Tage.
Doch wie würde es bei Bennett sein? Sicherlich nicht so schlimm.
Lena warf einen raschen Blick in den Kofferraum, in dem ein Koffer lag. An der Tür zwischen Garage und Haus spähte sie den langen Flur entlang zu den Terrassentüren, die auf einen Garten hinausgingen. Es war totenstill im Haus … Sie bekam ein mulmiges Gefühl. Lena drehte sich um und schaute hinüber zu dem Transporter auf der Straße. Sie brauchte einen Moment, bis bei ihr der Groschen fiel: Es war dieselbe Marke, dasselbe Modell und dieselbe Farbe wie Dick Harveys fahrbarer Untersatz.
Irgendetwas war da im Busch.
Lena ging ins Haus und schlich den Flur entlang. Sie kam an einem Wäscheraum, einer großen Speisekammer voller Vorräte, einer Gästetoilette und schließlich einer Küchentür vorbei. Der Raum war riesig und wirkte, als sei er erst neu gestaltet worden. Lena erinnerte sich an Cobbs Worte, kein Mensch könne sich mit Bennetts Gehalt so ein Haus leisten. Entweder hatte er reich geheiratet – oder er hatte noch mehr auf dem Kerbholz als …
Sie erstarrte.
Am Küchentisch saß ein Mann vor einer Tasse Kaffee. Er hatte den Kopf in Richtung Panoramafenster gewandt und betrachtete offenbar den Pool. Lena holte tief Luft und sammelte sich. Ihre Hände waren ruhig. Sie hob die .45er und trat ein.
Der Mann schien sie nicht wahrzunehmen; er rührte sich nicht. Lena pirschte sich heran, um sein Gesicht zu betrachten. Als sie den Küchentresen umrundete, bemerkte sie die Blutspritzer an der Wand hinter seinem Kopf. Auf dem Boden war eine große Blutlache.
Es war Dick Harvey von Bettgeflüster aus Hollywood, der nun niemandem mehr aus Mutwillen oder Geldgier das Leben ruinieren würde. Er schielte, sein Mund stand offen, und er hatte ein Einschussloch mitten auf der Stirn. Erstaunlicherweise schien er unter seinem zerknitterten Anzug noch immer zu schwitzen.
Lena stützte sich auf den Tisch. Ihre Augen glitten zum Fenster, wo sie Bennett im Garten entdeckte. Er hatte eine Schaufel in der Hand und grub ein Loch in den Rasen am rückwärtigen Zaun.
Lena stürmte zur Tür hinaus und durch den Garten. Als sie auf ihn zulief, hob er den Kopf und stieß einen Schreckensschrei aus. Seine Stimme ging in ein hysterisches Kreischen über.
»Oh, mein Gott«, wiederholte er immer wieder. »Oh, mein Gott, ich war es nicht, Gamble, ich war es nicht.«
Lenas Blick fiel auf die Pistole im Gras, die er gerade vergraben wollte. Die Neun-Millimeter Smith.
»Gütiger Himmel, Sie müssen mir glauben. Es ist nicht so, wie es aussieht.«
Er warf die Schaufel hin und machte einen Satz hin zu der Pistole. Als er sie aufhob, stand Lena vor ihm.
»Waffe fallen lassen, Bennett. Und dann können wir darüber reden.«
Er zielte auf sie, doch seine Hand zitterte.
»Scheiß drauf«, entgegnete er. »Sie glauben mir ja sowieso nicht.«
»Ich schieße besser als Sie. Sie werden daneben treffen, ich nicht. Also lassen Sie die Waffe fallen, und dann reden wir.«
In seinem Verstand arbeitete es. Bennett schien verwirrt. Alle Gesichtsmuskeln zuckten unkontrolliert. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Nach einer Ewigkeit ließ er von Lena ab und hielt sich die Pistole an die Schläfe. Lena verzog das Gesicht. Wenn der Mistkerl sich unbedingt das Hirn wegpusten wollte, würde sie ihn nicht daran hindern.
»Es ist nicht so, wie es aussieht, verdammte Scheiße«, wiederholte er.
»Dann erklären Sie mir, was los ist, Bennett.«
»Ich habe niemanden erschossen. Ich habe niemanden umgebracht. Ich bin unschuldig.«
»Das behaupten doch alle.«
Erschaudernd vor Angst, ließ er die Antwort auf sich wirken. Sein Blick wanderte zum Haus. Lena hörte hinter sich auf dem Rasen Schritte und schaute sich rasch um. Hu eilte mit gezückter Pistole auf sie zu. Vaughan folgte ihm in Begleitung mehrerer bewaffneter Polizisten.
Lena wandte sich wieder an Bennett.
»Es ist vorbei. Außerdem haben wir bereits alle Beweise, die wir brauchen. Den Anzug, den Sie anhatten, als Sie Lily Hight im Club 3 AM kennengelernt haben. Überwachungsvideos, die zeigen, wie Sie mit ihr den Club verlassen.«
Bennett blickte hastig von einem zum anderen. Dann sah er wieder Lena an, presste sich die Mündung noch fester an die Schläfe und fing an zu weinen.
»Aber ich bin unschuldig.«
»Ja, ja«, entgegnete sie. »Unschuldig. Ich habe ja inzwischen einige Theorien entwickelt, Bennett. Und trotzdem war mir nie so richtig klar, warum Sie Jacob Gant vor Gericht gestellt haben, obwohl Sie wussten, dass er den Lügendetektortest bestanden hat. Doch jetzt verstehe ich. Sie brauchten jemand, der für das blutet, was Sie dem Mädchen angetan haben. Darum ging es doch die ganze Zeit, oder? Und als Sie den Prozess verloren haben und befürchteten, dass Ihre Karriere auf dem absteigenden Ast ist, haben Sie einen neuen Ausweg gesucht. Als Gant zu gründlich hingeschaut hat und mit seinem Wissen zu Bosco gegangen ist, haben Sie beide erschossen und versucht, die Sache Lilys Vater unterzuschieben. Das klingt doch plausibel, richtig? Die ganze Stadt teilte Ihre Auffassung: Tim Hight auf dem Rachefeldzug.«
»Ich weiß, wie es aussieht, aber …«
»Aber was?«, gab Lena zurück. »Wie tief, auf einer Skala von eins bis zehn betrachtet, kann ein Mensch sinken? Sie haben den Rahmen längst gesprengt, Bennett. Und was ist mit Escabar und dem Wachmann? Und mit Debi Watson? Mit der Frau, die Ihnen etwas bedeutet hat, Bennett? Schauen Sie doch, was Sie mit ihr gemacht haben, und das noch am selben Tag, als sie eigentlich die Karten auf den Tisch legen wollte.«
Er schüttelte den Kopf, als habe er Watsons Leiche im Kofferraum vor Augen. Als er weitersprach, stieß er die Worte so heftig hervor, dass aus seinem Mund Speichel sprühte.
»Ich war es nicht. Ich habe sie nicht umgebracht.«
»Und was ist mit der Pistole, die Sie benutzt haben, die Sie sich an den Kopf halten? Es ist die Pistole von der Schießerei, in der Sie mit Cobb ermittelt haben. Sie wussten, dass wir sie identifizieren können, weil Sie eine Rückversicherung brauchten. Sie sind ein Genie, Bennett. Ein echtes Genie. Für den Fall, dass Ihre Sündenböcke unglaubhaft werden, hatten sie nämlich die ultimative Absicherung. Sie hatten Cobb, Ihren alten Mentor. Übrigens ist er heute Morgen gestorben. Bennett, Sie sind schon immer ein mieses Schwein gewesen, doch jetzt haben Sie sich selbst übertroffen: Sie sind ein Polizistenmörder.«
»Aufhören«, rief er. »Hören Sie auf.«
Sie trat einen Schritt vor.
»Lassen Sie die Waffe fallen, und dann gehen wir.«
»Kommen Sie nicht näher. Sonst puste ich mir die Scheißrübe weg.«
»Dazu fehlt Ihnen der Mumm, Bennett. Sie sind ein Feigling.«
»Fick dich ins Knie, du beschissene Schlampe.«
Er riss die Pistole herum, feuerte in den Rasen zu Lenas Füßen und rannte durch den Garten davon. Ein Tor führte in eine schmale Straße, wo zwei Müllcontainer standen. Doch er lief nicht die Straße entlang. Als Lena sich suchend umschaute, stellte sie fest, dass er sich hinter einen der Container an die Mauer presste. Sie wechselte einen Blick mit Vaughan und Hu, der seine Leute heranwinkte. Bennett war umzingelt.
Lena pirschte sich vorwärts, bis sie freie Sicht hatte. Bennett saß, die Neun-Millimeter-Smith auf dem Schoß, auf dem Boden und weinte. Murmelte vor sich hin. War völlig durch den Wind.
»Kommen Sie, Bennett. Bringen wir es hinter uns. Gehen wir, bevor noch ein Unglück passiert.«
»Ich will nicht.«
Lena sah wieder Vaughan an und wandte sich wieder an Bennett.
»Manchmal muss man auch Dinge tun, die man nicht will.«
»Ich nicht, Gamble. Ich tue nur, was ich will.«
»Aber es gibt keinen Ausweg«, entgegnete sie. »Kein Versteck. Sie haben jetzt ein Problem.«
In seinem Gehirn arbeitete es. Und mit einem Mal brach alles zusammen: Seine Seele kam stotternd zum Stehen, nichts ging mehr, Sprit alle, kein Plan B. Sein Blick wanderte über den Boden, dann hob er langsam den Kopf und sah Lena an, die etwa drei Meter vor ihm kniete. Als er bemerkte, dass sie mit der Pistole mitten auf seine Brust zielte, lächelte er.
»Scheiß drauf«, sagte er.
Bennett hob die Waffe, schloss den Mund um den Lauf und drückte ab. Lena sah, wie sein Kopf rückwärts gegen die Wand schnellte und Blut herausspritzte. Doch die Pistole feuerte immer weiter.
Hu und Vaughan liefen hinüber. Auch die bewaffneten Polizisten kamen näher.
Offenbar hatte sich Bennetts Finger mit dem Abzug verklemmt. Noch während sein Körper im Todeskampf zuckte, gab die Neun-Millimeter-Smith eine Kugel nach der anderen ab, dass kleine Stücke von Bennetts Kopf abgesprengt wurden. Die Waffe verstummte erst, als das Magazin leer war.
Im nächsten Moment verstummten die Geräusche. Der Pulverdampf verflog. Ein Polizist ging zu Bennetts Leiche hinüber, nahm die Pistole und warf sie zu Boden. Als der Kollege dem Toten einen kräftigen Tritt mit dem Stiefel versetzte, erhob niemand Einspruch.