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Als Lena später im Auto saß, fühlte sie sich noch immer benommen. Sie hatte bei Cobb eingebrochen und dann in Bennetts und Watsons mittägliches Schäferstündchen hineingeplatzt und hatte die Karten auf den Tisch gelegt. Den restlichen Nachmittag und den frühen Abend hatte sie am Schreibtisch verbracht, um ihre Fallakte zu aktualisieren.
Nun brauchte sie dringend etwas zu essen und Ruhe.
Auf der Heimfahrt durch die Hügel blickte sie immer wieder in den Rückspiegel. Niemand folgte ihr. Sie hielt Ausschau nach Dick Harvey, doch den hatte sie schon den ganzen Tag nicht gesehen, und sie hoffte, dass er inzwischen hinter einer anderen Story her war.
Auf 88.1 FM, dem Sender aus Long Beach, spielten sie Of Dreams to Come von Robert Glasper, und Lena empfand das Klavierstück als unbeschreiblich beruhigend. In ihrer Einfahrt angekommen, parkte sie und blieb sitzen, bis die letzten Töne verklungen waren.
Im Haus warf Lena ihren Aktenkoffer aufs Sofa und ging in die Küche. Am Telefon blinkte das Lämpchen. Sie erkannte die Nummer nicht. Als sie Debi Watsons Stimme hörte, zog sie sich einen Hocker heran und setzte sich.
Ihr riskantes Manöver hatte sich offenbar ausgezahlt. Watson wollte reden.
Und was noch besser war: Die Staatsanwältin klang verängstigt und hatte ihre Privatnummer hinterlassen. Also hatte sie ihr möglicherweise wirklich etwas Wichtiges mitzuteilen.
Lena sah auf die Uhr und tippte die Nummer in ihr Telefon ein. Nach viermal Läuten meldete sich Watsons Mailbox, worauf Lena eine Nachricht mit ihrer Mobilnummer hinterließ. Sie legte auf; nun war ihre Neugier erst richtig geweckt, und sie hoffte, dass Watson noch an diesem Abend zurückrief. Ihr Blick fiel auf den Aktenkoffer, und plötzlich war sie wieder wach. Doch als Lena vom Barhocker aufstand, schien die Zeit auf einmal einen Satz nach vorne zu machen und vor ihren Augen auseinanderzubrechen.
Sie hörte einen lauten Knall und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht, als Glasscherben durch die Luft flogen und klirrend im Zimmer landeten. Lena duckte sich und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, als einer der schmiedeeisernen Stühle von der Terrasse von der Wohnzimmerwand abprallte. Allerdings wandte sie sich nicht schnell genug wieder um und sah deshalb nicht, wie Dan Cobb durch die zerborstene Schiebetür hereinstürmte. Sie spürte eher, dass er es war.
Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie und riss sie zu Boden.
Lena stürzte aufs Parkett. Sie spürte, wie ihr die Luft wegblieb. Cobb lag auf ihr. Er riss ihr die Waffe weg, schleuderte sie am Sofa vorbei, drückte ihr die Hand aufs Gesicht und presste ihren Kopf auf die Dielen.
Lena zwang sich durchzuatmen. Nach zwei schnellen Atemzügen bekam sie wieder mehr Luft, wälzte sich zur Seite und versuchte, sich unter ihm hervorzuwinden. Sie trat um sich, strampelte mit den Füßen und tat alles, um sich loszureißen. Als sie die Hand nach dem Beistelltisch ausstreckte, schlug Cobb ihn mit solcher Wucht weg, dass die Beine abbrachen.
Cobb packte Lena um die Taille, drehte sie auf den Rücken und zog sie an sich. Wieder lag er keuchend und stöhnend auf ihr und drückte sie mit seinem ganzen Gewicht nieder, sodass sie die Arme nicht bewegen konnte. Dann packte er sie an den Haaren, hielt ihren Kopf fest und ließ die Hände nach unten wandern.
Sie spürte, wie sie sich um ihren Hals schlossen. Sein Griff wurde fester, und er schnürte ihr die Luft ab. Lena zwang sich, ruhig zu bleiben, hielt Ausschau nach ihrer Pistole und entdeckte sie auf einem Haufen Glasscherben – sie lag viel zu weit weg.
Lena betrachtete Cobbs Gesicht. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und seine Nase schien gebrochen zu sein.
»Du korruptes Stück Scheiße«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Du korruptes Stück …«
Sie bekam keine Luft mehr und versuchte, seine Finger zu fassen zu kriegen.
»Du bist in meine Scheißwohnung eingebrochen und hast die Scheißakte geklaut. Meine Scheiß…«
Sein Griff wurde fester. Ihr wurde schwindlig. Sein Gesicht war nun so nah an ihrem, dass sich ihre Nasen berührten. Sie bemerkte, dass sie …
»Du bist also der frische Wind, ja?«, stieß er hervor. »Eine Scheißbetrügerin bist du. Eine Lügnerin und Betrügerin und eine dreckige …«
Lena bemühte sich, etwas zu sagen. Als sie endlich die Sprache wiederfand, klang ihre Stimme abgehackt wie bei einem Telefon mit schlechtem Empfang.
»Bring mich doch um, Cobb. Aber das ändert nichts.«
Das schien seine Wut nur noch zu steigern.
»Natürlich würde sich dann was ändern.«
»Nein. Sie wissen nämlich alles.«
Lachend knallte er ihr den Hinterkopf auf den Boden. Sie versuchte vergeblich, seine Hände wegzuschieben. Die ganze Welt schien auf dem Kopf zu stehen.
»Sie wissen, dass Sie es waren«, beharrte sie. »Sie haben Bosco und Gant erschossen.«
Er ließ ihren Hals los.
Sie wusste nicht, warum.
Hustend rang sie nach Atem. Cobb lag noch immer auf ihr. Seine Brust hob und senkte sich. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt – wie bei einem Liebespaar. Er starrte mit wildem Blick durch sie hindurch.
»Sie wissen, dass Sie es waren, Cobb.«
»Woher?«
»Die Pistole. Sie stimmt überein.«
»Sie stimmt überein?«
»Mit der, die bei der Schießerei aus einem fahrenden Auto benutzt wurde. Vor acht Jahren in Exposition Park. Sie, Bennett und Higgins haben gemeinsam an dem Fall gearbeitet. Elvira Wheaton und ihr Enkel. Sie haben die Waffe aus der Asservatenkammer geholt. Das Antragsformular gibt es noch. Sie waren es. Sie und Ihre drei Kumpels sind Arschlöcher und haben sich eines Verbrechens schuldig gemacht. Wenn Sie mich jetzt umbringen, wird man Sie jagen wie Tiere.«
Cobb betrachtete sie immer noch abschätzend, während er über ihre Worte nachdachte. Er wirkte aufgebracht und schien noch immer nicht richtig Luft zu bekommen. Nach einer Weile gab er Lena frei und griff nach ihrer Pistole. In Gedanken war er weit weg.
»In meiner Jugend gab es noch keine Frauen wie Sie«, sagte er.
»Fick dich.«
»Wir unternehmen eine Spazierfahrt.«
»Damit Sie mich erschießen können?«
»Nein«, erwiderte er. »Um Ihnen etwas zu zeigen.«
»Was denn?«
»Das können Sie mir erklären, wenn wir dort sind.«
»Sie sind ein Stück Scheiße, Cobb.«
Er reichte ihr die Pistole und rappelte sich mühsam auf. »Nein, bin ich nicht, Gamble. Ich bin nämlich der Kerl, der Paladino einen Tipp gegeben und dafür gesorgt hat, dass Jacob Gants DNA in dem verdammten Labor verloren gegangen ist.«