13

Lena fiel eine zweite Tür im Flur auf. Da sie ein wenig schmaler war als die Tür zum Speicher, gehörte sie wahrscheinlich zu einem Wandschrank. Doch als sie den Türknauf umdrehte, strömte helles Sonnenlicht auf den Treppenabsatz und floss um ihre Füße.

Der Raum dahinter entpuppte sich als das Zimmer von Lily Hight.

Es war beinahe so groß wie das Arbeitszimmer ihres Vaters gegenüber. Auf der linken Seite befand sich ein begehbarer Wandschrank, eine Kommode und ein Badezimmer. Rechts standen ein kleiner Schreibtisch und zwei Bücherregale. Daneben gab es zwei Fenster mit Blick auf das Haus der Gants auf der anderen Seite der Einfahrt. Seltsamerweise war das Fenster einen Spalt weit geöffnet, sodass ein warmer Luftzug in das klimatisierte Zimmer wehte.

Lena trat ein und ließ die Tür hinter sich zufallen. In der Mitte des Zimmers blieb sie stehen und betrachtete das an die Wand geschobene Doppelbett, den Lehnsessel, den Computer und die verschiedenen Souvenirs, die die Sechzehnjährige gesammelt hatte. Doch was ihr am meisten ins Auge stach, war der Zustand des Zimmers. Ein bestimmter Eindruck, der sie überkommen hatte, sobald sie die Tür öffnete.

Vor einem Jahr war dieses Zimmer ein Tatort gewesen. Nach Abschluss der Untersuchungen hatte man es vermutlich freigegeben und den Hights die Adressen einiger Firmen genannt, die auf die Beseitigung von biologischen Abfällen und die Reinigung der Schauplätze von Verbrechen spezialisiert waren. Und offenbar hatte die Putzkolonne ganze Arbeit geleistet. Sogar der weiße Teppich war fleckenlos sauber. Doch was Lena an diesem Zimmer am seltsamsten erschien, war, dass die Hights es offenbar nicht abgeschlossen hatten. Anders als in den meisten Familien, die eine solche Tragödie verkraften mussten, wirkte das Zimmer eigenartig bewohnt, so als würde es regelmäßig benutzt.

Lena ging zum Bett. An das Kopfbrett waren Kissen gelehnt, und neben der Nachttischlampe lagen einige Bücher. Außerdem war auf der Matratze der Abdruck eines Körpers zu sehen. Auf dem Teppich vor dem Fenster erkannte Lena Spuren des Sessels, und es wunderte sie, dass sich der Teppichflor nach der Reinigung nicht wieder aufgestellt hatte. Anscheinend hatte der Sessel lange Zeit an diesem Platz gestanden, bevor er näher ans Bett gerückt worden war.

Lena wandte sich der Kommode mit der Kleidung des Mädchens zu und begann, die Schubladen zu durchsuchen. Dabei bemühte sie sich, nicht zu sehr daran zu denken, was sie vor sich sah – an die Trauer und das gebrochene Herz, die mit einem derart schweren Verlust einhergingen. Lily Hights Sachen waren sauber und ordentlich gefaltet. Über allem hing noch der Geruch des Mädchens – der Duft ihres Haars und ihrer Haut. Lena wusste aus persönlicher Erfahrung, dass man ein Zimmer noch so gründlich sauber machen und schrubben konnte, der Geruch eines Menschen hielt sich, bis man die Wände neu strich und die Möbel austauschte.

Sie schob die Erinnerungen beiseite und versuchte, ruhig weiterzuarbeiten und nicht mehr zu grübeln. Als sie mit der letzten Schublade fertig war, hörte sie von draußen ein Geräusch und schaute aus dem Fenster.

Durch das Geäst der Bäume konnte sie sehen, dass sich vor dem Haus der Gants eine Menschenmenge zusammenrottete. Reporter packten ihre Koffer aus und bauten Kameras auf. Als sie den Acura RL am Straßenrand bemerkte, wusste sie sofort, wem er gehörte, und ahnte, was gleich passierte.

Buddy Paladino war im Haus und sprach mit Jacob Gants Vater. Eine aufgeladene und erwartungsvolle Atmosphäre lag in der Luft, und das angespannte Stimmengewirr der Reporter drang zum offenen Fenster herein. Der Strafverteidiger mit dem Eine-Million-Dollar-Lächeln bereitete sich auf seinen großen Auftritt vor.

Lenas Puls beschleunigte sich. Paladino würde der Presse nicht in seiner Kanzlei und auch nicht im Gerichtsgebäude Rede und Antwort stehen. Er war hier, weil er wusste, dass auch alle anderen Akteure vor Ort waren. Schließlich parkten der Transporter des SID, die Streifenwagen und die Autos der Detectives direkt vor Tim Hights Haus. Paladino besaß die geniale Fähigkeit, die einzige Schwachstelle in der Argumentation eines Staatsanwalts aufzudecken und die Geschworenen so lange zu bearbeiten, bis sie die Sache genauso sahen. Und wenn es darum ging, die Presse nach seiner Pfeife tanzen zu lassen, war er nicht zu schlagen. Er hatte Jacob Gant zu einem Freispruch verholfen – und nun war Jacob Gant tot. Deshalb brauchte Paladino nun einen Sündenbock für das Ableben seines Mandanten, und zwar vorzugsweise einen finanzkräftigen. Und darum würde er mit dem Finger direkt auf die Polizei zeigen. Er würde die Messerklinge so tief wie möglich hineinbohren und sie auch noch herumdrehen, seine Botschaft loswerden, die Polizeibehörde in den Schmutz ziehen und die Streifenwagen mit ihrem Emblem als Kulisse benutzen, wie sie dem Bühnenbildner eines großen Studios nicht besser hätte einfallen können.

Das macht Buddy Paladino zu Buddy Paladino, dachte sie. Aus diesem Grund fand sie ihn so faszinierend, wenn auch manchmal gefährlich.

Lena trat vom Fenster zurück und drehte sich wieder zum Bett um. Sie griff nach der Schatulle auf dem Nachttisch und setzte sich. Offenbar war sie handgearbeitet und bestand aus Kirschbaumholz. In den Deckel waren Blätter aus Silber rings um einen verglasten Bilderrahmen eingelassen. Das Foto stellte einen nassen Hund dar, einen Cockerspaniel, der hechelnd an einem Strand saß und aufblickte, als warte er darauf, dass jemand ein Stöckchen für ihn warf. Lena erkannte im Hintergrund den Pier von Santa Monica, konnte jedoch nicht sagen, wo genau die Aufnahme entstanden war.

Sie öffnete den Deckel und nahm den Notizblock heraus, der ganz oben lag. Darunter stieß sie auf einige Schmuckstücke. Zwischen dem Schmuck lagen ein alter Silberdollar, eine Briefmarke in Gedenken an den Baseballstar Babe Ruth und eine Hundemarke, die vermutlich einst zu dem Spaniel auf dem Foto gehört hatte. Lily Hights Hund hatte Mr Wilson geheißen.

Lena wandte sich ab.

Sie spürte eine Trauer, die sich hartnäckig hielt und die auch das Sonnenlicht nicht vertreiben konnte. Das Gefühl ließ nach, als Barrera vom Treppenabsatz aus nach ihr rief und sie antwortete. Im nächsten Moment ging die Tür auf, und er steckte den Kopf ins Zimmer. Sie stellte die Schatulle weg.

»Wir müssen miteinander reden«, sagte er.

Barrera schloss die Tür, trat ans Fenster und spähte hinaus.

»Wir stecken ordentlich in der Scheiße, Lena. Der Oberstaatsanwalt dreht jetzt offenbar total am Rad. Die Sache wird sich nicht so einfach aus der Welt schaffen lassen. Nicht, solange Paladino allen unter die Nase reibt, welchen Mist wir gebaut haben. Da spielt es keine Rolle, was die Leute von Jacob Gant gehalten haben oder dass sie sich über seinen Tod freuen. Paladino weiß das. Warten Sie nur ab. Er wird uns in Stücke reißen und so viel Geld wie möglich aus der Sache herauspressen.«

Seine Worte überschlugen sich, bis ihm schließlich der Dampf ausging und er verstummte. Er ließ sich auf der Armlehne des Lesesessels nieder, betrachtete das Zimmer und schien die Stimmung im Zimmer ebenso beklemmend zu finden wie Lena.

»Was entdeckt?«, fragte er.

»Noch nicht.«

»Genau wie bei den anderen. Wir wollen den Tatsachen ins Auge sehen: Die Pistole ist nicht im Haus. Wenn Sie hier durch sind, können wir Schluss machen.«

Als er sie ansah, blitzte etwas in seinen Augen auf.

»Sie haben doch was«, stellte sie fest. »Was denn?«

»Cash und Koks. Street hat es in Hights Kommodenschublade entdeckt.«

»Wie viel?«

»Zwei Riesen in Hundertdollarscheinen. Genau in der Stückelung, wie Bosco sie immer bei sich hatte. In Hundertern.«

Das ist zwar nicht mit einer Pistole zu vergleichen, aber wenigstens etwas, dachte Lena, da die meisten Menschen ihr Geld zählten. Insbesondere bei Hundertdollarscheinen. Falls das Geld in Hights Schublade tatsächlich Bosco gehörte, bestand die Möglichkeit, dass sie beide ihre Fingerabdrücke darauf hinterlassen hatten.

»Was ist mit dem Koks?«, fragte sie. »Wie war es abgepackt?«

Barrera zog die Augenbrauen hoch.

»In einem Briefumschlag, als ob Hight ihn aus Boscos Schreibtisch genommen hätte, um das Zeug darin zu verstauen. Etwa fünfzehn Gramm, vielleicht auch zwanzig. Genug für eine Menge guter Trips.«

»Seine Augen«, sagte sie. »Er sah völlig erledigt aus.«

»Fand ich auch.«

Lena stand auf und ging zum Fenster. Paladino war noch immer im Haus. Auf der Straße tummelten sich inzwischen unzählige Reporter.

»Die Kameras, Frank. Wie wollen Sie es machen? Wir können Hight ja schlecht zur Eingangstür hinausführen.«

Barrera hielt den Überrest seines Zigarrenstummels zwischen den Fingern. Während er nachdachte, steckte er die Zigarre in den Mund, kaute darauf herum und zog daran. Dass sie inzwischen ausgegangen war, schien ihn nicht zu stören.

»Hight bleibt hier«, sagte er schließlich. »Selbst ohne Kameras müssten wir ihn laufen lassen. Momentan können wir ihn nur wegen Drogenbesitz drankriegen … es darf nicht nach Polizeischikane aussehen. Damit würden wir es nur noch schlimmer machen.«

»Wessen Idee war das denn?«

Barrera sah sie achselzuckend an.

»Der Fall muss absolut wasserdicht sein. Unwiderlegbar, als stammten die Beweise vom lieben Gott höchstpersönlich. Jedes Teilchen muss passen. Jede Linie auf der Karte. Dann wäre es anders. Dann würden wir den Kerl abführen, ganz gleich, wer da draußen herumlungert.« Er stand auf und blickte sich noch einmal im Zimmer um. »Hier drin ist es komisch. Ich muss raus, ich brauche frische Luft.«

»Sind wir mit Hight fertig?«

»Mifune hat alles, was er braucht. Die anderen packen schon zusammen. Wir warten hier, bis Paladino weg ist und die Kameras verschwinden.«

»Heißt das, wir sitzen fest?«

Barrera öffnete die Tür und lächelte ihr zu.

»Ich habe gerade mit der Gerichtsmedizin telefoniert. Paladino bringt Gants Vater hin, damit der seinen Sohn identifiziert. Der Termin ist in etwa einer Stunde und kann wegen der Autopsie nicht verschoben werden.«

»Ich dachte, die findet heute Abend statt.«

»Tut sie auch, aber die sind dort überlastet. Wenn er seinen Sohn sehen will, muss das jetzt sein. Also wird Paladino sich bei seiner Pressekonferenz kurz fassen müssen.«

»Wenn wir noch ein wenig Zeit haben, würde ich dieses Zimmer gern auf Fingerabdrücke untersuchen.«

»Warum?«

»Sie haben doch selbst gesagt, dass hier drinnen eine komische Atmosphäre herrscht. Und solange wir Zeit haben, warum nicht?«

Er zuckte die Achseln.

»Ich schicke jemanden hoch.«

Sie blickte ihm nach, als er die Tür schloss, und lauschte, während seine Schritte auf dem Flur verklangen. Das Stimmengewirr der Journalistenhorde wurde lauter, und Lena trat wieder ans Fenster.

Paladino war gerade mit William Gant aus dem Haus gekommen. Am Auto des Anwalts umrundeten die Journalisten die Motorhaube und bezogen davor Posten, als hätte ein Regisseur ihnen die Anweisung dazu gegeben. Lena brauchte kein Fernglas, denn sie konnte sich denken, warum. Und nur für den Fall, dass der Transporter mit Polizeiemblem und die Streifenwagen dem einen oder anderen Reporter entgangen sein sollten, versäumte Buddy Paladino nicht, alle darauf hinzuweisen.

Lena fand die Szene unerträglich, und dass sie und Paladino eine gemeinsame Vorgeschichte hatten, machte es auch nicht leichter.

Ihr Blick wanderte die Einfahrt entlang, bis sie das Haus der Gants durch die Äste der Bäume ausmachen konnte. Jacob Gants Bruder Harry beobachtete seinen Vater von einem Fenster im Obergeschoss aus, das auf die Straße hinausging. Inzwischen klang Paladinos Stimme lauter. Er war Anwalt vom Scheitel bis zur Sohle, redete sich im heißen Sonnenschein in Rage und umschmeichelte die Menschenmenge, als wolle er ein Wundertonikum an den Mann bringen.

Genau so sieht Rache aus. Derartige Dinge geschehen eben, wenn Bürger Selbstjustiz üben und Gewalttaten begehen. So etwas konnte nur passieren, weil die Polizei von Los Angeles geschlafen hat.

Lena schaltete auf Durchzug. Paladino hatte sein Sprüchlein wie immer meisterhaft aufgesagt. Länger brauchte sie sich das nicht anzutun.

Sie wandte sich vom Fenster ab und bemerkte, dass sie die Schatulle auf dem Bett vergessen hatte. Als sie sie auf den Nachttisch legte, fiel ihr wieder das Hundefoto auf. Es war eine alte Schwarzweißaufnahme, dunkel, verschwommen, Regenwolken ballten sich im Hintergrund zusammen. Lena wollte wissen, ob ein Datum auf der Rückseite stand, und sie entfernte die hintere Verkleidung und zog ein Stück Pappe heraus. Der Schnappschuss löste sich von der Glasscheibe, und sie drehte ihn um.

Das Foto trug zwar keinen Datumsstempel, doch es klebte ein zweites Bild daran. Sie trennte die beiden Fotos voneinander und drehte das zweite um. Lange Zeit starrte sie fassungslos darauf. Dieses Foto hatte Lily Hight also in der Schatulle neben ihrem Bett versteckt!

Es war ein Foto des Mörders. Ein Foto von Jacob Gant.

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