37

Vaughan wohnte in der Hillside Lane, vom Strand aus nur wenige Autominuten durch das Tal. Lena erkannte das Haus schon aus einiger Entfernung, fuhr jedoch rechts ran, als sie eine blonde Frau sah, die gerade mit zwei kleinen Kindern und dem Kindermädchen das Haus verließ. Vaughan folgte ihnen hinaus, öffnete die Tür seines Wagens und half beim Einstellen der Sitze. Die drei lachten über etwas. Sobald die Kinder in ihren Kindersitzen festgeschnallt waren, setzte sich die Blondine ans Steuer, und Vaughan winkte, als sie in seinem Auto davonbrauste.

Lena wusste nicht, was sie davon halten sollte oder was sie im Moment dachte oder fühlte. Hoffentlich war zwischen Vaughan und ihr alles wieder normal. Sie versuchte, das innere Prickeln zu ignorieren und sich einzureden, dass sich alles nur in ihrer Fantasie abspielte.

Vor dem Haus hielt sie an. Vaughan kam zum Auto und steckte den Kopf zum Beifahrerfenster herein.

»Jetzt hast du gerade die Kinder verpasst«, sagte er.

»Wie schade«, erwiderte sie. »Wo ist denn dein Auto?«

»Meine Ex hat es sich für den Tag geliehen. Ihres ist in der Werkstatt. Sobald es repariert ist, wird es zu mir ins Büro gebracht. Es macht dir doch nichts aus zu fahren, oder?«

»Überhaupt nicht.«

»Dann hol ich mal schnell meinen Aktenkoffer.«

Als er ihr zulächelte, bemerkte sie das Funkeln in seinen hellbraunen Augen. Sie stellte das Radio auf KNX um, in der Hoffnung, dass ein Nachrichtensender sie ablenken und die Dinge erleichtern würde. Doch sie hätte sich die Mühe sparen können. Sobald Vaughan im Auto saß, redete er den Großteil der Fahrt nur über den Fall und die neuen Erkenntnisse: Es wolle ihm einfach nicht in den Kopf, wie zwei Staatsanwälte es fertigbrächten, vor einen Richter zu treten und ihm in die Augen zu schauen, wohl wissend, dass sie gerade einen Unschuldigen anklagten. Dass sie auch noch den Segen des Oberstaatsanwalts gehabt hätten, sei der Gipfel. Lena warf Vaughan einen Blick zu, er machte einen viel lebendigeren Eindruck. Seine Körperhaltung, seine Mimik waren anders. Angetrieben vom Jagdfieber wirkte er energiegeladen und selbstbewusst.

Die Fahrt dauerte keine zehn Minuten. Vaughan warf einen Blick auf die Adresse und entdeckte etwa eine Straßenecke weiter eine Parklücke.

»Nimm die besser«, sagte er.

Lena parkte rückwärts ein, und dann gingen sie den Bürgersteig entlang bis zur Ecke. Das Haus im Strongs Drive war nicht zu verfehlen. Im Vorgarten stand ein Mast mit einer Kamera, und vor den Fenstern im Erdgeschoss waren Filmscheinwerfer angebracht. Als sie näher kamen, bemerkte Lena, dass das Haus an den Kanal angrenzte. Neben der Terrasse lag ein großer Whirlpool. An das Haus schloss sich das vermutlich einzige freie Grundstück in Venice an. Dort standen zwei Wohnwagen, ein Ü-Wagen, der Transporter eines Partyservice und einige lange Tische mit Stühlen unter einem großen Zeltdach. Um beide Grundstücke verlief wie bei einem Tatort ein gelbes Absperrband. Auf der Straße lehnten zwei Polizisten, die offenbar in ihrer Freizeit ihr Gehalt aufbesserten, an ihren schwarzweißen Streifenwagen und schoben Wache.

Lena versetzte Vaughan einen Rippenstoß.

»Wie heißt denn die Serie?«

»Das kann ich mir einfach nicht merken. Eine von diesen bescheuerten Reality-Shows. Die kriege ich nur mit, wenn ich einen Zeichentricksender für die Kinder suche. Sie stecken sechs Versager in ein Haus, nehmen sie dabei auf, wie sie Schwachsinn labern, und irgendwie verkauft sich das dann.«

Lena bemerkte ein kleines, an einem Telefonmast befestigtes Schild. Lowlife stand da, darüber ein Pfeil, der auf das Haus zeigte.

»Genau«, sagte Vaughan, »so heißt die Sendung, Lowlife

Während er mit einer jungen Aufnahmeleiterin sprach, zeigte Lena den Polizisten ihre Dienstmarke, drehte sich um und folgte dem Staatsanwalt ins Zelt. Pete London saß an einem Tisch, trank Kaffee und korrigierte mit einem blauen Stift ein Manuskript. Als er sie bemerkte, stand er auf. Sie schüttelten sich die Hand.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte er. »Ich weiß das zu schätzen. Möchten Sie einen Kaffee? Einen Happen zu essen? Die Kantine ist immer geöffnet, und das Essen ist ziemlich gut.«

Lena und Vaughan lehnten dankend ab und nahmen Platz. London schob sein Manuskript beiseite. Den Pappbecher mit Kaffee behielt er in der Hand. Interessanterweise sah er aus wie Tim Hights Bruder, nur gepflegter. Er hatte auch blonde, grau melierte Haare, allerdings den besseren Friseur, trug Jeans und ein leichtes Baumwollhemd, war schlank und hatte eine Schildpattbrille auf der Nase. Eigentlich wirkte er zu intelligent, um eine Reality-Serie mit dem Titel Lowlife zu produzieren, und das noch für einen Musiksender, für den der Zug inzwischen längst abgefahren war.

»Ich habe von den Morden im Club 3 AM gelesen«, begann er. »Und ich mache mir große Sorgen um Tim Hight. Er ist mein Freund, und deshalb habe ich Sie angerufen.«

Nach einem Blick auf Vaughan drehte sich Lena wieder zu London um.

»Haben Sie mit ihm gesprochen?«, fragte sie. »Hat er Ihnen erzählt, was in der besagten Nacht vorgefallen ist?«

»Nein«, erwiderte London. »Er nimmt meine Anrufe nicht an. Wir haben schon lange nicht mehr miteinander geredet.«

»Seit Sie ihn gefeuert haben?«

Nach einem kurzen Moment nickte London. Lena bemühte sich, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Vaughan übernahm.

»Warum haben Sie ihn gefeuert?«, fragte er.

»Ich habe es nicht gern getan«, antwortete London. »Nachdem Lily ermordet wurde, hat er sich einen Monat Auszeit genommen. Doch als er zurückkam, war er wie verwandelt. Ich habe versucht, so gut wie möglich darüber hinwegzusehen. Aber irgendwann … auch wenn es mir leidtat, was ihm zugestoßen ist … klappte es einfach nicht mehr, und ich musste mich von ihm trennen.«

»Und wie war es vorher?«, fragte Lena. »Was hatte er für ein Verhältnis zu seiner Tochter?«

»Wovon reden Sie?«

Da London Hight offenbar als Freund betrachtete, versuchte Lena, das Thema zwar diskret, aber so direkt wie möglich anzuschneiden.

»Ist Ihnen jemals etwas Merkwürdiges aufgefallen? Etwas, das nicht der Norm entsprach?«

»Sie standen sich nah«, antwortete er. »Aber nicht so, wie Sie meinen.«

»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Vaughan.

»Weil ich den Großteil meines Lebens mit Tim Hight zusammengearbeitet habe und ihn sehr gut kenne. Ich habe Wind der Prärie produziert, seinen besten Film. Drei Monate lang haben wir in Zelten gehaust und unter Bedingungen gedreht, bei denen die meisten das Handtuch geworfen hätten. Glauben Sie mir. Wenn man so eng mit einem Menschen zusammenlebt, gehen einem irgendwann die Geheimnisse aus. Nach einer Weile kennt man sich wie zwei Brüder.«

»Sie scheinen unseren Besuch recht locker zu nehmen«, stellte Lena fest.

»Überhaupt kein Problem. Ich weiß, dass Sie diese Fragen stellen müssen. Das gehört zu Ihrem Job. Ich helfe Ihnen gern. Aber Sie müssen eines verstehen. Gut, Tim trinkt, raucht und nimmt Drogen, doch das hat alles erst nach dem Mord an Lily angefangen. Eigentlich war er nie so. Ihr Tod hat ihm den Rest gegeben. Nicht nur, dass sie gestorben ist, sondern auch die Umstände. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, ein Kind zu verlieren, und welche Dämonen einen dann heimsuchen. Ich hoffe nur, dass er bald fremde Hilfe in Anspruch nimmt.«

»Ich gehe davon aus, dass Sie Lily kannten und sie auch öfter gesehen haben«, sagte Lena.

London wandte sich kurz ab und schwelgte in Erinnerungen. »Tim war ein toller Vater. Er hat sie häufig zum Set mitgebracht. Sie hatte ein Händchen für Kameras und Talent und hat sich mit allen Mitarbeitern gut verstanden.«

»Was ist mit Jacob Gant?«, fragte Vaughan. »Hat Hight je über ihn geredet?«

London nickte.

»Er machte sich Sorgen, dass Lily zu schnell erwachsen werden und dass hinter ihrer Freundschaft mit Gant mehr stecken könnte. Immerhin war Gant Mitte zwanzig, richtig? Und Lily war erst sechzehn. So etwas hat vielleicht bei Elvis geklappt, aber im wirklichen Leben? Welcher Dad hätte da keine Bedenken?«

Lena hatte London aufmerksam beobachtet. Er stellte Tim Hight als liebenden Vater dar. So weit, so gut. Doch seit Anfang ihres Gesprächs umklammerte London seinen Kaffeebecher, drehte ihn hin und her und ließ den Kaffee kreisen; es war nur ein Kaffeebecher, mehr nicht, aber London behandelte ihn wie ein Glas Bourbon.

Lena blickte sich im Zelt um: niemand in Hörweite. Also wandte sie sich wieder an London.

»Wissen Sie, was Leuten blüht, die polizeiliche Ermittlungen in einem Mordfall behindern?«

London erstarrte. Vaughan schien von der Frage ebenso überrascht.

»Wissen Sie das?«, wiederholte sie.

London schwieg. Er wirkte immer noch erschrocken und rang um Fassung.

»Wenn Sie uns freiwillig die Aufzeichnungen Ihrer Telefongespräche überlassen, wunderbar«, fuhr sie fort. »Wenn nicht, verschwenden Sie nur unsere Zeit, und das könnte unangenehme Folgen für Sie haben.«

London antwortete zwar nicht, doch allmählich veränderte sich sein Gesichtsausdruck; das entging auch Vaughan nicht.

Lena sah sich wieder im Zelt um. Da zwei Leute an der Essensausgabe standen, senkte sie die Stimme.

»Wann haben Sie zuletzt mit Hight geredet? Und bitte antworten Sie jetzt nicht, dass Sie das letzte Mal anlässlich der Kündigung mit ihm telefoniert haben, denn wir wissen alle drei, dass das nicht stimmt.«

London konnte ihr nicht in die Augen schauen.

»Gestern«, flüsterte er schließlich. »Es war gestern.«

»Und hat er Sie auf diesen Gedanken gebracht?«

London nickte.

»Er sagte, er brauche Hilfe. Und ich glaubte, ihm etwas schuldig zu sein.«

»Haben Sie sich abgesprochen?«

»Wir haben ein paar Ideen erörtert.«

»Und was hat er sonst noch gesagt?«

London hielt inne.

»Er denkt, dass Sie ihn verdächtigen«, stieß er hervor, »Lily umgebracht zu haben.«

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