30

Die Kanzlei von Buddy Paladino war im elften Stock eines Hochhauses im 400ter-Block der South Hope Street in der Innenstadt von Los Angeles untergebracht. Von Paladinos Schreibtisch aus hatte man die gesamte Stadt vom Dodgers-Stadion in den Hügeln im Norden bis hin zur Bucht und zum Strand im Blick. Paladino forderte Lena auf, Platz zu nehmen, und schenkte ihr sein Eine-Million-Dollar-Lächeln, das inzwischen zum Markenzeichen des Strafverteidigers geworden war. Sein teurer Anzug, die sorgfältig manikürten Fingernägel, das kurz geschnittene Haar und die schlichte, diskret-elegante goldene Armbanduhr entgingen Lena nicht. Die Ausstattung des Büros war dem Oval Office im Weißen Haus nachempfunden. Soweit Lena feststellen konnte, bestand der einzige Unterschied darin, dass Paladino um einiges mehr Geld hatte, seine Ausgaben vor niemandem zu rechtfertigen brauchte und sich mehr für Kunst als für Politik interessierte.

Lena setzte sich aufs Sofa gegenüber dem Fenster und betrachtete die über dem Meer schwebende Sonne. Der Feuerball hatte sich wieder rot verfärbt, leuchtete durch die Kohlenmonoxydwolken und tauchte Paladinos Büro in einen grellen scharlachroten Schein.

»Ich muss zugeben, dass ich enttäuscht bin«, sagte Paladino ruhig. »Jacobs Tod hätte verhindert werden können. Die Polizei von L. A. hätte es kommen sehen müssen. Schließlich haben sie Tür an Tür gewohnt. Bei dieser Wirtschaftslage konnte es sich keiner der beiden leisten, sein Haus zu verkaufen. Offenbar hat sich die Polizei wieder einen Schnitzer erlaubt, und das wird sie teuer zu stehen kommen. Und es sieht alles danach aus, als stünde auch Mr Tim Hight eine saftige Rechnung ins Haus.«

»Sie arbeiten bereits an einer Zivilklage gegen Hight, obwohl wir noch niemanden verhaftet haben?«

In aller Seelenruhe machte Paladino es sich in einem Sessel gemütlich.

»Sie haben genug Erfahrung, um zu wissen, dass die Grenze zwischen Realitätssinn und Geisteskrankheit sehr schmal ist, Lena. Die Menschen überschreiten sie tagtäglich, immer hin und her, als würde es heutzutage keine Rolle mehr spielen. Dieser Mensch hat etwas an sich, das mir nicht gefällt. Als hätte er nicht alle Tassen im Schrank.«

»Also können wir nicht reden?«

Er antwortete zwar nicht, aber er schien zu überlegen.

»Wir müssen uns unterhalten, Buddy. Was mich betrifft, findet dieses Gespräch nicht statt. Ich bin überhaupt nicht hier. Wahrscheinlich können Sie sich bereits denken, dass wir vielleicht sogar auf derselben Seite stehen. Doch ohne Ihre Hilfe läuft gar nichts.«

Paladino schwieg eine Weile. Als er endlich das Wort ergriff, betrachtete er geistesabwesend den an der Wand vibrierenden scharlachroten Lichtstreifen.

»Mir ist etwas eingefallen«, flüsterte er. »Etwas aus meinem Jurastudium. Mein Mitbewohner verstand sich gut mit seinem Vater. Da sein Dad wusste, dass wir immer knapp bei Kasse waren, schaute er einmal im Monat vorbei und ging mit uns essen. Er war ein außergewöhnlich weiser Mann, und ich beneidete meinen Freund, weil ich auch gern so einen Dad gehabt hätte. Eines Abends lud er uns zu Steaks und Bier ein, und dann sagte er etwas, das ich niemals vergessen werde. Er riet uns, die Augen offen zu halten. Auf der Welt gebe es viele freundliche Menschen, doch das bedeute nicht, dass sie auch gute Menschen seien. Gute Menschen seien etwas ganz Besonderes und eine seltene Spezies. Man treffe vielleicht zwei, drei oder vier in seinem Leben. Und deshalb müsse man wachsam bleiben. Solche Menschen solle man sich warmhalten.«

Er wandte den Blick von der Wand ab und musterte Lena.

»Werden Sie mir helfen?«, fragte Lena. »Sprechen Sie mit mir?«

Er nickte langsam, offenbar bereit, ihr diese Bitte zu erfüllen.

»Was möchten Sie wissen?«

»Mich interessiert Lily Hights Wirkung in der Öffentlichkeit. Wie wurde sie dargestellt, und wie war sie tatsächlich? Die beiden Versionen scheinen sich zu widersprechen.«

Paladino lächelte nachdenklich.

»Stimmt. Und genau das machte die Sache vor Gericht für beide Seiten so kompliziert. Eine sehr heikle Situation.«

»Erzählen Sie mir mehr.«

»Lily mag erst sechzehn gewesen sein, hatte jedoch eine ausgeprägte Lust auf Sex. Sie hatte Spaß daran, und sie mochte Jacob. Zwischen den beiden lief etwas. Da ich sie nie kennengelernt habe, kann ich nicht mehr dazu sagen. Aber man hört ja öfter von Frauen wie ihr, die einen Mann verhexen können. Jacob war bis über beide Ohren verliebt in sie.«

»Was war denn daran so kompliziert? Warum haben Sie es nie erwähnt? Sie müssen doch die Nacktfotos gesehen haben, die im Computer Ihres Mandanten sichergestellt wurden. Das wären doch eindeutige Beweise gewesen, dass Gant sie nicht belästigt hat.«

Dunkelrote Sonnenstrahlen trafen Paladino im Gesicht. Er hielt schützend die Hand vor Augen, stand auf und ging zu einer Glasvitrine. Nachdem er einen Gegenstand, anscheinend eine Gedenktasse, herausgeholt hatte, setzte er sich mit dem Rücken zum Fenster auf das zweite Sofa. Nun wurde seine Silhouette von scharlachrotem Licht eingerahmt.

»Sie dürfen nicht vergessen, dass der Prozess gegen Gant aus drei Teilen bestand, Lena. Die Vorgeschichte der Gerichtsverhandlung kam ebenso zum Tragen wie die Ereignisse im Gerichtssaal selbst. Indem Bennett und Watson Lily durch Familienfotos und Privatvideos in den Medien präsentiert haben, haben sie bestimmte Voraussetzungen geschaffen. Und sie haben ihre Sache gut gemacht. Lily wurde als Traum jedes Vaters dargestellt – jungfräulich, rein und lebensfroh. Das Mädchen von nebenan, ein Kind, wie jeder es sich wünscht, nur mit einem gewaltigen Unterschied: Dieses Kind, dieses wunderschöne junge Mädchen, war von einem Ungeheuer vergewaltigt und ermordet worden. Lily wurde zum Inbegriff eines Opfers stilisiert – und gleichzeitig zur Mahnung, dass ihr Schicksal auch jedem anderen Kind drohen kann.«

»Also haben sich Bennett und Watson die öffentliche Meinung zunutze gemacht.«

»Sie haben sie gesät und das Pflänzchen gehegt. Und es ist gediehen. Das Bild von Lily als Unschuldslamm wurde in Stein gemeißelt. Ich habe selbst miterlebt, wie diese Klatschsendung aus Hollywood – wie heißt die noch mal? …«

»Bettgeflüster aus Hollywood«, antwortete Lena. »Dick Harvey.«

»Genau. Er hat auch eine Website. Ich habe mitgekriegt, was passiert ist, als Harvey andeutete, Lily und Jacob könnten etwas miteinander gehabt haben.«

»Wie genau sahen die Reaktionen denn aus?«

»Lily war ja bereits als heilige Jungfrau verkauft worden. Und sie war tot, was hieß, dass sie sich nicht mehr verteidigen konnte. So schafft man Märtyrer. Niemanden interessierte es, wer Lily Hight in Wahrheit gewesen war. Bennetts und Watsons Strategie hatte dieselbe Wirkung wie Teflon. Jede Äußerung, die dem offiziellen Bild widersprach, perlte ab und ließ Lily noch unschuldiger dastehen … noch mehr wie ein Opfer. Und wer mit dem Finger auf sie zeigte und auch nur den leisesten Versuch unternahm, dieses Bild zu demontieren, wurde automatisch zum Bösewicht. Selbst Harvey hat kapiert, dass er umschwenken und mit dem Strom schwimmen musste.«

»Soll das heißen, dass Sie es sich nicht leisten konnten, die Geschworenen gegen sich aufzubringen?«

Paladino schüttelte den Kopf.

»Das hatte ich bereits. Wir hatten die ganze Zeit über den Standpunkt vertreten, dass Lily und Jacob ein Paar gewesen waren. Dass Jacobs Sperma deshalb gefunden worden war, weil die beiden sich an diesem Abend geliebt hatten. Dass Lily freiwillig mit Gant geschlafen hatte. Doch von den Geschworenen wollte das keiner hören. Geschworene sehen eine Leiche, dann fällt das Wort DNA, und schon passiert etwas in ihren Köpfen. Es ist, als ob etwas klick machen würde und Gottes Stimme zu ihnen spräche.«

»Also haben die Geschworenen die Nacktfotos nie zu Gesicht gekriegt.«

»Drei Monate vor dem Prozess dachten alle, Jacob hätte die Aufnahmen von seinem Fenster aus gemacht. Doch die Kriminaltechnik konnte beweisen, dass sich die Kamera in ihrem Zimmer befunden haben musste. Und so hatten Jacobs Angaben, Lily hätte ihm die Fotos geschenkt, plötzlich Hand und Fuß. Also nein: Die Fotos wurden den Geschworenen von beiden Seiten vorenthalten.«

Cobb war es gelungen, diese Information nicht in seine Fallakte einfließen zu lassen. In keinem Bericht stand, die Kriminaltechnik hätte bestätigt, dass Lily Hight die Fotos gemacht und Jacob Gant die Wahrheit gesagt hatte.

Lena schob den Gedanken beseite und sah Paladino an. Bis jetzt hatte er die Tasse mit beiden Händen umschlossen, sodass man die Abbildung darauf nicht sehen konnte. Als er sie ihr nun reichte, erkannte sie hinten und vorne Lily Hights Gesicht mit den Worten: IST DIE JUSTIZ WIRKLICH BLIND? Die Tasse stammte aus dem Propagandafeldzug vor dem Prozess und gehörte, zusammen mit T-Shirts, Postern und Wandgemälden von Straßenkünstlern, zu der PR-Woge, die damals über die Stadt hinweggebrandet war.

»Verstehen Sie, was ich meine, Lena? Wie kann man gegen so ein Ding, wie Sie es gerade in der Hand haben, anstinken? Die Antwort lautet: Gar nicht. Das schafft niemand. Die Geschworenen waren nicht manipuliert, nein, sie waren in Drohnen verwandelt worden. Und je lauter man schrie, desto mehr schalteten sie auf Durchzug.«

»Sie waren im Begriff, den Prozess zu verlieren«, sagte Lena.

Er nickte und schenkte ihr wieder ein blendendes Lächeln. »Und zwar mit Pauken und Trompeten. Wir hatten keine Chance. Möchten Sie etwas trinken? Eine Tasse Kaffee, Tee oder etwas anderes?«

»Falls Sie einen Kaffee haben, gerne.«

Während Paladino zum Telefon griff, stellte Lena die Tasse weg und ging zum Fenster. Die Sonne versank gerade im Meer. Nach einer Weile gesellte Paladino sich zu ihr, und sie beobachteten gemeinsam, wie sich die Stadt von einem leuchtenden Rot in ein mattes Blau verfärbte.

»Hat Harry Gant Ihnen verraten, was Ihr Mandant bei Johnny Bosco wollte?«

Paladino nickte.

»Sie glaubten zu wissen, wer Lily wirklich ermordet hat. Mehr hat er mir nicht erzählt. Deshalb habe ich Sie angerufen.«

»Gut, und was ist jetzt mit Hight und seiner Tochter? Mit Ihrer Andeutung, er könnte sie missbraucht haben, sind Sie vor den Geschworenen ein großes Risiko eingegangen, und Ihre Beobachter haben dann ja auch bestätigt, dass die es nicht hören wollten. War das ein Schuss ins Blaue, oder hatten Sie konkrete Anhaltspunkte?«

Jemand klopfte an und öffnete die Tür. Eine Frau mittleren Alters, die eine Kochuniform trug, schob einen Wagen ins Zimmer. Paladino bedankte sich bei der Frau, die sich mit einer leichten Verbeugung zurückzog. Auf dem Wagen standen eine Kaffeekanne, zwei Tassen, kleine Schälchen mit weißem und braunem Zucker, verschiedene Schokokekse und Pfefferminzplätzchen und ein Sahnekännchen.

Paladino schenkte eine Tasse ein und reichte sie Lena. Nachdem er sich auch einen Kaffee eingegossen hatte, kehrte er zum Sofa zurück.

»Das war kein Schuss ins Blaue, Lena«, erwiderte er. »Und dennoch kann ich Ihnen keine Bestätigung liefern. Hight schien mir einfach eine seltsame Beziehung zu seiner Tochter zu haben. So eng, dass es einem fast unangenehm wurde. Jacob zufolge hat Lily sich dagegen gewehrt und sich abgegrenzt. Allerdings hat Jacob mir etwas geschildert, das eine Woche vor dem Mord geschehen war und mir sonderbar vorkam.«

»Sie sind doch offen mir gegenüber, oder, Buddy? Sie treiben keine Spielchen?«

Paladino erwiderte wortlos ihren Blick und trank einen Schluck Kaffee.

»Gut«, sagte Lena schließlich. »Was hat Gant beobachtet?«

»Es passierte an einem Freitagabend. Lily ist hastig aus dem Auto gesprungen und ins Haus gerannt. Hight hat sie verfolgt.«

»Und weiter?«

»Jacob fand, Hight habe sie so berührt, wie es sich für einen Vater nicht gehört. Und zwar während einer tätlichen Auseinandersetzung im Auto. Die Tür war offen.«

»Wo hat er sie berührt?«

»Hight hat anscheinend versucht, sie zu küssen und ihr an die Brust zu grapschen. Aber er war nicht sicher.«

»Die Häuser stehen doch nebeneinander. Warum war er nicht sicher?«.

»Hights Einfahrt befindet sich auf der anderen Seite des Hauses. Dort steht die Eiche, und außerdem war es dunkel. Jacob saß bei Licht in seinem Zimmer und las ein Buch. Zeugenaussagen sind schon mittags aus drei Metern Entfernung ziemlich unzuverlässig. Das wissen Sie genauso gut wie ich.«

»Aber sie waren Freunde. Sie hatten etwas miteinander. Warum hat er sich nicht vergewissert, ob alles in Ordnung ist?«

»Sie hatten Streit. Die Nachrichten auf der Mailbox und die SMS aus diesen beiden Wochen waren echt. Er hat eine Weile gebraucht, um über seinen eigenen Schatten zu springen. Als er endlich rübergegangen ist, war das Auto weg. Niemand hat aufgemacht. Am nächsten Tag hat er sie mit einer Freundin gesehen, und es schien alles in Ordnung zu sein. Die Lage zwischen ihm und Lily war noch immer angespannt, und er bekam nie Gelegenheit, sie zu fragen, was denn eigentlich passiert sei.«

»Die Freundin war doch sicher Julia Hackford. Die hat nie vor Gericht ausgesagt.«

»Weil sie nichts zu sagen hatte. Ich hatte den Eindruck, dass sie und Lily zwar viel Zeit miteinander verbrachten, aber kein sehr vertrautes Verhältnis hatten. Deshalb glaubte ich auch, dass da etwas mit Hight lief. Seine Tochter hat nämlich nie von zu Hause geredet. Nicht mit Hackford. Nicht einmal mit Jacob. Laut Jacob hat sie das Thema ausdrücklich gemieden.«

»Also haben Sie beim Prozess Andeutungen fallen gelassen und sind dann wieder zurückgerudert.«

Paladino ging zum Stuhl und griff nach der Gedenktasse. »Mir waren die Hände gebunden. Ich konnte keine alternative Theorie vertreten, ohne meinem Mandanten zu schaden. Wir standen mit dem Rücken zur Wand.«

»Bis die DNA-Proben verschwunden sind.«

»Richtig«, erwiderte er. »Das hat alles verändert. Deshalb hat dieser Prozess auch aus drei Teilen bestanden.«

»Wie haben Sie von den DNA-Proben erfahren?«

»Ein anonymer Tipp. Ich bekam ihn am Ende der ersten Woche. Zunächst habe ich dem Braten nicht getraut, und außerdem hatten wir ja schon selbst eingeräumt, dass das Sperma von Jacob stammte. Doch dann habe ich mir am Wochenende ein paar Gedanken darüber gemacht. Nicht darüber, wie das Labor die Proben verschlampt haben könnte, sondern warum. Warum sind ausgerechnet die Beweisstücke verschwunden, die meinen Mandanten belasteten? Alles andere war nämlich noch an seinem Platz. Die Bluse und das T-Shirt mit Lilys Blut. Der Schraubenzieher, der als Mordwaffe benutzt worden war. Die Blutproben, die der Kriminaltechniker achtlos behandelt und in der Einfahrt vor dem Transporter fallen gelassen hatte. Weshalb hat das Labor ausschließlich die Beweise gegen Jacob verloren?«

»Sie wissen ja, dass man das auch andersherum deuten könnte, Buddy.«

»Und wie?«

Lena zuckte die Achseln.

»Sie haben es ja selbst ausgesprochen. Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Die Staatsanwaltschaft hatte Ihnen in einem Ihrer wichtigsten Prozesse die Luft abgedreht. Das Leben Ihres Mandanten stand auf dem Spiel. Und Sie, nicht etwa die Gegenseite, haben am meisten von den Patzern im Labor profitiert. Also könnten genauso gut Sie die Finger im Spiel haben.«

Paladino lachte auf, erhob sich und öffnete einen Schrank. Lena erkannte eine kleine Hausbar, zu der auch ein Weinregal gehörte. Paladino wählte eine Flasche Scotch aus und bot ihr ein Glas an. Als sie ablehnte, schenkte er sich ein Glas ein und nahm einen kleinen Schluck.

»Ich wusste, dass sich das Blatt zu unseren Gunsten wenden konnte«, antwortete er. »Aber ich war noch nicht so weit. Mich interessierte noch immer der Grund. Und ich war nicht mehr bereit, der Argumentation zu folgen, dass es sich um Jacobs Sperma handelte. Ich wollte die Sache von einem unabhängigen Labor überprüfen lassen.«

»Was Ihr gutes Recht, aber auch unmöglich war, da sich die Proben ja in Luft aufgelöst hatten. Wie haben Bennett und Watson reagiert, als Sie den Antrag bei Gericht stellten?«

»Sie behaupteten, nichts von dem Missgeschick zu wissen, doch das war eindeutig nur Theater. Und sie hatten Angst. Als ich das erkannt habe, bin ich erst recht argwöhnisch geworden.«

»Und wie finden Sie die beiden?«, fragte Lena.

Nachdenklich trank Paladino noch einen Schluck Scotch.

»Ich bin nicht begeistert«, erwiderte er. »Wäre es vulgär zu sagen, dass Bennett den Schwanz nicht in der Hose behalten kann?«

Lena schmunzelte.

»Es ist doch nur ein Gerücht, dass die beiden eine Affäre haben.«

»Nur ein Gerücht? Aber, Lena. Die Staatsanwaltschaft hat eine Suite im Bonaventura angemietet, damit niemand während laufender Verhandlungen nach Hause fahren muss. Als ich mit Bennett etwa einen Monat vor Prozessbeginn eine Frage wegen einer eidesstattlichen Versicherung besprechen wollte, teilte man mir mit, er und Watson äßen im Hotel zu Mittag. Also habe ich die Rezeption angerufen, worauf ich vom Restaurant nach oben in die Suite durchgestellt wurde. Watson hat abgehoben. Sie wissen ja, dass man am Tonfall eines Menschen erkennt, ob er gerade liegt.«

»Ja.«

»Nun, Watson lag auf dem Rücken.«

Sie lachten beide kurz auf.

»Ich habe das als Vorteil betrachtet«, fuhr Paladino fort. »Dass die beiden abgelenkt waren, konnte doch nur gut für uns sein. Es wundert mich allerdings, dass Bennett schon so lange mit ihr zusammen ist, obwohl er Frau und Kinder hat. Ich habe ihn eigentlich eher als oberflächlichen Menschen eingestuft, der eine Cheerleaderin an seiner Seite braucht, die ihm ständig versichert, dass er kein Arschloch ist.«

Paladinos Abneigung gegen diesen Mann waren offensichtlich. Lena versuchte, die Dinge von seiner Warte aus zu sehen. Bennett und Watson hatten sich ihres Sieges in dem angeblich so todsicheren Prozess schon sicher gewähnt und waren deshalb achtlos geworden. Vermutlich hatten sie arglos die Aufmerksamkeit der Medien, das Rampenlicht und den Beifall der Öffentlichkeit ausgekostet und im Bonaventura nach Herzenslust gevögelt, überzeugt, dass dieser sensationelle Fall ihre Karriere auf die Überholspur katapultieren würde.

Doch schließlich hatte Paladino recht behalten. Steven Bennett war eben einfach zu oberflächlich.

Die Verteidigung hatte eine unabhängige Untersuchung der an Lilys Leiche sichergestellten Spermaproben gefordert – und die beiden Staatsanwälte konnten die Beweisstücke nicht liefern, wodurch alles ans Licht kam. Paladino hatte die Schwachstelle entdeckt und, was noch wichtiger war, gewusst, wie er die Sache angehen musste. Nicht mehr Jacob Gant stand vor Gericht, sondern Bennett, Watson und die Polizei von Los Angeles.

Lena malte sich aus, wie sich Paladino im Gerichtssaal hinter seinem Mandanten in Positur geworfen hatte. Sie sah seine Hand auf Gants Schulter und hörte, wie er mit sanfter Stimme alles offenlegte:

Wenn Sie jemandem eine Tat anlasten und erreichen wollen, dass eine Zeitung das druckt, brauchen Sie mindestens zwei Quellen, die Ihre Vermutung bestätigen. Nur dann kommt eine Geschichte in die Presse. Wenn zwei Quellen es belegen. Nur dass wir hier nicht von einem Zeitungsartikel reden. Wir haben uns heute in diesem Gerichtssaal versammelt, weil es um Leben oder Tod geht. Und deshalb brauchen wir auch jetzt zwei Quellen, die sagen, dass es wirklich so geschehen ist. Wir brauchen eine Bestätigung, und zwar jetzt. Um einen jungen Mann für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen oder ihm gar eine Nadel in den Arm zu bohren und ihm das Leben zu nehmen. Wenn man ihn hinrichtet, muss man genau wissen, was er getan hat. Man darf es nicht nur glauben, hoffen, annehmen oder die Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abwägen und dann aus dem Bauch heraus entscheiden. Man muss Gewissheit haben. Absolute Gewissheit, so sicher wie die Tatsache, dass die Erde rund ist und dass die Sonne im Osten aufgeht. Sie brauchen Beweise. Ohne Beweise können Sie niemanden schuldig sprechen, und das heißt, dass Sie ihn auch nicht verurteilen können.

»Alles in Ordnung, Lena?«

Sie kehrte wieder in die Wirklichkeit zurück. Paladino saß inzwischen auf dem anderen Sofa und musterte sie besorgt.

»Alles bestens«, erwiderte sie. »Ich habe nur nachgedacht.«

»Gar nichts ist bestens«, widersprach er. »Meiner Ansicht nach haben Sie ein riesengroßes Problem an der Backe, bei dem ich Ihnen nicht helfen kann. Lily Hight wurde von einem Ungeheuer vergewaltigt und ermordet. Der Täter läuft noch frei herum. Und alle in der Staatsanwaltschaft wissen das.«

Lena traute ihren Ohren nicht.

»Was sagen Sie da?«

»Higgins, Bennett, Watson, sie stecken alle unter einer Decke, Lena. Denen war schon immer klar, dass Jacob Gant unschuldig war. Und zwar bereits vor der Gerichtsverhandlung.«

Einen Moment herrschte bedeutungsschweres Schweigen. Lena musterte Paladino prüfend. Inzwischen lächelte er nicht mehr, und sie merkte ihm an, dass er weder mit ihr spielte noch sie auf die Probe stellen wollte. Nein, nun wusste sie, warum er überhaupt gewillt gewesen war, mit ihr zu sprechen. Als ihr die Tragweite seiner Worte allmählich klar wurde, wollte sie etwas darauf antworten. Doch ihre Stimme klang heiser und gepresst.

»Das ist doch völlig absurd, Buddy.«

»Ich an Ihrer Stelle hätte den Ausdruck geisteskrank benutzt.«

Er ging zum Schreibtisch und kehrte mit einem Ordner zurück, den er Lena reichte.

»Wir haben den Lügendetektortest nicht nur beantragt, Lena, sondern regelrecht darum gebettelt. Als die sich weiterhin strikt geweigert haben, habe ich in Eigenregie jemanden beauftragt. Einen Fachmann, der meiner Ansicht nach den Respekt der Behörden genießt und auf den die Staatsanwaltschaft sicher hören würde. Einen Mann, dem alle vertrauen.«

Lena klappte hastig die Akte auf und überflog den Bericht. Als sie feststellte, dass der Test von Cesar Rodriguez durchgeführt worden war, wuchs ihr Entsetzen. Bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr hatte Rodriguez nämlich als der beste forensische Psychophysiologe des SID gegolten. Im Laufe der Ermittlungen wegen der berüchtigten Romeo-Morde vor einigen Jahren hatte man Rodriguez eigens dazu auserkoren, die Unschuldigen aus der Liste der Verdächtigen herauszufiltern.

Paladinos nächste Worte bekam Lena nicht mit.

Sie las den Bericht weiter und musste schwer schlucken. Rodriguez hatte Jacob Gant fünfzehn Fragen gestellt – und nichts, aber auch gar nichts hatte darauf hingewiesen, dass er log. Die Fragen waren eindeutig und deckten alle einschlägigen Punkte ab. Nachdem Lena die Ergebnisse studiert hatte, blätterte sie zu Rodriguez’ Schlussfolgerungen zurück: Jacob Gant war in Lily Hight verliebt gewesen. Seine Wut und Eifersucht hatten zwei Wochen, und zwar wirklich nur zwei Wochen lang, angedauert. Am Nachmittag ihres Todes hatte er sich mit ihr versöhnt. Er hatte am frühen Abend mit ihr geschlafen. Und er hatte ihr kein einziges Mal Schmerzen zugefügt, geschweige denn sie geschlagen, sie vergewaltigt oder sie erstochen. Als er Lily Hight am besagten Abend verlassen hatte, hatte sie quicklebendig in der Küche gestanden.

Hätte Lena die Resultate dieses Lügendetektortests in die Hände bekommen, sie hätte Gant sofort auf freien Fuß gesetzt und sich nie wieder den Kopf über ihn zerbrochen – genauso wie jeder andere Detective, mit dem sie je zusammengearbeitet hatte.

Sie blickte von dem Bericht auf und sah Paladino an, der Mühe hatte, seinen Zorn zu beherrschen und sich seine Erbitterung nicht anmerken zu lassen.

»Haben Sie der Staatsanwaltschaft diesen Bericht vorgelegt?«, fragte Lena.

»Ja«, erwiderte er leise. »Ich habe jedem der drei eine Kopie geschickt.«

»Wann?«

Er biss die Zähne zusammen.

»Sechs Wochen vor Prozessbeginn.«

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