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Die Sitzung war rasch zu Ende. Higgins folgte dem Polizeichef noch auf den Flur hinaus und flehte ihn um ein Gespräch unter vier Augen an – eine Bitte, die, wie Lena wusste, niemals erhört werden würde. Bennett und Watson waren geblieben, um mit Vaughan zu reden. Lena konnte sie durch die Glasscheibe sehen, als sie an einem freien Schreibtisch im Großraumbüro das Telefon auflegte. Sie hatte sich vergewissern wollen, dass alle parat standen, während Barrera sich erkundigte, wie weit die richterlichen Anordnungen gediehen waren. Außerdem hatte Lena in der Kriminaltechnik angerufen und sich vorläufig bestätigen lassen, dass Jacob Gant mit einer Pistole vom Kaliber neun Millimeter erschossen worden war. Da beide Geschosse, als sie durch den Schädel schlugen und in die Wand eindrangen, zersplittert waren, ließ sich eine genaue Bestimmung erst vornehmen, wenn der Rechtsmediziner die übrigen Kugeln aus den Leichen der Opfer entfernt hatte. Mit ein wenig Glück waren sie im Gewebe stecken und dadurch unversehrt geblieben. Die beiden Autopsien, die gleichzeitig stattfanden, waren für den frühen Abend angesetzt.
Lena notierte sich die Zeit und beobachtete Vaughan durch die Scheibe. Sein Gespräch mit Bennett und Watson schien nicht freundschaftlich zu verlaufen. Lena beugte sich wieder über die Liste in ihrem Notizbuch.
Der Trupp, der sich auf den Weg zu Hights Haus machte, setzte sich neben Barrera noch aus sechs weiteren Detectives aus der Abteilung zusammen. Joe Carson und John Street hatten die meiste Erfahrung mit schwierigen Fällen, waren mit allen Wassern gewaschene Mordermittler und für ihre Gründlichkeit berüchtigt. Außerdem wurde eine Mannschaft alteingesessener Kriminaltechniker vom SID erwartet. Drei Streifenwagen hatten vor dem Haus auf der Straße Posten bezogen. Laut Aussage des Einsatzleiters hatten Tim Hight und William Gant in der letzten Nacht der Versuchung widerstanden, einander an die Gurgel zu gehen. Hight war in seinem Sessel am Fenster eingeschlafen, Gant auf dem Küchenfußboden.
Die Situation war mehr als tragisch. Doch Lena versuchte, sich nicht das Hirn zu zermartern, sondern hörte zu, wie Barrera sein Telefonat mit Abe Hernandez, dem neuen Assistenten des Polizeichefs, beendete.
»Der Richter hat mitgespielt«, verkündete er. »Die Anordnungen sind unterzeichnet. Wahrscheinlich hat es nicht geschadet, dass die Sache über das Büro des Polizeichefs gelaufen ist. Sind Sie bereit, Lena?«
»Sobald Hernandez mit den Papieren hier ist, geht es los.«
»Gut«, erwiderte er.
Barrera verließ das Großraumbüro und ging zu seinem Schreibtisch am anderen Ende der Etage. Lena schaute auf die Uhr, ihr blieben noch zehn bis zwanzig Minuten. Während sie auf die verbeulte Kaffeemaschine auf der Theke starrte, ging sie die verschiedenen Alternativen durch. Allmählich machten sich die versäumten Stunden Schlaf von letzter Nacht bemerkbar, doch ein Abstecher ins Blackbird Café kam nicht in Frage, weil sie dringend mit Vaughan sprechen musste. Also warf sie noch einen Blick auf die Glaskanne, schenkte sich eine Tasse ein und trank einen kleinen Schluck. Das zähflüssige Gebräu schmeckte, als stünde es bereits seit ein oder zwei Wochen auf der Warmhalteplatte. Vermutlich hatte es sogar Chancen auf den Titel »miserabelster Kaffee seit Menschengedenken«. Doch das spielte jetzt keine Rolle. Lena brauchte nur den Koffeinkick. Also nahm sie noch einen Schluck und wartete, bis sich die Wirkung einstellte. Dann ging sie zum Büro des Captain und riss die Tür auf, ohne anzuklopfen.
Bennett und Watson drehten sich so schnell um, dass Lena noch das abfällige Grinsen auf ihren Gesichtern sah, bevor sie wie auf Kommando ein strahlendes Lächeln anknipsten. Offenbar hatte Lena die beiden richtig eingeschätzt. Allerdings achtete sie nicht auf sie und blickte Vaughan an, der sich über die Unterbrechung zu freuen schien. Dann wandte sie sich wieder Bennett zu, als dieser das Wort ergriff.
»Wir haben gerade mit Greg geredet«, sagte er in aalglattem Ton. »Falls wir Ihnen irgendwie helfen können, sind wir für Sie da. Wahrscheinlich heißt das, dass wir den Mund halten und Ihnen nicht im Weg rumstehen sollen. Aber wenn Sie Unterstützung brauchen, können Sie sich auf Debi und mich verlassen.«
Bennett ist gut, dachte Lena. Nur nicht gut genug, um zu gewinnen.
Watson trat vor und hielt Lena die Hand hin.
»Betrachten Sie uns einfach als stille Teilhaber, Detective. Sollten Sie Hintergrundinformationen zum Prozess brauchen, bin ich natürlich gerne bereit, Ihnen unsere Beweisführung zu erläutern.«
Obwohl jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt für solche albernen Spielchen war, bedankte Lena sich artig, wobei sie sich Mühe gab, nicht auf Watsons Brüste zu starren. Ob sie echt waren oder nicht, konnte sie nicht feststellen, und eigentlich war es ihr auch egal.
Schließlich nickten die beiden Vaughan noch einmal zu und verdrückten sich hastig. Lena hatte den Eindruck, dass sie, von einem Schauder durchzuckt, losrannten, sobald sie die Ecke im Flur erreicht hatten.
Lena schloss die Tür.
»Reizende Zeitgenossen.«
Vaughan bedachte sie mit einem Blick. Schließlich kannten sie sich nicht. Als er verstand, was sie meinte, zwang er sich zu einem Lächeln, was ihm nicht ganz gelang.
»Wirkliche Sympathieträger«, erwiderte er. »Insbesondere jetzt, da sie glauben, einen Weg gefunden zu haben, um sich aus der Affäre zu ziehen.«
»Und dieser Weg sind Sie«, antwortete Lena.
»Wir sitzen doch im selben Boot, oder?«
»Ja und nein.«
Nachdenklich ging er zum Fenster und blickte hinaus auf die Stadt.
»Vermutlich haben Sie recht«, entgegnete er. »Die zwei haben mir gerade eröffnet, dass sie bei der Pressekonferenz nicht anwesend sein werden. Higgins ist ebenfalls verhindert.«
»Zumindest verhalten sie sich vorhersehbar.«
Vaughan zuckte die Achseln.
»Als ich hörte, dass Gant ermordet worden ist, habe ich mir so etwas schon gedacht.«
Er trug einen hellbraunen Anzug, ein gestärktes weißes Hemd und eine rote Krawatte mit dünnen goldenen Streifen. Obwohl er eleganter wirkte als die meisten hier, schien ihn der Schlamassel bereits ziemlich mitgenommen zu haben. Lena trat zu ihm ans Fenster und spähte die Straße entlang zu dem neuen Gebäude, das demnächst das Polizeipräsidium von Los Angeles beherbergte. Die Bauarbeiten waren zwar beendet und der Umzug stand in einem Monat an, doch es hatte noch keinen Namen, da der Stadtrat sich auf keinen einigen konnte.
»Mir ist da was zu Ohren gekommen«, sagte Vaughan in einem etwas entspannteren Ton. »Nicht über Ihr neues Domizil, sondern die Zentrale, die letztes Jahr im Valley gebaut worden ist. Die Baufirma hat Murks gemacht und die verspiegelten Scheiben in den Vernehmungszimmern verkehrt herum eingesetzt. Das heißt, jeder hätte uns sehen können, aber wir ihn nicht. Stimmt das wirklich?«
Lena bemerkte Vaughans Grinsen und schmunzelte.
»Sie haben es vor der Eröffnung repariert.«
»Und in Ihrem neuen Laden?«
»Diesmal hat die Baufirma es richtig hingekriegt. Ich habe das überprüft.«
Er wandte sich vom Fenster ab, lehnte sich ans Fensterbrett und betrachtete den Konferenztisch, als ließe er die Sitzung noch einmal Revue passieren – und als verstünde er endlich, was ihm blühte, und hielte den Zeitpunkt für gekommen, die Dinge in Ordnung zu bringen. Sein Ärger verrauchte, und ein Funkeln kehrte in seine Augen zurück.
»Wie wollen Sie anfangen?«, fragte sie.
»Das weiß ich noch nicht.«
»Schauen wir erst mal, wie es bei Hight läuft.«
Vaughan nickte.
»Inzwischen hatte er Zeit zum Nachdenken. Vielleicht hat er ja das Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden.«
»Oder wir finden die Waffe.«
Vaughan klappte seinen Aktenkoffer auf.
»Ich bin in meinem Büro«, sagte er. »Wahrscheinlich werde ich einen Tag brauchen, um meine Fälle durchzuarbeiten und meinen Terminkalender freizuräumen. Wir sollten uns treffen, sobald Sie zurück sind.«
Sie tauschten Visitenkarten aus. Im nächsten Moment öffnete sich die Tür, und Barrera kam herein. Er schwenkte ein Bündel Papiere.
»Hier sind die richterlichen Anordnungen«, verkündete er. »Dann also los.«