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Persönliche Probleme …
Inzwischen wusste sie, warum Cobb vor der Tür gestanden und mit dem Kleingeld in seinen Hosentaschen geklimpert hatte. Ihren Ausweis zu kontrollieren war nichts als ein Spielchen gewesen.
Lena schob den Gedanken beiseite und drehte die Lautstärke ihres Mobiltelefons hoch. Es war Vaughan, der sie zurückrief, doch sie konnte ihn kaum verstehen.
»Wo sind Sie?«, fragte sie.
»Ich suche Sie im zweiten Stock. Barrera sagt, Sie seien gerade weg.«
»Ich bin gegenüber im Parkhaus«, antwortete sie.
»Und was machen Sie da?«
»Ich warte auf den Schichtwechsel, um jemanden zu finden, der mich nach Hause fährt.«
»Ich bin in fünf Minuten da.«
Sie ging zum Wachhäuschen und schob den Schlüssel des Crown Vic durch den Spalt im Fenster. Es wäre unsinnig gewesen, mit dem Auto nach Hause zu fahren. Beck hatte angerufen; ihr TSX war unterwegs von der Westside hierher. Nach dem heutigen Abend hatte sie ihre Anonymität zurück. War unsichtbar.
Sie teilte dem Wachmann mit, sie habe das Auto in der ersten Etage abgestellt, und nannte ihm die Stellplatznummer. Der alte Mann lächelte und schaute achselzuckend an ihr vorbei. Obwohl die Klimaanlage in seinem Verschlag zu laut ratterte, um ein Gespräch zu führen, verstand sie ihn auch ohne Worte.
Es war spät und heiß, und der Sommer kam drei Monate zu früh.
Sie spähte über die Straße. Vaughan trat gerade aus dem Gebäude und steuerte auf die Besucherstellplätze auf dem Chefparkplatz zu. Bei einem offenbar aufgemotzten Ford angekommen, entdeckte er Lena auf dem Gehweg, winkte und wendete den Wagen, um sie abzuholen. Wenige Minuten später fuhren sie auf dem Freeway in Richtung Hollywood Hills. Lena machte es sich auf dem Ledersitz bequem, lauschte dem Surren des Motors und betrachtete Vaughans Profil im gedämpften Schein der Armaturen.
»Wie schlimm war es?«, fragte sie.
»Die Pressekonferenz? Da haben wir größere Probleme, Lena.«
»Ich dachte eher an Higgins. Ich habe ihn in der Rechtsmedizin dabei beobachtet, wie er jemanden am Telefon zur Schnecke gemacht hat, und schon befürchtet, das könnten Sie gewesen sein.«
Vaughan grinste sie müde an.
»Keine Sorge. Ich habe mir meine Standpauke vor einer Viertelstunde persönlich abholen dürfen. Wir haben in seinem Büro ein wenig geplaudert. Nachdem er endlich fertig war, hatte ich gehofft, Sie zu finden.«
»Ich habe Cobb getroffen«, sagte sie.
»Das hat Higgins mir erzählt.«
Inzwischen fuhren sie durch Echo Park. Während Lena den See betrachtete, berichtete sie von ihrem Gespräch mit Cobb im Vernehmungszimmer. Als sie die Ausfahrt Beachwood erreicht hatten und die Gower Street hinauf in die Hügel nahmen, hatte sie Vaughan so gut wie den ganzen Inhalt der Mordakte geschildert. Das Foto von Jacob Gant, das Lena in der Schatulle neben Lily Hights Bett gefunden hatte und das Cobb bei seinen Ermittlungen durch die Lappen gegangen war, schien ihn besonders zu interessieren. Vaughan zog daraus genau dieselben Schlüsse wie sie.
Niemand würde das Foto eines Menschen, von dem er sich belästigt fühlte, neben seinem Bett aufbewahren. Und deshalb ergab Hights Behauptung, Gant habe seiner Tochter nachgestellt, auch keinen Sinn.
Die Straße wurde steiler, je tiefer man in die Hügel kam. Als sie um die letzte Kurve fuhren, wies Lena auf ihre Einfahrt, und Vaughan bog ab. Lena sah den TSX vor ihrer Garage stehen – der graue Metalliclack schimmerte im Licht der Außenbeleuchtung. Beck hatte das Auto wie versprochen geliefert. Obwohl der TSX zwei Jahre alt war, wirkte er, als sei er gerade vom Band gerollt.
Sie wandte sich um, während Vaughan an der Garage vorbeirollte und stehen blieb. Er ließ Motor und Klimaanlage laufen und schien den Anblick des Tals unter ihnen zu genießen. Da die Nacht verhältnismäßig klar war, funkelten die Lichter der Stadt in der Hitze bis hinunter nach Long Beach.
»Möchten Sie reinkommen?«, fragte sie.
Er lockerte seine Krawatte und bewunderte weiter die Stadt am Fuße des Hügels.
»Können wir das vertagen?«, erwiderte er. »Ich habe diese Woche die Kinder und muss nach Hause, damit das Kindermädchen Feierabend machen kann. Vielleicht kann ich ihnen dann noch ein oder zwei Stunden lang beim Schlafen zuschauen.«
»Ich verstehe.«
Vaughan verstummte und schien nicht mehr die Aussicht zu bewundern, sondern über etwas nachzudenken. Nach einigen Minuten drehte er sich zu ihr um.
»Als Higgins mir heute Abend nach der Autopsie die Leviten gelesen hat, hat er mir von Cobbs Anruf bei Bennett erzählt. Ich fand das seltsam. Warum hat Cobb nicht mit seinem Vorgesetzten geredet, wenn er ein Problem damit hatte, die Fallakte weiterzugeben.«
»Das dachte ich auch«, erwiderte Lena.
»Und warum sollte er überhaupt ein Problem haben? Von seiner Warte aus müsste der Fall doch schon längst Schnee von gestern sein.«
Lena nickte.
»Wenn es für ihn mit dem Urteil noch nicht vorbei war, hätte er spätestens letzte Nacht einen Schlussstrich ziehen müssen.«
Vaughan lehnte sich an die Tür und sah Lena an.
»Es gab da einen Fall in New York. Suffolk County, Long Island. Die Umstände waren ziemlich ähnlich, Lena. Einem Siebzehnjährigen wurde vorgeworfen, seine Eltern aus Geldgier umgebracht zu haben. Der Detective war ein alter Kämpe und dafür bekannt, dass er Verdächtige auch mal ein bisschen härter anfasste. Der Oberstaatsanwalt hat ihn unterstützt, genau wie Higgins. Die Anklagevertreter sind dem Beschuldigten an die Gurgel gesprungen wie Bennett und Watson. Leider hatte der Junge das Pech, keinen Verteidiger vom Format eines Buddy Paladino zu haben. Deshalb hat er sein halbes Leben wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, im Gefängnis verbracht.«
»Sie sagen, die Umstände wären die gleichen gewesen.«
»Die Herangehensweise des Detective und seine Fehler erinnern mich an Cobb. Die Familie war wohlhabend, das Kind adoptiert. Und so kam der Kollege sofort zu dem Schluss, dass Habgier das Motiv sein musste. Der Junge hat gefleht, einen Lügendetektortest machen zu dürfen, doch der Detective hat sich geweigert. Er glaubte, der Wissenschaft überlegen zu sein. Genau wie Cobb. Ein Blick auf den Jungen und er wusste Bescheid.«
Lena wurde klar, dass Vaughan über den Fall Marty Tankleff sprach. Die Medien hatten zwar schon ein oder zwei Jahre lang nicht mehr darüber berichtet, doch einen aufsehenerregenden Mord wie diesen vergaß man nicht so leicht. Tankleffs Mutter hatte man auf dem Badezimmerboden aufgefunden, erstochen und beinahe enthauptet. Sein Vater war ebenfalls mehrfach mit dem Messer verletzt und schwer zusammengeschlagen worden. Nachdem er nach über einem Monat im Koma gestorben war, hatte man dem jungen Mann zwei Morde zur Last gelegt. Lena konnte sich gut vorstellen, dass die Grausamkeit der Verbrechen das Urteilsvermögen des Detective getrübt hatte. Und da sie die Tatortfotos der am Boden aufgespießten Lily Hight kannte, erschien es ihr gar nicht so abwegig, dass es bei Cobb genauso abgelaufen sein könnte. Beide Detectives hatten voreilige Schlussfolgerungen gezogen. Sie hatten sich auf ihre Verdächtigen eingeschossen, ohne sich die Mühe zu machen, weitere Personen zu befragen, die ihnen vielleicht tiefere Einblicke liefern und ihren Horizont hätten erweitern können.
Vaughan musterte sie.
»Sie wissen doch, wovon ich rede, oder? Sie kennen den Fall.«
»Ich habe davon gelesen«, antwortete Lena. »Marty Tankleff war noch minderjährig. Das Motiv ergab keinen Sinn, weil er das Geld in den nächsten acht Jahren nicht zu Gesicht bekommen hätte.«
»Dann verstehen Sie ja, worauf ich hinauswill. Der Detective hat mehr übersehen als mitbekommen. Und die Ankläger haben sich den Fall nach ihrem Gutdünken zurechtgebogen. Als man ihnen die Fakten unter die Nase hielt, eindeutige Beweise, die auf den wahren Täter hindeuteten, haben sie sich geweigert anzuerkennen, dass sie sich geirrt hatten. Jeder weiß, wer die Tankleffs umgebracht hat – mit Ausnahme der Leute, die es eigentlich wissen sollten. Und deshalb ist der Mörder noch auf freiem Fuß.«
»Als ich noch bei der Mordkommission in Hollywood war, hat mein Partner das immer als ›Tunnelblick‹ bezeichnet.«
Vaughan betrachtete sie nachdenklich.
»Da hatte Ihr Partner recht. Allerdings könnte hier noch mehr dahinterstecken, und das ist Ihnen sicher klar, Lena. Wir sind hier in Los Angeles. Andere Akteure, andere Umstände und ein Einsatz, der um einiges höher ist. Aber mir ist es egal, was die reden und wie laut sie es herumposaunen. Und wenn ich noch so viel Wind von vorne kriege: Falls Gant unschuldig war, möchte ich, dass die Welt das erfährt. Und falls Hight seine eigene Tochter umgebracht hat, wird das Arschloch dafür bezahlen.«
Lena beugte den Kopf, damit Vaughan ihre Miene nicht deuten konnte. Er hatte verstanden. Jetzt zogen sie an einem Strang.