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Als sie den Club 3 AM verließen und die Stufen hinuntergingen, schlug ihnen heiße Luft entgegen wie eine Wand. Lena warf Rhodes einen Blick zu, bemerkte sein erschöpftes Lächeln und wies auf den Crown Vic, der im hinteren Teil des Parkplatzes stand.
»Hoffentlich funktioniert in dieser Klapperkiste die Klimaanlage«, sagte er. »Wie kommst du trotz der Mittelkürzungen eigentlich an einen Dienstwagen, den du privat nutzen kannst? Hast du jemanden bestochen?«
Sie wusste, was hinter seiner flapsigen Bemerkung steckte. Die Angehörigen zu verständigen war immer eine heikle Angelegenheit. Und wie sie Jacob Gants Vater erklären sollte, dass sein Sohn heute Nacht ermordet worden war, überstieg derzeit noch ihre Vorstellungskraft.
»Ich habe ihn geklaut«, erwiderte sie. »Vor zwei Tagen, als mein Auto den Geist aufgegeben hat. Bis jetzt ist es keinem aufgefallen.«
Rhodes lachte.
»Die werden es schon noch merken. Und dann kreuzt ein kleiner Mann mit einem Klemmbrett bei dir auf und fragt dich nach deiner Kreditkartennummer. Das ist kein Scherz. Sie werden dich für die Kiste belangen. Und die Kohle geht dann …«
Lena packte Rhodes am Arm, damit er stehen blieb, und musterte den Crown Vic. Im Auto bewegte sich etwas. Trotz der Dunkelheit bestand kein Zweifel: Die miserablen Stoßdämpfer wippten fast unmerklich in der windstillen Nacht, und hinten stand ein Fenster einen Spalt weit offen, um frische Luft hereinzulassen.
»Ich habe abgeschlossen«, flüsterte sie.
»Bist du sicher?«
»Ja, bin ich.«
Nachdem sie einen Blick gewechselt hatten, trennten sie sich. Rhodes schlich mit gezückter Pistole zur Beifahrerseite, während Lena sich der linken hinteren Tür näherte, sich duckte und auf den elektrischen Türöffner drückte. Die Alarmanlage piepste, die Schlösser wurden entriegelt, und die Innenbeleuchtung ging an.
Als Lena durch die getönte Scheibe spähte, erkannte sie auf dem Rücksitz einen Mann, der sich zusammenkauerte. Er blickte sie durch Brillengläser an und versuchte, sein Gesicht unter dem Schirm seiner Baseballkappe zu verstecken.
»Aussteigen!«, rief sie durchs Fenster.
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie sofort aus dem Auto raus, Mister.«
Wieder schüttelte der Mann den Kopf, ohne ein Wort von sich zu geben.
Lena sah seine Hände an, die die Rücklehne des Vordersitzes umklammerten. Als sie keine Waffe entdeckte, nickte sie Rhodes zu, worauf sie gleichzeitig die Türen aufrissen. Der Mann, der erst jetzt merkte, dass Lena nicht allein war, geriet in Panik und begann, wild um sich zu schlagen. Während Rhodes ihn nach hinten zog, schob Lena seine Beine durchs Auto, und sie rangen ihn gemeinsam zu Boden. Der Mann strampelte, zerrte und trat zwar noch immer, aber wenigstens hatten sie ihn erwischt. Rhodes wälzte ihn auf den Bauch, drückte ihm das Knie in die Schulter und presste sein Gesicht gegen den Asphalt. Nachdem Lena ihm Handschellen angelegt hatte, drehten sie ihn wieder um und betrachteten ihn.
Der Mann sah seltsam weich und schwabbelig aus. Sein Anzug und seine Krawatte waren zerknittert und voller Schweißflecken, und seiner Kleidung haftete ein durchdringender Körpergeruch an. Außerdem warf er sich ständig auf dem Boden hin und her. Lena hatte so etwas schon öfter erlebt, und zwar bei Drogenkonsumenten, insbesondere unter dem Einfluß von Ecstasy. Wenn ihre Körpertemperatur anstieg, benahmen sie sich wie lebendige Fische in einer heißen Bratpfanne. Lena beobachtete den Mann, nicht sicher, ob er unter Drogeneinfluss stand oder nur vor Wut schäumte. Jedenfalls war der Boden hart, weshalb seine Kapriolen schmerzhaft sein mussten.
Als Lena die Hand ausstreckte, um ihm die Stirn zu fühlen, versuchte er, sie zu beißen, worauf sie die Hand wieder wegzog und sich über ihn beugte.
»Haben Sie auch einen Namen, Mister?«, schrie sie ihn an.
Aber er schüttelte nur wieder den Kopf und stieß unartikulierte Geräusche aus. Es klang verdächtig nach einer Aufforderung, sie solle sich verpissen.
Lena warf Rhodes einen Blick zu.
»Für so was haben wir jetzt keine Zeit, Stan.«
Rhodes stimmte zu, und so fingen sie an, die Taschen des Mannes zu durchsuchen, wobei sie seine Sachen so schnell wie möglich beiseitewarfen. Als Lena seine Brieftasche entdeckte, die dicker zu sein schien als gewöhnlich, klappte sie sie auf und stieß auf eine Reihe von Presseausweisen. Nachdem sie die Papiere überprüft hatte, verglich sie das Gesicht des Mannes mit dem auf den Fotos. Mit Baseballkappe und Brille hatte sie ihn nicht erkannt, konnte nun jedoch eine Ähnlichkeit feststellen.
»Wer ist er?«, fragte Rhodes.
Als sie den Ausweis hochhielt, huschte ein furchtsamer und unsicherer Ausdruck über das Gesicht des Mannes. Rhodes warf einen Blick auf das Dokument und fing zu lachen an.
Der Mann, der sich vor ihnen auf dem Boden wand, war Dick Harvey, ein abgewrackter Klatschreporter von Bettgeflüster aus Hollywood. Sieben Abende die Woche suhlte sich Bettgeflüster aus Hollywood im Dreck und verhieß seinen Zuschauern weitere dreißig Minuten im Schlafzimmer ihrer Lieblingsstars. Vermutlich führte die Fernsehsendung in Kombination mit der dazugehörigen Website auf Dauer zum Absterben von Gehirnzellen.
»Dick Harvey«, stellte Rhodes mit vor Sarkasmus triefendem Tonfall fest. »Ignoriert eine Polizeiabsperrung und bricht während laufender Mordermittlungen in ein Dienstfahrzeug ein. Mann, Sie sind mir echt eine Nummer.«
Inzwischen hatte Harvey sich beruhigt und die Sprache wiedergefunden. Allerdings verlief seine Genesung so reibungslos, dass Lena sich fragte, ob sein Krampfanfall von vorhin nicht nur schlechte Schauspielerei gewesen war.
»Aber Leute«, flehte er sie nun an. »Sie müssen doch verstehen, in welcher Lage ich bin.«
Rhodes lachte wieder auf.
»Schon kapiert, Harvey. Sie sind in geheimer Mission unterwegs und arbeiten verdeckt. Trotzdem hätte ich nur zu gerne ein Autogramm von Ihnen. Ich kann es kaum erwarten, es unter Ihren Fingerabdrücken zu sehen, nachdem Sie erkennungsdienstlich behandelt worden sind. Vergessen Sie nicht, beim Fotografieren zu lächeln. Ich wette, das wird sich rumsprechen wie ein Lauffeuer.«
»Aber ich muss meinen Redaktionsschluss schaffen. So haben Sie doch Nachsicht. Ich bin ja nur hinter einer Story her.«
Lena war mit ihrer Geduld am Ende.
»Sie waren«, entgegnete sie. »Was hatten Sie in meinem Auto zu suchen? Was führen Sie im Schilde?«
Inzwischen hatte Harvey einen Quengelton angeschlagen.
»Das war nur eine Verwechslung. Es war schon spät, und ich hatte mich total verfranzt. Warum machen Sie so einen Aufstand? Ich arbeite doch nur an einer Story, Leute. Jacob Gant ist tot, richtig? Lily Hights alter Herr hat ihm die Rübe weggepustet. Es ist doch Ihr Fall, oder, Lena?«
Während Lena ihn musterte, rastete etwas in ihrem Verstand ein. Die Mütze und die Brille. Das plötzliche Fragenbombardement. Dass er sie beim Vornamen ansprach. Dieser schleimige kleine Reporter markierte trotz Handschellen noch den großen Maxe und glaubte, sie interviewen zu können.
»Sie stinken zum Himmel, Harvey«, erwiderte sie. »Duschen Sie und ziehen Sie sich etwas Sauberes an. Und was soll das mit der Mütze und der Sonnenbrille? Was haben Sie vor?«
Als sie nach seiner Brille griff, zog er ruckartig den Kopf weg.
»Ach, ficken Sie sich doch ins Knie. Ich will einen Anwalt.«
Mit diesen Worten schenkte er ihnen ein breites Grinsen, als hätte er gerade die Zauberformel ausgesprochen. So, als bestimme er, wo es langging.
Ich will einen Anwalt.
Rhodes hörte schlagartig auf zu lächeln und packte ihn am Kragen.
»Den werden Sie auch brauchen, Harvey. Falls Sie mich beißen sollten, können Sie sich auch gleich ein paar neue Zähne anschaffen. Und jetzt Mund halten und keine Bewegung.«
Lena riss ihm die Brille von der Nase und warf Rhodes die Baseballkappe zu. Schon im nächsten Moment war ihr klar, dass sie richtig geraten hatte: Beide Gegenstände waren mit einem Gerät für Video-und Audioaufnahmen verkabelt. Offenbar hatte Harvey gehofft, dass er im Auto unbemerkt bleiben würde. Zumindest so lange, bis er einen reißerischen Beitrag für die morgige Ausgabe von Bettgeflüster in Hollywood im Kasten hatte.
»Ich will einen Anwalt«, wiederholte er. »Und zwar jetzt sofort.«
Aber Lena reagierte nicht auf die Zauberformel. Inzwischen hatte sie die Kameralinse entdeckt, die in zwei Hälften unterteilt war. Links befand sich der Akku, rechts ein kleiner USB-Stick. Nachdem sie die Energiezufuhr unterbrochen hatte, wandte sie sich zu Rhodes um. Die in der Kappe versteckte Kamera war etwa so groß wie eine Zehn-Cent-Münze und an eine Karte mit großer Speicherkapazität angeschlossen. Rhodes schwenkte die Gerätschaften vor Harveys Nase, als hätte er sie gerade auf der Rennbahn gewonnen.
»Sie sind mir ja ein ganz Schlimmer, Harvey.«
»Ich bin Reporter und habe Rechte. Die Sachen sind mein Eigentum. Ich will einen Anwalt.«
Rhodes schüttelte den Kopf.
»Das klingt zwar wie ein Mantra, wird aber trotzdem nicht wirken, ehe wir den Tatort nicht untersucht haben. Und der Tatort sind Sie, Harvey. Also beantworten Sie meine Frage: Haben Sie unser Auto verwanzt?«
»Ich muss überhaupt nichts sagen. Ich bin Reporter. Wir leben hier in einem freien Land. Und Sie beide sind Arschlöcher.«
»Und ich glaube, dass ich gesehen habe, wie Sie aus dem Gebäude geflohen sind«, entgegnete Rhodes. »Wo haben Sie die Waffe versteckt, Harvey? Was haben Sie in unserem Auto getrieben? Wollten Sie hier die Mordwaffe entsorgen?«
Harvey hielt inne, neigte den Kopf und versuchte, Rhodes’ Miene zu deuten.
»Was soll das heißen?«
Rhodes wechselte einen vielsagenden Blick mit Lena und drehte sich wieder zu dem Reporter um.
»Sie wurden dabei ertappt, als Sie sich auf der falschen Seite einer polizeilichen Absperrrung im Auto eines Detectives verkrochen haben. Vielleicht sitzen Sie ja wirklich auf der Leitung und halten Mordermittlungen für ein Spiel. Sie sind ein Verdächtiger, Harvey, jemand, für den wir uns interessieren.«
»Mit diesem Scheiß können Sie mir nicht kommen. Mensch, Sie wissen doch, dass ich es nicht war.«
»Ich weiß gar nichts«, erwiderte Rhodes. »Nur, dass Sie in diesem Auto waren.«
Furcht zeichnete sich auf Harveys Gesicht ab, während sich in seinem mickrigen Reptiliengehirn unverdrossen kleine Rädchen drehten. Als Rhodes ihn weiter abtastete, betrachtete Lena seine Sachen auf dem Asphalt und bemerkte einen Notizblock mit Stift, ein Mobiltelefon und ein kleines Lederetui, das vermutlich Visitenkarten enthielt. Allerdings schien ihr das Etui auf den zweiten Blick zu groß dafür zu sein. Also griff sie danach und wog es in der Hand. Als sie es öffnete, spürte sie, wie Harvey sie mit seinen Knopfaugen anstarrte. Inzwischen war er mehr als nervös. Außerdem ungewöhnlich still. Er rührte sich nicht.
Nachdem das Etui offen war, verstand sie den Grund, denn es handelte sich um eine umfangreiche Sammlung von Dietrichen und Gerätschaften zum Knacken von Autotüren.
Die meisten dieser Utensilien, die Lena im Rahmen ihrer Tätigkeit unterkamen, waren Heimwerkerarbeit und bestanden aus Sägeblättern. Es dauerte nur wenige Minuten, flache Metallabfälle mit einem Dremel-Schleifer zu einer Art Generalschlüssel zu feilen, der eine Autotür in höchstens ein oder zwei Minuten öffnete. Dick Harveys Ausrüstung war allerdings professioneller. Seine Dietriche bestanden aus Edelstahl, waren Präzisionsarbeit und funktionierten genauso gut wie der Schlüssel des Fahrzeughalters. Lena wusste das, weil sie den gleichen Schlüsselsatz besaß. Sie hatte den Hersteller im Internet entdeckt und den Kauf für zwanzig Dollar zuzüglich Verpackung und Versandkosten getätigt.
Nun hielt sie das Etui hoch und bemerkte das Etikett auf der Rückseite, das die Aufschrift SESAM ÖFFNE DICH trug. Rhodes betrachtete mit funkelnden Augen die Werkzeuge.
»Sie sind nicht nur der Traum meiner schlaflosen Nächte, Harvey«, verkündete er vergnügt. »Sie sind ein Geschenk des Himmels.«