51

Cobbs Gedanken gingen wieder auf Zeitreise.

Die letzte Stunde hatte er damit verbracht, den Sonnenuntergang zu bewundern und von einem Rib-Eye-Steak, einem Glas Cutty Sark und einer Nacht mit Betty Kim zu träumen. Nachdem er den Tag damit vergeudet hatte, Bennett beim Herumbasteln in seiner Garage zu beobachten, glaubte Cobb, sich eine echte Belohnung verdient zu haben. Wenn er sich hätte entscheiden müssen, hätte er Essen und Whisky auf später verschoben und Nummer drei genommen: Betty Kim. Aber schließlich war es ja Freitagnacht, und er schwebte in Lebensgefahr – warum sich also nicht alles drei gönnen?

Er kramte das Tylenol-Döschen aus der Tasche und schüttelte es, doch nur eine Tablette fiel heraus. Mit einem ärgerlichen Blick auf das leere Döschen steckte er die Tablette in den Mund und spülte sie mit dem restlichen Wasser aus seiner Flasche hinunter. Ihm tat der Rücken weh. Den Großteil des Tages versteckte er sich nun schon, die Ellbogen auf den Boden gestützt, in einem Gebüsch mit Aussicht auf Bennetts Fertighausvilla.

Cobb nahm den Feldstecher, richtete ihn auf Bennett in seiner vier Autos fassenden Garage und stellte die Schärfe ein.

Der Mann wusch noch immer sein dämliches Auto, einen grauen BMW mit getönten Scheiben. Seit Stunden wienerte er jetzt schon daran herum. Cobb kapierte nicht, wie man einen freien Tag der Wagenpflege opfern konnte. Insbesondere, wenn die Ehefrau sich gerade mit den Kindern davongemacht hatte. An einem solchen Tag hätte doch alles in dem Mann in hellem Aufruhr sein müssen.

Sein Mobiltelefon vibrierte.

Cobb warf einen Blick auf das Gerät, das auf dem Boden lag, und erkannte Gambles Namen auf dem Touchscreen. Beim Gedanken an sie breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, er arbeitete gern mit ihr zusammen. Außerdem gefiel ihm die Vorstellung, dass ihr erster Eindruck von ihm völlig falsch gewesen war. Und seit er ihr trauen konnte, lief kein Film mehr in seinem Kopf ab. Er war nicht mehr allein. Die Leichen, die er vor sich gesehen hatte, sobald er die Augen schloss, starrten ihn nun nicht mehr höhnisch an.

»Wo sind Sie?«, fragte sie.

»Bei Bennett«, flüsterte er.

»Ist er noch immer wütend?

Cobb spürte, dass sich in ihrer Stimme etwas verändert hatte, und spähte noch einmal durch den Feldstecher. Inzwischen hatte Bennett den Kofferraum geöffnet und entfernte den Belag.

»So könnte man es ausdrücken«, erwiderte er. »Seine Frau ist nämlich gerade mit den Kindern abgehauen. Sie hatten Koffer dabei.«

»Und wie reagiert er darauf?«

»Er wäscht sein beschissenes Auto.«

Sie schwieg. Eine lange Zeit herrschte Stille.

»Sie müssen verschwinden«, sagte sie schließlich. »Und passen Sie bloß auf, dass er Sie nicht sieht.«

Erneut hob Cobb den Feldstecher, konnte Bennet jedoch nirgendwo entdecken. Die Tür zwischen Haus und Garage stand nun offen.

»Was ist?«, fragte er.

»Bennett ist unser Mann, Cobb. Er ist der Mörder. Er war es.«

»Was ist passiert?«

»Sie müssen da weg. Inzwischen sind Detectives vom Büro des Sheriffs hier. Bennett hat letzte Nacht Debi Watson umgebracht.«

Sie nannte ihm Watsons Adresse in West Hollywood und fügte hinzu, Vaughan sei ebenfalls unterwegs. Er hörte ihr an, dass sie sich Sorgen machte.

»Beeilen Sie sich, Cobb. Sie sind in Gefahr. Sie werden gleich wissen, was ich meine.«

Cobb steckte das Telefon ein. Seine Gedanken überschlugen sich, und er schüttelte sich vergeblich, um einen klaren Kopf zu bekommen. Er hatte Debi Watsons Gesicht während der Vorbereitungen für die Gerichtsverhandlung vor sich. Doch als er versuchte, sich darauf zu konzentrieren, fing es an zu verschwimmen und sich zu verändern, bis er Lily Hight auf dem Fußboden ihres Zimmers sah.

An dem Ort, wo sein Alptraum begonnen hatte.

Er wusste noch, wie ihm der Anblick ihrer Leiche die Brust zugeschnürt hatte; das Bild war so präsent, als wäre es gestern geschehen. Das Weinen ihrer Eltern klang von unten herauf, während er neben Lily saß, auf den Gerichtsmediziner wartete und ihr weiches blondes Haar streichelte.

Cobb nahm den Feldstecher, um sich ein letztes Mal umzublicken: Die Tür zwischen Haus und Garage war weiterhin offen. Bennet befand sich also noch im Haus. Cobb rappelte sich auf und zog sich an einem Baum hoch.

Im nächsten Moment hörte er Schüsse. Insgesamt drei. Sie klangen sehr laut.

Er blickte hinüber zu Bennetts Haus und griff sich an den Rücken, um sich zwischen den Schulterblättern zu kratzen. Der Lärm hatte Bennett nicht nach draußen gelockt, und Cobb verstand nicht ganz, was da gespielt wurde. Dann spürte er, wie die Knie nachgaben. Er fiel, Blut quoll ihm aus der Brust und versickerte im Staub. Mühsam hob er den Kopf und versuchte, sich zu orientieren. Der Himmel drehte sich, und die Sterne zogen auf ihrem Weg übers Firmament Schweife hinter sich her. Er bemerkte, dass sich rechts hinter ihm etwas bewegte. Als er den Kopf wandte, kam aus dem Nirgendwo ein Schuh und knallte ihm ins Gesicht.

Und dann war es vorbei. Keine Filme mehr im Kopf. Keine Geldsorgen. Keine Rechnungen.

Er hatte es hinter sich. Cobb sah, wie Betty Kim die Arme nach ihm ausstreckte und ihn an sich zog. Nun führte er endlich das Leben, das er sich immer erträumt hatte und das ihm stets unerreichbar erschienen war. Nun wohnte er in der Sorglosstraße.

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