23
Lena wachte davon auf, dass die Sonne ihr in die Augen schien. Sie lag auf dem Sofa und war noch immer voll bekleidet. Als sie die .45er neben sich auf dem Couchtisch sah, fielen ihr schlagartig die Ereignisse der letzten Nacht ein, und sie fuhr hoch.
Cobb.
Inzwischen war der Typ nicht nur lästig, sondern entwickelte sich zu einem echten, offenbar noch steigerungsfähigen Problem. Und Lena war nicht sicher, wie sie mit ihm umgehen sollte. Ein Anruf bei Barrera würde den Mann wohl kaum aufhalten. So wie sie ihn einschätzte, geriet er nach einer Rüge seines Dienstherrn oder seines direkten Vorgesetzten nur in Wut und würde umso heftiger um sich schlagen.
Und Cobb zu reizen erschien ihr derzeit nicht sehr ratsam.
Deshalb kam Lena zu dem Schluss, dass sie im Moment am besten gar nichts unternahm. Sie ging in die Küche. Bevor sie zu Hight fuhr, musste sie sich mit Martin Orth von der Kriminaltechnik in Verbindung setzen, allerdings war es noch zu früh für einen Anruf.
Lena bereitete ihren Kaffee stets tassenweise zu, und zwar mit Filtertüten und aus den besten Bohnen, die sie sich leisten konnte. Also stellte sie den Kessel auf den Herd, schaltete ihn auf die niedrigste Stufe, duschte, zog sich um und machte sich anschließend Toast und weichgekochte Eier, die sie stehend am Spülbecken verspeiste.
Die Mahlzeit hatte zwar eine belebende Wirkung, aber es war noch immer zu früh für einen Anruf bei Orth. Lena nahm den Wochenplaner, den sie und Harry in Gants Zimmer gefunden hatten, aus dem Asservatenbeutel. Dann setzte sie sich an den Tisch am Fenster, trank ihren Kaffee und blätterte das Büchlein durch. Offenbar hatte Gant den Kalender hauptsächlich als Tagebuch benutzt, allerdings nicht lang. Er hatte nach dem Prozess damit angefangen, doch zwei Wochen vor seinem Tod wieder aufgehört.
Er hatte, wenn auch mit wenig Erfolg, versucht, die letzten zehn Tage von Lilys Leben zu rekonstruieren. Lena erkannte auf Anhieb, woran er gescheitert war: Anscheinend hatte er Schwierigkeiten gehabt, jemanden zu finden, der bereit gewesen war, einem freigesprochenen mutmaßlichen Mörder zu helfen oder überhaupt mit ihm zu reden. Einem Eintrag zufolge hatte Lilys beste Freundin sich mit ihm treffen wollen, war jedoch von ihrem Vater daran gehindert worden. Nach einigen Anläufen, sich erneut mit ihr zu verabreden, hatte Gant einen Anruf von jemandem erhalten, der sich als Polizist ausgegeben hatte, und daraufhin das Handtuch geworfen.
Lena kannte den Namen des Mädchens weder aus Cobbs Fallakte noch vom Prozess. Julia Hackford. Seltsam, dass sie nie erwähnt worden war. Lena notierte sich den Namen und wandte sich wieder Gants Tagebuch zu.
Einige Seiten wiesen Blutflecke auf, und Lena stieß auf mehr als eine Stelle, an der Gant von tätlichen Übergriffen auf der Straße und von seiner Angst schrieb, das Haus zu verlassen. Nach seiner Verhaftung hatte er monatelang an Alpträumen gelitten. Auch die Ratschläge, die Paladino ihm während des Prozesses gegeben hatte, waren hier vermerkt – offenbar hatten diese Gedanken Gant aufgemuntert und ihm Hoffnung gemacht.
Lena brauchte etwa zwanzig Minuten, um das gesamte Buch durchzulesen. Danach blickte sie nachdenklich aus dem Fenster. Cobb hätte bestimmt behauptet, dass der Inhalt des Buches erstunken und erlogen sei und Gant das Schreiben aufgegeben habe, da seine Aufzeichnungen nur den Versuch eines psychotischen Killers darstellten, sich als Unschuldslamm zu präsentieren.
Und der Großteil der Kollegen hätte Cobb vermutlich zugestimmt.
Und dennoch hatten Gants Worte etwas Aufrichtiges an sich. Wie das Foto neben Lilys Bett ließen sie den Fall in einem ganz neuen Licht erscheinen. Lena wünschte nur, sie hätte auch etwas über seine Treffen und die Zusammenarbeit mit Johnny Bosco gefunden. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass Bosco keinen Finger krummgemacht hätte, wenn er sich nicht einen Vorteil davon versprochen hätte. Als Lena das Tagebuch noch einmal betrachtete, kam sie zu dem Schluss, dass diese Auslassung nur eines zu bedeuten hatte: Bosco war später dazugestoßen; Bosco und Gant hatten erst in den letzten beiden Wochen ihres Lebens Kontakt gehabt.
Lena sah auf die Uhr. Kurz vor sieben. Als sie zum Telefon griff, um Orth anzurufen, war sie in Gedanken noch immer bei Gants Leben nach dem Prozess. Wie war es wohl gewesen, in seiner Haut zu stecken? Und wie entsetzlich, das alles durchmachen zu müssen, falls er tatsächlich unschuldig gewesen war?
Orth meldete sich nach dreimaligem Läuten.
»Ich wollte Sie gerade anrufen, Lena.«
»Sehr gut«, erwiderte sie. »Dann haben Sie also was gefunden.«
Orth war ein leitender Mitarbeiter der Spurensicherung, der in Lenas letztem Fall eine wichtige Rolle gespielt hatte. Sie waren ein gutes Team. Orth war zwar auch in den Skandal um die verschwundenen DNA-Proben im Prozess gegen Gant verwickelt worden, doch für Lena handelte es sich um einen klaren Fall von »mitgefangen, mitgehangen«. Orths einzige Beteiligung an der Krise bestand in seiner Rolle als Vorgesetzter. Lena kannte ihn als Meister seines Fachs und hatte absolutes Vertrauen zu ihm.
»Wir haben wirklich etwas«, antwortete er. »Das Kokain in Hights Haus stimmt einhundertprozentig mit dem im Club 3 AM überein. Die Proben sind chemisch identisch und genau zu denselben Anteilen verschnitten. Höchste Qualität, etwas so Gutes hatten wir schon lange nicht mehr.«
Lena lief im Zimmer hin und her.
»Also war Hight entweder im Club oder hat beim selben Dealer gekauft. Was ist mit den Fingerabdrücken auf den Hundertdollarscheinen?«
»Fehlanzeige«, entgegnete Orth. »Aber dafür haben wir Blut entdeckt, Lena. Und zwar an Hights linker Schuhsohle.«
»Genug, dass man damit was anfangen kann?«
»Wenn er in diesem Zimmer war, kriegen wir es raus, das schwöre ich Ihnen.«
Das war zwar nicht so beweiskräftig wie die Pistole, aber zumindest ein Fortschritt. Vielleicht reichte es ja, um Hight davon zu überzeugen, dass ein Geständnis die einfachste Lösung war. Falls er Blut von einem der Opfer an den Schuhen hatte, gab es dafür nur eine einzige Erklärung.
»Sind Sie heute Nachmittag im Büro?«, fragte sie.
»Den ganzen Tag. Warum?«
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Gerade ging ein zweiter Anruf ein. Lena warf einen Blick auf das Display.
»Ich muss los, Marty. Bis heute Nachmittag.«
Sie nahm den Anruf entgegen. Es war Buddy Paladino, der sie um zehn nach sieben Uhr morgens von zu Hause aus anrief.
»Ein bisschen früh, finden Sie nicht?«, meldete Lena sich.
Paladino schwieg im ersten Moment, dann ergriff er mit einschmeichelnder Stimme das Wort. »In der Stadt geht ein Gerücht um, Detective Gamble. Es breitet sich aus wie ein Lauffeuer, und die Leute werden allmählich neugierig.«
»Was für ein Gerücht?«
»Dass Sie die Ermittlungen im Fall Lily Hight wieder aufgenommen haben.«
Der Satz hing in der Luft. Es folgte ein bedeutungsschweres Schweigen. Lena ging zur Theke und setzte sich auf einen Barhocker. Sie hatte Paladino im letzten Jahr in einer persönlichen Sache geholfen und wusste, dass er ihr dafür einen Gefallen schuldete. Allerdings machte ihn das nicht weniger gefährlich. Es hieß nicht, dass sie ihm trauen konnte oder dass er ihr nicht nötigenfalls schaden würde.
»Es ist wirklich nur ein Gerücht, Buddy. Sie sollten nicht alles glauben, was Sie so hören.«
»Ich habe den Verdacht, dass Sie mich an der Nase herumführen wollen. Das erkenne ich an Ihrem Tonfall. Ich dachte, wir hätten eine Abmachung, Lena. Dass wir über solche Dinge erhaben sind. Eine Hand wäscht die andere, wie man so schön sagt.«
Paladino, wie er leibte und lebte.
»Mit wem haben Sie geredet?«, fragte sie.
»Einem Freund.«
»Dann spricht also doch nicht die ganze Stadt darüber?«
»Nein, nur ich und ein Freund. Wir sind ein kleines Netzwerk. Ich wollte nur sehen, wie Sie reagieren. Übrigens habe ich sofort bemerkt, dass Sie mich anlügen. Wir müssen an Ihrer Technik arbeiten. Es geht nicht darum, was man sagt, sondern um das Wie.«
Lena ignorierte die Bemerkung.
»Am besten treffen wir uns bei Ihnen in der Kanzlei«, entgegnete sie. »Aber erst später.«
»Dann also später, einverstanden.«
»Gut«, antwortete sie. »Doch vorher hätte ich noch eine Frage.«
»Worum geht es?«
»Tim Hight.«
Er verstummte kurz.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Hight und seine Tochter. Lief da etwas?«
Wieder schwieg Paladino einen Moment. Als er antwortete, klang seine Stimme nicht mehr einschmeichelnd, sondern gefährlich ruhig und sachlich.
»Ich hatte drei Beobachter im Gerichtssaal platziert, Lena. Drei der besten Analysten, die man für Geld kriegen kann. Als ich andeutete, Hight könnte seine Tochter missbraucht haben, wollten die Geschworenen nichts davon hören.«
Lena stand auf und ging zur Terrassentür. Die Stadt war in den Schein der Morgensonne getaucht.
»Gut, dann wollten die Geschworenen es eben nicht hören. Aber war das nur ein Schuss ins Blaue, oder hatten Sie konkrete Hinweise?«
»Wir unterhalten uns in meiner Kanzlei«, erwiderte er. »Später.«
Mit diesen Worten legte er auf.