19
Lena überprüfte noch ein letztes Mal ihren Schutzanzug. Sie stand in der Umkleide der Gerichtsmedizin vor einem Spind und versuchte, nicht an die Schlussfolgerung zu denken, die sich ihr bei der Lektüre von Cobbs Fallakte förmlich aufgedrängt hatte. Obwohl sie so tat, als gäbe es keine offenen Fragen, wusste sie, dass sie sich etwas vormachte.
Einerseits war da Cobbs Herangehensweise an den Fall – und andererseits die Fakten. Die Lügen und ungeklärten Punkte häuften sich. Warum hatte Lily ein Foto von Gant neben ihrem Bett aufbewahrt, wenn die Behauptung des Vaters stimmte, Gant habe seiner Tochter nachgestellt, worauf sich wiederum Cobbs Ermittlungen stützten? Und warum wusste, im Gegensatz zu Tim Hight, Gants Bruder über das Verhältnis zwischen Lily und Gant Bescheid?
Und genau das war das Problem. Hight hätte es wissen müssen.
Schließlich saß er jeden Abend in seinem Sessel im Wintergarten und beobachtete die Gants. Er verharrte im Dunkeln, rauchte, trank und schnupfte Kokain.
Doch etwas war noch verräterischer: Warum legte Cobb derart wenig Hilfsbereitschaft an den Tag, wenn seine Beweise so wasserdicht waren, wie es in der Fallakte den Anschein hatte? Weshalb das Psychodrama, wenn er alle Zusammenhänge belegen konnte? Welchen Grund hatte er, ihr nicht alles über den Fall zu erzählen und ihr dann viel Glück zu wünschen?
Lena schlüpfte gerade in ein Paar Handschuhe und griff nach dem Gesichtsschutz, als das Telefon in ihrer Tasche vibrierte. Es erbebte fünfmal, bis sie es unter dem Schutzanzug hervorkramen konnte und Barreras Namen auf dem Display aufleuchten sah.
»Ich hatte gerade einen Anruf von Jack Peltre«, sagte er. »Kennen Sie ihn, Lena?«
Als sie das leise Grollen in Barreras Stimme hörte, brauchte sie nicht lang, um eins und eins zusammenzuzählen. Jack Peltre war Lieutenant in der Pacific Station. Und was noch wichtiger war: Er war Cobbs Vorgesetzter.
»Der Name sagt mir was«, erwiderte sie.
»Dann freut es Sie sicher zu hören, dass es ein Anruf in aller Freundschaft war. Und zwar, weil wir uns schon seit zwanzig Jahren kennen und Freunde sich so verhalten. Sie unterstützen einander. Und von Zeit zu Zeit telefonieren sie in aller Freundschaft miteinander. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«
Barrera kochte vor Wut. Offenbar war die Kacke am Dampfen.
»Ich glaube schon«, antwortete sie.
»Sie glauben? Nun, sie jedenfalls verstehen, was ich meine, Lena. Freunde bleiben in Kontakt, sonst sind sie keine Freunde. Übrigens hat Peltre erwähnt, dass Sie heute Nachmittag dort gewesen seien. Und als Sie das Gebäude verlassen hätten, hätten Sie etwas mitgenommen.«
Sie warf einen Blick quer durch den Raum auf ihren Aktenkoffer, in dem die Fallakte steckte. Es war zwecklos, es abzustreiten.
»Stimmt«, sagte sie. »Ich habe etwas mitgenommen.«
Eine Weile geschah nichts, und sie hörte, wie Barrera beim Kauen auf seiner Zigarre mit den Zähnen knirschte.
»Bringen Sie es mit«, antwortete er schließlich. »Ich will Sie in meinem Büro sehen. Das ist ein Befehl, Detective. Und zwar sofort.«
Die Leitung war tot. Er hatte einfach aufgelegt.
Lena starrte auf das Telefon und überlegte. Sie trug bereits einen Schutzanzug und ging davon aus, dass ihr noch fünf, vielleicht auch zehn Minuten – plus die kurze Fahrt zum Parker Center – blieben, bis Barrera sie suchen würde. Also biss sie die Zähne zusammen, klappte den Gesichtsschutz herunter und betrat den Autopsiesaal. An diesem Abend fanden sieben Autopsien gleichzeitig statt. Und leider stand das Glas mit Vicks VapoRub nicht an seinem üblichen Platz, weshalb sie keine Chance hatte, den abscheulichen Geruch nach verwesenden Leichen und menschlichen Ausscheidungen abzumildern. Nichts, um den dichten, bedrückenden Dunst zu filtern, der jeden Zentimeter des Raums durchdrang.
Es war wie ein Schlag in die Magengrube – laut ihrem ehemaligen Partner gewöhnte man sich auch nach zwanzig Jahren nicht daran.
Doch an diesem Abend war sie voll konzentriert.
Lena ließ den Blick durch den Raum schweifen, ohne zu genau hinzuschauen, bis sie Sid Kosinski in einer Ecke entdeckte. Die beiden Leichen lagen nebeneinander auf Operationstischen aus Edelstahl. Selbst aus der Entfernung machten weder Bosco noch Gant den Eindruck, als würden sie in Frieden ruhen.
Lena versuchte, auf dem nassen Boden nicht auszurutschen. Kosinski hob den Kopf und sah sie an. Er hatte mit Bosco angefangen und schien die Hälfte der Prozedur bereits hinter sich zu haben. Während er sich etwas auf einem Klemmbrett notierte, drehte sie sich zu Gant um und betrachtete seine Leiche. Ohne sich ihr Entsetzen anmerken zu lassen, malte sie sich aus, wie schwierig es für einen Vater gewesen sein musste, hier zu stehen und seinen Sohn zu identifizieren.
Da Gant nun unbekleidet war, konnte sie erkennen, dass die Blutergüsse sich nicht auf seinen Hals und seine Arme beschränkten. Die offenbar bei Prügeleien davongetragenen Verletzungen erstreckten sich über seine Schultern, die Brust und den Bauch und auch kreisförmig um den Lendenwirbelbereich herum. Die Oberschenkel wiesen ebenso Blessuren auf, fast als hätte er Tritte in den Schritt abgewehrt.
Lena hatte keinen Grund, an der Aussage von Gants Bruder zu zweifeln. Allerdings hätte sich die Warteschlange derer, die Gant nach dem Freispruch gerne eine verpasst hätten, vermutlich durch die ganze Stadt erstreckt.
Ein Bild stieg in ihr hoch. Cobb, wie er vor ihr saß, die Augen hinter der eigenartigen Brille verborgen. Sie erinnerte sich, wie still es im Raum geworden war, als sie den Detective gefragt hatte, ob er Gant geschlagen, ja, ob er ihn misshandelt habe. Wie die Vernehmungen wohl abgelaufen waren, ehe Gant Paladino als Anwalt angeheuert hatte. Sie hatte keine Mitschriften in der Fallakte entdeckt. Falls welche vorhanden waren, hatte sie sie wohl übersehen.
Sie schob den Gedanken beiseite und betrachtete die Überreste von Gants Gesicht. Die beiden Kugeln, die ihm die Augen weggepustet hatten, hatten inzwischen an Bedeutung gewonnen. Dass Gant ermordet worden war, weil er etwas entdeckt hatte, war inzwischen nicht mehr von der Hand zu weisen.
Kosinski stellte sich neben sie.
»Einige dieser Blutergüsse müssen mindestens zehn Tage alt sein, Lena. Schauen Sie sich die Farbveränderungen an.«
Sie nickte.
»Ich kann nicht bleiben, Sid. Warum haben Sie eigentlich mit Bosco angefangen?«
Kosinski blickte sie an und wies mit dem Kopf auf die Flügeltür hinter ihnen, die zum Flur führte. Lena spähte über seine Schulter. Oberstaatsanwalt Jimmy J. Higgins beobachtete sie durch die Glasscheibe und schien ein wenig nervös zu sein. Aber zumindest wusste sie nun, was aus dem Glas Vicks VapoRub geworden war. Sie sah, wie Higgins das Gel flächendeckend auf seinem Taschentuch verteilte und den Stoff über Mund und Nase breitete. Er hatte einen wilden Blick, als hätte er Leim geschnüffelt.
Kosinski senkte die Stimme.
»Angeblich hat er heute Abend eine Besprechung. Er will alle verfügbaren Informationen.«
»Warum kommt er nicht rein?«
»Weil er ein feiges Arschloch ist. Keine Ahnung, was er überhaupt hier will. Ich hätte ihn auch anrufen können.«
»Das liegt an Bosco«, erwiderte sie. »Sie waren Freunde.«
»Was für Freunde genau?«
Lena zuckte die Achseln.
»Tja, Higgins hat mich aufgefordert, etwas zu tun, das für mich nie und immer in Frage käme, Lena.«
»Sie sollen den Bericht frisieren«, erwiderte sie. »Und nicht erwähnen, was Sie in Boscos Nase sichergestellt haben.«
Kosinski bedachte sie mit einem langen Blick und nickte. »Wie kann ein Oberstaatsanwalt so etwas verlangen?«
Lena wünschte, Higgins’ Ansinnen hätte sie überrascht. Doch weit gefehlt. Wenn der Oberstaatsanwalt keine Skrupel hatte, den stellvertretenden Polizeichef unter Druck zu setzen, kannte er auch sicher kein Pardon, einen Rechtsmediziner zu Unregelmäßigkeiten anzustiften. Sie drehte sich unauffällig zu dem Staatsanwalt um, der inzwischen von der Scheibe weggetreten war und etwas in sein Mobiltelefon brüllte. Womöglich las er Vaughan gerade die Leviten. Oder hatte Cobbs Vorgesetzter wieder einen Anruf ins Netzwerk seiner »Freunde« getätigt und diesmal den Staatsanwalt kontaktiert, weil Freunde sich so verhielten?
Allerdings hatte Lena ihre eigenen Gründe, sich Gedanken über den Kokainfund im Club 3 AM zu machen.
Sie verstand noch immer nicht, warum Dante Escabar das Rauschgift am Tatort nicht beseitigt hatte. Denn seine Erklärung, er habe es übersehen, da er unbedingt die Inhaber informieren und die Gäste schützen musste, klang nicht glaubhaft. Die Menge allein gab Anlass zu ernsthaften Zweifeln. Denn ein Kokainfund von diesen Ausmaßen gefährdete den Ruf des Clubs als Oase der Superstars genauso stark wie dass Bosco sich nach dem Prozess mit Jacob Gant in der Öffentlichkeit blicken ließ. Und dennoch hatte Escabar die Zeit und Gelegenheit zum Aufräumen nicht genutzt. Sicherlich steckte eine bestimmte Absicht dahinter – die Frage war nur, welche.
Kosinski wies auf den Operationstisch. Boscos Magen war entfernt und in eine flache Plastikschale gelegt worden.
»Ich wollte gerade die Kugel herausholen«, sagte er. »Die wollen Sie doch sehen, oder?«
Sie nickte, folgte dem Rechtsmediziner zum Tisch und beobachtete, wie er nach einem sauberen Skalpell griff.