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Lena fuhr die Avenue of the Ghosts entlang, war jedoch in Gedanken schon zwanzig Kilometer weiter, sodass sie die jugendlichen Strichmännchen nicht wahrnahm.
Sie wollte nichts überstürzen, nicht zulassen, dass ihre Fantasie die Tatsachen zurechtbog, und sich auch nicht zu früh freuen. Zuerst musste sie Debi Watson erreichen. Sie musste die Frau zum Reden bringen.
Allerdings hatte sie inzwischen ein mulmiges Gefühl.
Nach ihrem Treffen mit Brown hatte Lena versucht, Watson im Büro anzurufen, jedoch von ihrer Sekretärin erfahren, die Staatsanwältin sei heute nicht zur Arbeit erschienen. Als Lena nachhakte, erwiderte die junge Frau, Watson habe sich nicht krankgemeldet und gehe weder mobil noch zu Hause ans Telefon. Da die Sekretärin sich Sorgen machte, hatte sie Lena die Adresse im Norwich Drive in West Hollywood gegeben.
Ehe die Furcht Besitz von ihr ergreifen konnte, bog Lena scharf rechts ab, beschleunigte und fuhr in Richtung Venice Boulevard. Die ganze Zeit wartete sie darauf, dass Cobb endlich abnahm. Zwei Straßen weiter meldete er sich endlich.
»Woher haben Sie die Scheißnummer?«, fragte er.
»Sie sind Polizist, Cobb, Sie stehen im Telefonverzeichnis. Und jetzt verraten Sie mir mal, warum Sie mir verheimlicht haben, was Bennett mit Wes Brown gemacht hat.«
Cobb schwieg so lange, dass Lena schon glaubte, ihr Telefon hätte den Geist aufgegeben. Sie überprüfte den Akku und den Empfang. Nach einer Weile stand die Verbindung wieder.
»Die Neun-Millimeter Smith wurde in einem Fall vor acht Jahren benutzt, Cobb. Bennett hat Ihren Augenzeugen umbringen lassen. Warum haben Sie mir nichts davon gesagt?«
»Weil ich nicht sicher bin, was es zu bedeuten hat«, antwortete er.
Er sprach absichtlich leise, was Lena nicht gefiel.
»Wo sind Sie?«, fragte sie.
»Vor Bennetts Haus, um die Dinge im Auge zu behalten. Er hat sich den Tag freigenommen und wirkt ziemlich nervös.«
»Warum verfolgen Sie Bennett, wenn Sie nicht sicher sind, was es zu bedeuten hat?«
»Das habe ich gar nicht«, widersprach Cobb. »Ich war eigentlich hinter Higgins her. Er und sein Freund waren vor etwa einer Stunde hier. Als sie wieder abfuhren, bin ich neugierig geworden und habe beschlossen zu bleiben.«
»Haben Sie Bennett im Blick?«
»Er steht in der Auffahrt und streitet sich mit seiner Frau. Die beiden fetzen sich jetzt schon seit einer halben Stunde. Bestimmt wählen die Nachbarn sie bald zum Ehepaar des Jahres, Gamble, sie brüllen nämlich rum wie die Weltmeister.«
»Und worum geht es?«
»Sie hat mitgekriegt, dass er sie betrügt, und ist offenbar nicht sehr erfreut.«
»Sind Sie im Auto?«
»Nein«, erwiderte er. »Auf der anderen Straßenseite ist ein Hügel. Jede Menge Bäume, und man hat einen Panoramablick über das gesamte Grundstück. Bennett hat Kohle. Er wohnt in der North Rockingham, die vom Sunset Boulevard abgeht. Wie verdient ein stellvertretender Staatsanwalt so viel Moos?«
Inzwischen hatte Lena den Venice Boulevard erreicht und sah vor sich die San Vincente. Sie schlängelte sich durch den Verkehr und benutzte, wenn nötig, den Seitenstreifen. Mit ein wenig Glück würde sie in zehn Minuten vor Ort sein.
»Sie müssen mir jetzt gut zuhören. Cobb?«
»Was ist?«
»Ich erkläre Ihnen, was die Pistole zu bedeuten hat.«
Er verstummte wieder. Sie wusste nicht, ob er dem Thema auswich oder sich auf seinem Posten still verhalten musste.
»Da bin ich wieder«, flüsterte er. »Also raus mit der Sprache.«
»Man will Ihnen was anhängen, Cobb. Sie sollen als Sündenbock herhalten, damit der wahre Mörder ungeschoren davonkommt. Offenbar hat er rausgefunden, dass Sie Paladino den Tipp gegeben und ihm den Prozess vermasselt haben. Als Bosco und Gant der Wahrheit immer näher kamen, hat er sie mit der besagten Pistole abgeknallt. Und als Escabar das Video von Lily im Club entdeckt hat, hat er ihn ebenfalls beseitigt, was uns die Ballistik sicherlich bestätigen wird. Sie sind die nächste Zielscheibe. Sie sind in Gefahr.«
Der Satz mit der Zielscheibe hatte offenbar gesessen.
»Sie könnten recht haben«, raunte er schließlich. »Aber steckt Bennett dahinter oder Higgins? Ich dachte immer, Reggie hätte etwas falsch verstanden. Dass Bennett seinem Bruder am Telefon die Hölle heiß gemacht hat, steht zweifelsfrei fest. Doch Higgins war der Politiker, Gamble. Er musste den Prozess gewinnen, nicht Bennett. Woher wissen wir, dass Bennett nicht einfach nur ein mieser kleiner Handlanger ist, der nach Higgins’ Pfeife tanzt? Wer sagt uns, dass es nicht Higgins war, der den Polizisten zu dem Jungen geschickt und damit sein Todesurteil unterschrieben hat?«
Lena musste wieder an Jerry Spadell denken.
»Keine Ahnung«, erwiderte sie schließlich.
»Und was ist mit Ihnen und Vaughan? Sind Sie beide nicht auch zur Zielscheibe geworden?«
Darauf hatte Lena auch keine Antwort. Solange sie Debi Watson nicht zum Reden brachte, trat sie auf der Stelle.
Lena überfuhr eine rote Ampel, bog in die Melrose und dann noch einmal rechts in die Norwich Street ein und studierte die Hausnummern. Watsons Haus befand sich auf halber Höhe des Häuserblocks auf der linken Seite – ein zweistöckiges Gebäude im mediterranen Stil, mit Efeu bewachsen, von Palmen umgeben und mit einem Schatten spendenden Eukalyptusbaum im Vorgarten. Lena rollte in die Einfahrt und stoppte vor der Garage. An jedem anderen Tag hätte sie Watsons Haus als Oase betrachtet. Heute jedoch überkam sie ein unheilvolles Gefühl.
»Haben Sie heute vielleicht Watson gesehen, Cobb?«
»Bennett ist bei seiner Frau«, erwiderte er. »Was ist mit Ihrer Stimme los?«
Lena nahm erneut das Haus in Augenschein. Es war so still. Nichts regte sich.