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Der stellvertretende Polizeichef Albert Ramsey umrundete Johnny Boscos Schreibtisch und fixierte Lena dabei mit seinen stahlblauen Augen. Ramsey war ein hochgewachsener, unnahbarer Mann mit kahl rasiertem Schädel, kantigem Kiefer und einer blassen, fleckigen Haut, vermutlich weil er so viele Stunden damit zugebracht hatte, die Karriereleiter zu erklimmen. Seine Art hatte etwas Einschüchterndes, was an seinen funkelnden Augen liegen mochte und daran, dass er nicht viele Worte machte. Ramsey hatte über fünfunddreißig Jahre bei einer Polizeibehörde überlebt, die häufig kurz davor gestanden hatte, im politischen Intrigensumpf zu versinken, und wusste deshalb, wo er suchen musste. Wenn er einen Raum betrat, merkten alle auf, denn er war ebenso schwer zu übersehen wie Kapitän Ahab aus Moby Dick. Heute jedoch war es anders. Der stellvertretende Polizeichef wirkte eher wie ein Preisboxer, der einen rechten Haken abbekommen hatte. Obwohl er sich mit Müh und Not auf den Beinen hielt, wirkte er so benommen, als würde er jeden Moment umkippen.

»Danke, dass Sie so schnell kommen konnten«, begann er mit leiser, belegter Stimme. »Detective Sanchez und Rhodes sind unterwegs. Aber wir haben eine Entscheidung gefällt, Gamble. Das hier ist Ihr Fall. Also liegt die Entscheidung, was jetzt passiert, bei Ihnen. Ab heute Nacht sind Sie auf sich allein gestellt.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, steuerte er schnurstracks auf die Flügeltür neben dem Kamin zu. Barrera war Ramsey ins Zimmer gefolgt, wich jedoch Lenas Blick weiterhin aus. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass die anderen sich zu ihnen gesellten, doch sie standen tuschelnd in der Dunkelheit auf dem Balkon.

Ramsey versetzte der Tür einen heftigen Stoß. Als sie erneut einen Flur betraten, hatte Lena das Gefühl, sich der Ziellinie zu nähern. Sie durchquerten eine Suite, die größer war als die anderen – es musste die von Bosco sein. Durch ein Ankleidezimmer kamen sie in ein großes, mit einem Massagetisch, einer offenen Dusche und einem Whirlpool ausgestattetes Bad.

Rasch wanderten Lenas Augen über den Fliesenboden: Volltreffer – die Mordopfer. Sie betrachtete die gewaltige Blutlache auf dem Boden und tastete unwillkürlich in ihrer Hosentasche nach einem Paar Vinylhandschuhe.

Die beiden Toten waren männlich. Einer lag zusammengekrümmt da, der andere war blutverschmiert und lehnte an der Wand.

Ramsey ließ Lena nicht aus den Augen.

»Alles ist so, wie wir es vorgefunden haben, Detective. Soweit wir informiert sind, hat niemand etwas angefasst.«

Soweit wir informiert sind …

Lena holte tief Luft und atmete kräftig aus, als hätte sie Rauch inhaliert. Neben dem Whirlpool standen die Fenster offen. Ein Häufchen Kokain – mindestens zehn Riesen wert – auf einer Marmorplatte und daneben die übliche Rasierklinge. Der Tote im seidenen Anzug war in den Rücken geschossen worden. Dicht unterhalb seiner linken Schulter breitete sich ein Blutfleck auf dem Sakko aus. Lena machte einen Schritt über die Blutlache hinweg, um das Gesicht des Mannes zu betrachten. Er war etwa fünfundvierzig und breitschultrig und hatte kurzes braunes Haar und ein markantes Kinn. Bis vor wenigen Stunden hatte er sicherlich als attraktiv gegolten. Nun war ein Auge geöffnet, die überkronten Zähne standen hervor, und Lena konnte weißes Pulver in seinen geblähten Nasenlöchern erkennen.

Es bestand kein Zweifel: Johnny Bosco war noch vor dem Kick gestorben und hatte den Sensenmann nicht kommen sehen. Die Kugel im Rücken – die finale Überraschung – hatte ihn völlig unerwartet erwischt.

Rasch musterte Lena den zweiten Toten, um auf Nummer sicher zu gehen. Der Oberstaatsanwalt war ein kräftig gebauter Mann von Mitte fünfzig mit einer silbergrauen Föhnwelle. Der Tote mit dem blutigen Gesicht an der Wand trug hingegen Jeans und ein T-Shirt und war um einiges schlanker und jünger. Schätzungsweise Ende zwanzig, Anfang dreißig. Oberstaatsanwalt Jimmy J. Higgins mochte heute Nacht mit Johnny Bosco einen prominenten Freund verloren haben, doch er selbst erfreute sich offenbar bester Gesundheit und war irgendwo in der Stadt unterwegs.

Ein wenig erleichtert, wandte sie sich an Barrera und Ramsey. Doch die beiden Männer verharrten in der Tür und musterten sie, als ob es nicht den geringsten Grund gäbe, erleichtert zu sein. Nicht heute Nacht. Nicht an diesem Tatort.

»Wer ist Leiche Nummer zwei?«, fragte Lena. »Ein Schauspieler? Ein Dealer? Ein Promi-Söhnchen?«

Ramseys scharfer Blick wurde unsicher, als er sich auf die Leiche richtete. Dass er ihr die Antwort schuldig blieb, gab Lena zu denken. Warum war sie als Letzte verständigt worden? Weshalb das bedrückende Schweigen? Sie fühlte sich wie eine Schachfigur, ein Versuchskaninchen. Die beiden trieben ein Spielchen mit ihr, obwohl alle wussten, dass es bei Mordermittlungen vor allem auf Schnelligkeit ankam.

Allerdings lief da offenbar etwas hinter den Kulissen. Etwas Außerplanmäßiges.

Johnny Bosco war in dieser Stadt ein Strippenzieher gewesen. Die Times berichtete sicher auf der Titelseite über seine Ermordung. Und seine Freundschaft mit dem Oberstaatsanwalt und der Haufen Schnee im Badezimmer sorgten dafür, dass der Artikel ganz vorne erschien und die Sache für alle verkomplizierte. Allerdings war Higgins ohnehin bereits angezählt, insbesondere in den Augen der Polizei von Los Angeles. Wenn man der Times glauben konnte, stand seine Wiederwahl im nächsten Jahr in den Sternen. Lena fragte sich, ob er in der Behörde wirklich genug politischen Einfluss genoss, um die gesamte Besatzung zusammenzutrommeln. So viel Macht, dass selbst der stellvertretende Polizeichef Ramsey mitten in der Nacht am Tatort antanzte. Noch beunruhigender war, was wohl zwei der erfahrensten Polizisten an diesem Tatort in Angst und Schrecken versetzt haben mochte.

Lena durchquerte das Zimmer und kniete sich vor die zweite Leiche. Der Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Der Mann hatte einen Bauchschuss und Gesichtsverletzungen, die ihr die Arbeit nicht unbedingt erleichterten. Jemand hatte ihm die Augen weggepustet. Trotz des vielen Blutes konnte Lena verbrannte Haut und versengte Augenbrauen erkennen. Der Schütze hatte dem Mann die Mündung an die Augen gehalten und abgedrückt. Da beide Geschosse den Hinterkopf durchschlagen hatten, war die Hirnmasse angesaugt worden wie in einem Vakuum und gegen die Wand gespritzt.

Außerdem hatte sie sich verschätzt, was sein Alter anging, er war viel jünger, höchstens Anfang bis Mitte zwanzig.

Als Lena sich vorbeugte, um seine Nasenlöcher zu untersuchen, konnte sie keine Spuren von weißem Pulver entdecken. Dafür fiel ihr ein großer Bluterguss am Hals auf. Ähnliche Blutergüsse bedeckten beide Arme. Beim Anblick seiner abgeschürften Fingerknöchel und der sauberen Nägel hielt sie kurz inne und dachte nach. Der Junge war in den letzten ein bis zwei Wochen offenbar in eine Schlägerei verwickelt gewesen, denn die Verletzungen heilten bereits ab. Allerdings wies nichts darauf hin, dass er heute Nacht Gelegenheit gehabt hatte, sich zu verteidigen. Der Bauchschuss hatte ihn zu Boden gehen lassen. Und nach der großen Blutlache um ihn herum zu urteilen, hatte das Geschoss eine Arterie durchtrennt. Die beiden Schüsse in die Augen waren erst danach abgegeben worden. Sicher war er noch am Leben, vielleicht sogar bei Bewusstsein gewesen, als der Täter näher kam, allerdings hatte ihn der Blutverlust benommen und wehrlos gemacht.

Der Bauchschuss allein hätte genügt, um den Jungen zu töten. Also lag hinter den Schüssen in die Augen eine andere Absicht. Etwas Wahnwitziges. Ein Mörder, getrieben von rasender Wut.

Plötzlich fiel Lena etwas aus einem Film ein, den sie vor über zehn Jahren gesehen hatte. Die Komantschen glaubten, dass ein Getöteter ohne Augen keinen Zutritt zur Geisterwelt hatte. Ohne Augen sei er dazu verdammt, für immer zwischen den Winden umherzuwandern. Wahrscheinlich stammte die Szene aus Der schwarze Falke von John Ford, aber Lena war nicht sicher. Und dennoch konnte sie sich der Frage nicht erwehren, ob die Seele dieses Jungen nun zwischen den Winden verloren war, als sie sein zerschmettertes Gesicht betrachtete.

Nachdem sie ihn eine Weile gemustert hatte, kehrte sie wieder in die Gegenwart zurück, und sie senkte den Blick. Sie erkannte ihn nicht. Nicht ohne Augen und mit den blutverschmierten Zügen. Aber vermutlich wäre das jedem so ergangen.

Lena rappelte sich auf und suchte den Boden vergeblich nach Geschosshülsen ab. Als sie hochblickte, bemerkte sie, dass Sanchez und Rhodes neben Barrera standen. Sie hatte sie nicht hereinkommen hören, und nun schien Barrera sie aus unerklärlichen Gründen zurückzuhalten. Doch eigentlich spielte es keine Rolle. Beide Detectives wirkten nach zwei Arbeitstagen ohne Schlaf und dem gestrigen Grillabend als krönendem Abschluss erschöpft und hatten glasige Augen.

Lena wandte sich an den stellvertretenden Polizeichef. »Erzählen Sie mir, was los ist.«

Ramsey öffnete eine Rolle Bonbons und legte sich seine Worte sorgfältig zurecht.

»Escabar hat die Leichen gefunden, jedoch die Polizei erst angerufen, nachdem er alle Gäste gewarnt hatte. Die Detectives aus Hollywood waren gegen halb zwei hier. Sie haben Bosco identifiziert und den Fall an die Mordkommission weitergeleitet. Daraufhin erschienen zwei Ihrer Kollegen, identifizierten auch den Jungen und verständigten Ihren Vorgesetzten. Frank hat mich informiert, und ich habe den Polizeichef in seinem Hotel in Philadelphia unterrichtet. Als wir ankamen und sich alle Angaben als richtig erwiesen, habe ich den Chef noch einmal angerufen, und wir haben eine Entscheidung gefällt. Anschließend hat Frank Sie herbeordert.«

Lena fragte sich, ob Ramsey wohl klar war, dass eine gerade Linie noch immer die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten darstellte. Wer genau wen angerufen hatte – oder auch nur warum –, spielte jetzt keine Rolle mehr. Nur dass der zweite Tote nicht Higgins war.

»Wer ist er?«, fragte sie.

»Ein Wichser«, erwiderte Ramsey. »Ein richtiges Arschloch. Der macht uns jetzt als Toter genauso viel Ärger wie zu Lebzeiten. Deshalb haben wir Sie an Ihrem freien Tag gestört. Die Polizei braucht Sie jetzt. Ihre Kollegen, Gamble.«

Ramsey nahm einen Asservatenbeutel mit zwei Brieftaschen aus der Jackentasche und reichte ihn ihr.

»Die wurden da drüben im Müll gefunden«, erklärte er. »Der Mörder hat das Geld mitgenommen, aber die Kreditkarten zurückgelassen. Johnny Bosco hatte bekanntermaßen immer große Mengen Bargeld bei sich. Direkt vor diesen offenen Fenstern ist eine Feuerleiter. Sein Partner, Dante Escabar, geht von einem Raub aus und meint, dass wir diese Sauerei einem Profi zu verdanken haben. Was denken Sie?«

Nach einem Blick auf den Toten drehte Lena sich wieder zum Polizeichef um. Sie senkte die Stimme, da sie Ramsey anmerkte, dass er ihre Antwort bereits kannte. Was sollte dieses Theater? Warum beharrte er auf dieses Zeitlupentempo?

»Die Zielperson war Nummer zwei, nicht Bosco«, entgegnete sie.

»Sind Sie sicher?«

Lena nickte.

»Der Täter kannte ihn. Die Sache riecht nach einem Racheakt. Einem Freund pustet man nicht die Augen weg, und man vergeudet seine Zeit nicht damit, einen Toten zu erschießen, den man nicht kennt, sondern ergreift die Flucht.«

Ramsey musterte sie forschend. Sein Blick fühlte sich an wie Nadelstiche.

»Wie lange sind Sie schon bei der Mordkommission, Gamble?«

»Lange genug, um zu sehen, dass wir es hier nicht mit einem Raubüberfall zu tun haben und dass der Täter kein Profi war. Es ging um etwas Persönliches.«

»Ich teile diese Auffassung«, erwiderte er. »Allerdings weiß ich im Gegensatz zu Ihnen, wer der Tote ist. Erklären Sie mir, warum Sie von einem persönlichen Motiv ausgehen, Detective. Ich will es von Ihnen hören.«

»Wenn es um Raub ginge, wäre das Koks nicht mehr da. Und wenn der Täter ein Profi wäre, würden die Brieftaschen noch in den Hosentaschen der Opfer stecken. Kein Profi hätte das Bargeld mitgenommen. Höchstens eine von Boscos Kreditkarten, weil allgemein bekannt ist, dass er Geld hatte wie Heu. Eine Karte mit einem ordentlichen Kreditlimit, deren Fehlen in den ersten ein oder zwei Tagen niemand bemerkt. Länger würde er nicht brauchen, um das Konto leer zu räumen.«

Während Ramsey ihre Worte auf sich wirken ließ, wechselte Lena einen Blick mit Rhodes und öffnete den Asservatenbeutel. Sie hatte die Warterei ebenso satt wie das Frage-und-Antwort-Spiel an einem Tatort, wo alles auf der Stelle trat. Lena legte die lederne Brieftasche beiseite und griff nach der anderen aus Nylon und mit Klettverschluss. Sie nahm den Führerschein heraus und hielt ihn ans Licht.

Das Opfer war fünfundzwanzig Jahre alt. Als sie den Namen las, begannen ihre Finger wieder zu zittern. Endlich verstand sie, warum der Polizeichef so verstört war. Warum Barrera ihr den ganzen Abend nicht hatte in die Augen schauen können. Warum es keine Rolle spielte, dass Escabar die Gäste nach Hause geschickt hatte, bevor er die Polizei rief. Und warum es nicht einmal von Bedeutung war, dass die Seele des Opfers für immer zwischen den Winden umherirrte.

Der Polizeichef hatte recht. Den Jungen, dem das Licht ausgepustet worden war, als Arschloch und Wichser zu bezeichnen wäre noch beschönigend gewesen. Und er würde tot tatsächlich noch mehr Ärger machen als zu Lebzeiten.

Als sie jemanden hinter sich spürte, wurde ihr klar, dass Ramsey ihr über die Schulter spähte. Er starrte auf den Führerschein, ohne ihn zu sehen, und wirkte völlig in seine ganz persönliche Verzweiflung versunken.

»Jacob Gant«, flüsterte er mit angespannter Stimme. »Jetzt wissen Sie, warum wir Sie brauchen, Gamble. Jetzt wissen Sie, warum die Kacke am Dampfen ist.«

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