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Es war einer der Fälle, bei denen man bei jeder neuen Wendung und jedem kleinen Fortschritt Hoffnung schöpfte, nur um im nächsten Moment wieder enttäuscht zu werden. So war es von Anfang an gewesen, als Lena den Club 3 AM betreten und festgestellt hatte, dass es sich bei einem der beiden Toten um Jacob Gant handelte. Und genauso verhielt es sich nun mit Pete Londons Geschichte, Buch und Regie: sein Freund Tim Hight.

Auf der Fahrt in die Westside heute Morgen hatte Lena KPCC gehört, einen Nachrichtensender mit Sitz in Pasadena. Der Moderator hatte einen Baseballspieler im Frühjahrstraining in Clearwater, Florida, interviewt, einen Star, der durchschnittlich fünfzig Homeruns pro Jahr für sich verbuchte und als sicherer Kandidat für die Ruhmeshalle des Sports galt, sobald er sich zur Ruhe setzen würde. Am meisten hatte Lena an diesem Interview gefesselt, wie der Spieler sich im letzten August aus einem Leistungstief freigestrampelt hatte. Nach einer ausgedehnten Serie von Pannen war ihm klar geworden, dass die Statistik sich zu seinen Gunsten entwickeln würde, je länger sich die Pechsträhne hinzog. Je länger er keinen Ball traf, desto mehr wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Blatt schlagartig wendete.

Vaughan ging die DVDs durch, die sich neben seinem Computer und einem Kopfhörer stapelten. Er wollte Lena einen Ausschnitt aus Gants Gerichtsverhandlung vorführen, wegen des Abhörgeräts in Vaughans Telefon leider ohne Ton. Lena wusste, dass sie eigentlich nicht über die nötigen Qualifikationen verfügte, um einen Raum auf Wanzen zu durchsuchen. Doch nachdem sie Bobby Rathbone im letzten Jahr bei der Überprüfung ihres Hauses zugesehen hatte, kannte sie die typischen Verstecke. Unerfreulicherweise schienen außer im Telefon noch mindestens drei weitere Mikrofone im Zimmer installiert worden zu sein.

»Wir verschwinden«, raunte er ihr zu.

Nachdem Vaughan die DVD eingesteckt hatte, gingen sie in ein anderes Büro am Ende des Flurs. Lena trat ein, Vaughan folgte ihr und schloss die Tür.

»Hier sind wir ungestört«, meinte Vaughan. »Der Besitzer ist im Urlaub.«

»Dein Büro ist verwanzt, Greg.«

Vaughan schob einen Stuhl zum Computer und schaltete den PC ein.

»Ich weiß«, erwiderte er. »Seitdem telefoniere ich immer hier.«

»Ich rede nicht nur von deinem Telefon. Ich habe nämlich noch drei von den Dingern entdeckt, und dabei bin ich nicht einmal Profi.«

Er zuckte zusammen und blickte sie an.

»Wo?«

»In dem Überspannungsschutz, in den dein Computer eingestöpselt ist. Das war einfach, weil ich bei mir letztes Jahr an genau der gleichen Stelle etwas gefunden habe.«

»Und wo sind die anderen beiden?«

»In der Abdeckung der Steckdose über dem Sideboard und die andere genau gegenüber von deinem Schreibtisch. Sie nehmen beide Bild und Ton auf. Wenn du auf die Abdeckung schaust, erkennst du sie. Das ist keine Schraube zur Befestigung der Abdeckung, sondern eine winzige Kamera.«

Wie betäubt ließ Vaughan sich auf den Stuhl fallen.

»Also beobachten die mich und sehen alles, was ich tue.«

»Das Signal ist wahrscheinlich nicht so stark, dass es bis auf die Straße reicht.«

»Das braucht es auch nicht«, erwiderte er leise. »Bennetts Büro ist genau über meinem.«

Er atmete tief durch. Offenbar wurde ihm die Tragweite der Situation erst jetzt richtig bewusst.

»Zeig mir den Filmausschnitt«, sagte sie.

Er nickte, nahm sich zusammen und legte die DVD in den Computer ein. Als auf dem Bildschirm ein Menü erschien, blätterte er eine lange Liste von Dateien durch und drückte schließlich auf PLAY.

Der Filmausschnitt begann mit einer Aufnahme von Jacob Gant, der neben Buddy Paladino im Gerichtssaal saß. Lena rückte näher heran, um besser sehen zu können. Angesichts dessen, was sie mittlerweile über ihn in Erfahrung gebracht hatte, war es komisch, Jacob Gant dort lebendig sitzen zu sehen. Wenn man bedachte, dass Gants Vorrat an Glück und Lebenszeit knapp bemessen war und das Schicksal bald eine tödliche Wendung nehmen sollte.

»Das ist es noch nicht«, sagte Vaughan. »Noch eine halbe Minute.«

Lena hörte eine Tonspur. Debi Watsons Stimme, die jemandem eine Frage stellte …

»Jetzt, pass auf.«

Die Kamera machte einen scharfen Schwenk zu Cobb im Zeugenstand. Er hielt einen von Lilys Stiefeln in der Hand, der hinter ihrer Leiche neben dem Bett gefunden worden war. Cobb wirkte gelassen, als Watson ihn mit Fragen bombardierte. Er trug einen grauen, ausgesprochen eleganten Anzug. Vermutlich hatte er ihn sich eigens für den Auftritt vor Gericht gekauft. Wäre sie eine Geschworene gewesen, sie hätte sich wohl auch von seinem Beruf und seinem Auftreten beeindrucken lassen.

»Detective Cobb, in wie vielen Mordfällen haben Sie ermittelt?«, fragte Watson.

»Ich bin nicht sicher, ob ich mich noch an die genaue Zahl erinnere. Immerhin bin ich seit fünfundzwanzig Jahren bei der Mordkommission.«

»Würden Sie sagen, dass es mehr als hundert gewesen sind?«

»Ja«, entgegnete Cobb.

»Mehr als zweihundert?«

»Leider ja.«

»Sie würden sich also als erfahrenen Detective bezeichnen«, stellte Watson fest. »Als alten Hasen, der sich mit den unterschiedlichsten Tatorten sehr gut auskennt. Sie haben so etwas schon öfter gesehen und wissen, worauf man achten muss. Tatorte sind seit fünfundzwanzig Jahren Ihr Metier.«

Cobb schaute zu den Geschworenen hinüber, lächelte höflich und antwortete mit »Ja«.

»Dann wollen wir einmal zum Tatort zurückkehren. Vor einigen Minuten sagten Sie, Ihnen sei schon beim Anblick von Lilys Leiche klar gewesen, dass die Tote vor ihrer Ermordung sexuell missbraucht worden war. Was genau haben Sie gesehen?«

»Ihr Unterhöschen war über die Taille gezogen«, erwiderte Cobb mit Nachdruck. »Ich konnte Blut an ihren Oberschenkeln erkennen. Und das stammte nicht von der Verletzung an der Brust, sondern kam zwischen ihren Beinen hervor.«

Watson gab den Geschworenen Zeit, Cobbs letzte Antwort auf sich wirken zu lassen. Dann nahm sie Cobb den Stiefel aus der Hand und tat, als mustere sie ihn. Nach einer Weile gab sie ihn ihm zurück.

»Die Jeans hatte man ihr ausgezogen«, sagte sie schließlich. »Und auch die Stiefel und die Socken, alles lag auf einem Haufen. Wo haben Sie die Sachen entdeckt, lagen sie in der Nähe von Lilys Leiche?«

Die Kamera schwenkte zu Watson, die offenbar mit einer schnellen Antwort rechnete. Doch die kam nicht. Als die Staatsanwältin sich wieder an Cobb wandte, wirkte sie verärgert. Trotz des winzigen Bildes bemerkte Lena sofort, dass Cobbs Gelassenheit plötzlich wie weggeblasen war, denn der Schweiß brach ihm aus.

Als Watson die Frage wiederholte, rutschte Cobb nur schweigend auf seinem Stuhl herum.

»Detective?«, hakte sie nach. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Verzeihung«, stammelte Cobb. »Aber könnte ich ein Glas Wasser haben?«

Der Bildschirm wurde schwarz; der Filmausschnitt war zu Ende. Vaughan drehte sich zu Lena um.

»Nach dem Glas Wasser ist er wieder fit.«

Lena setzte sich an den Schreibtisch.

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich bin nicht sicher«, sagte Vaughan. »Irgendetwas ist passiert, und ich glaube nicht, dass er einen Herzinfarkt hatte.«

»Hältst du das mit dem Wasser für einen Versuch, Zeit zu schinden?«

Vaughan zuckte die Achseln.

»Vielleicht, doch warum? Watson hatte ein hübsches Frage-und-Antwort-Spiel am Laufen. Paladino hat sie in Ruhe gelassen und keinen Einspruch erhoben. Cobb hat von seiner Berufserfahrung berichtet und gab den entspannten vorbildlichen Detective. Und plötzlich hat man den Eindruck, als müsste sein Gehirn wieder hochgefahren werden. Er kriegt keinen Ton mehr raus. Man hat ihm gerade eine ganz einfache Frage gestellt, und er kann sie nicht beantworten. Er findet die richtigen Wörter nicht. Und sobald er einen Moment hatte, um sich zu sammeln, ist er für den restlichen Tag gut drauf.«

»Möglicherweise haben die ihn nicht gründlich genug gedrillt.«

»In einem so wichtigen Prozess. Bist du verrückt?«

»Oder er hat sich nicht gut genug vorbereitet«, beharrte Lena.

»Das kann nicht sein, der Prozess war zu wichtig.«

»Oder er hatte ein Drehbuch und hatte einfach seinen Text vergessen.«

»In jedem Prozess gibt es ein Drehbuch. Wenn er den Text vergessen oder nicht mehr gewusst hätte, wo genau die Kleidungsstücke gefunden worden sind, hätte er Theater spielen können, bis Watson die Frage wiederholt, und dann wäre alles in Ordnung gewesen.«

Lenas Mobiltelefon piepte. Martin Orth vom SID versuchte sie schon seit fünf Minuten zu erreichen. Ihr Telefon suchte ein Signal, das jedoch immer wieder abbrach.

»Ich muss einen Anruf erledigen«, sagte sie. »Wie telefoniere ich nach draußen?«

Vaughan schob das Telefon zu ihr hinüber.

»Die Neun«, erwiderte er. »Wen willst du anrufen?«

Lena sah ihn an.

»Orth.«

Als Orth abhob, erkannte sie am Klang seiner Stimme, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Das Blut an Hights Schuh«, sagte sie.

»Nicht der Schuh, Lena. So weit sind wir noch nicht. Vielleicht später oder morgen.«

»Was ist es dann? Was ist los?«

Orth zögerte einen Moment. Seine Stimme zitterte.

»Die Jeans des Mädchens«, antwortete er schließlich. »Sie hatten recht. Die Hose wurde ihr gewaltsam ausgezogen, sodass genügend Hautzellen für ein DNA-Profil zurückgeblieben sind.«

Lena sah Vaughan an, der das zweite Mobilteil nahm, um mitzuhören.

»Haben Sie die Ergebnisse?«, fragte Lena.

»Ja, aber ich glaube, Sie sollten sich vorher setzen.«

Lena wechselte einen Blick mit Vaughan. Sie platzte fast vor Neugier.

»Ich bin bei Greg«, entgegnete sie. »Schießen Sie los, Marty. Wer war es? Jacob Gant oder Tim Hight?«

»Genau darum geht es, Lena. Deshalb sollten Sie sich ja setzen.«

»Wer hat Lily umgebracht?«, beharrte sie.

Orth brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.

»Genau darum geht es ja, Lena«, wiederholte er. »Es war weder Gant noch Hight, sondern ein dritter Mann.«

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