5
Lena traf Dante Escabar an einem Tisch neben dem Pool an. Obwohl er offensichtlich lieber allein sein wollte, zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich. Es verging eine Weile, bis er sie überhaupt zur Kenntnis nahm, so tief war er in sich selbst versunken. Er trank Bourbon und brütete vor sich hin, während sich die grellblauen Lichtblitze des Wassers in seinen dunklen Augen spiegelten.
»Ich habe Ihren Leuten schon alles gesagt, was ich weiß«, sagte er schließlich.
Dabei blickte er nicht auf, sondern starrte weiter in seinen Drink, in dem das Eis langsam schmolz.
»Manchmal geht im Eifer des Gefechts etwas unter«, entgegnete Lena.
»Eifer des Gefechts? Nennt man das jetzt so bei der Polizei?«
Sie hörte die unterdrückte Wut in seiner Stimme. Den Hass. Escabar war mindestens zehn Jahre jünger als sein Geschäftspartner, ein attraktiver Mann mit glatter brauner Haut, einem kräftigen Körperbau und schwarzem, seidenweichem Haar, das ihm bis kurz über die Schultern reichte. Lena wusste nicht viel über ihn, weil Bosco den Club 3 AM nach außen vertreten hatte. Allerdings hatte sie irgendwo gelesen, dass Escabar in seiner Jugend ein Straßenkind gewesen war. Sein langer Weg nach oben hatte in einer Tacobude am San Fernando Boulevard begonnen, bis er irgendwann Bosco begegnet war, der ihn unter seine Fittiche genommen hatte. Vor einigen Monaten hatte die Times Escabars Haus am Mullholland Drive und die Schauspielerin fotografiert, mit der er zusammenlebte. Obwohl sein gesellschaftlicher Aufstieg nun schon eine Weile her war, fragte sich Lena, ob er noch zu Gewalttätigkeit neigte. Sie beobachtete, wie er einen großen Schluck aus seinem Glas trank und den Blick auf einen Punkt neben dem Pool richtete.
»Wie sehr profitieren Sie von Johnny Boscos Tod?«, fragte sie.
»Was soll das heißen?«
»Was springt für Sie dabei heraus?«
Endlich drehte Escabar sich zu ihr um.
»Sie haben recht, Officer. Nach dem, was heute Nacht hier passiert ist, werde ich ein reicher Mann sein. Ich habe gemütlich rumgesessen und die verdammte Kohle in meinem Kopf zusammengezählt. Während Sie Schwachköpfe die letzten drei Stunden damit verbracht haben zu vertuschen, dass jeder Einzelne von Ihnen Scheiße gebaut hat, habe ich hier draußen die Ermordung meines besten Freundes gefeiert.«
Eine Pause entstand. Lange Zeit herrschte angespanntes Schweigen.
»Ich weiß, dass es nicht leicht ist«, sagte Lena. »Der Zeitpunkt ist mehr als ungünstig. Aber ich muss ein paar Punkte klären, und zwar schnell.«
Escabar trank noch einen kräftigen Schluck Bourbon.
»Für mich klingt es, als ob Sie da noch einiges mehr zu klären hätten. Sie liegen voll daneben.«
»Das hoffe ich«, erwiderte Lena. »Doch ich brauche Antworten.«
»Hier geht es nicht um meinen Partner, sondern um dieses kleine Arschloch.«
»Wie viel bringt Ihnen der Tod Ihres Partners ein?«
Escabar betrachtete sie mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln.
»Nada«, verkündete er. »Absolut nichts. Keinen einzigen Cent. Ich habe das große Glück, einer von sieben Partnern zu sein.«
»Wer sind die anderen fünf? Studiobosse?«
»Drei davon. Die anderen beiden sind Schauspieler. Wenn Sie ihre Namen brauchen, müssen Sie unseren Anwalt anrufen. Doch es profitiert niemand von Johnnys Tod. Der Club ist durch seine Kontakte zu den Studios entstanden. Es war sein Laden. Seine Idee. Nichts ändert sich, nicht einmal die Beteiligungen. Er hat Angehörige an der Ostküste, South Jersey. Seine Eltern. Falls Sie wirklich Lust haben, Ihre Zeit zu verschwenden, reden Sie mit denen. Vielleicht haben die ja heute Nacht ihren einzigen Sohn umgelegt. Oder Sie müssen der Tatsache ins Auge schauen, dass Johnny Bosco tot ist, weil die Polizei ihren Job nicht auf die Reihe kriegt. Deshalb musste ein anderer Jacob Gant ausschalten, und dieser Jemand hat Scheiße gebaut und Johnny umgebracht. Offenbar ist der Typ noch unfähiger als Sie.«
Escabar wandte sich ab. Während Lena über seine Worte nachdachte, musterte sie seine Körperhaltung und seine Hände und erinnerte sich an seinen Gesichtsausdruck. Obwohl sie ihm nicht traute, hielt sie seine Reaktion auf ihre Fragen für echt. Anscheinend trog ihr Bauchgefühl sie nicht: Gant war die eigentliche Zielperson gewesen und Bosco dem Täter nur in die Quere gekommen.
»Warum haben Sie dem stellvertretenden Polizeichef gesagt, Sie vermuteten einen Raubüberfall?«, erkundigte sie sich.
Escabar blieb regungslos, zuckte nicht mit der Wimper; sein Blick war in die Vergangenheit gerichtet.
»Ich habe Schüsse gehört«, erwiderte er, inzwischen ruhiger. »Als ich nach oben lief, habe ich sie gefunden. Johnny lag auf dem Boden. Aber das Gesicht des Jungen war so voller Blut, dass ich ihn nicht erkannt habe. Nachdem ich wusste, wer er war, wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte. Es war kein Raubüberfall.«
»Wer hat Ihnen seinen Namen genannt?«
»Keine Ahnung. Ich habe nach Ihrer Ankunft ein Gespräch zwischen einigen Polizisten in der Bar aufgeschnappt.«
»Wann haben Sie die Schüsse gehört?«
»Gegen halb eins«, antwortete er.
»Was hat Gant hier gewollt? Warum war er oben bei Bosco?«
Escabar kippte seinen Drink auf den Boden und stellte das Glas weg.
»Dasselbe habe ich mich auch schon gefragt. Keinen blassen Schimmer.«
»Haben Sie ihn schon einmal hier gesehen, Dante?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Hat Bosco je über ihn geredet oder seinen Namen erwähnt?«
»Nie.«
»Was ist mit dem Vater des Mädchens? Was ist mit Tim Hight?«
Obwohl das blaue Flackern Escabars Augenausdruck kaschierte, schien sich etwas zu verändern. Er überlegte. Offenbar flammte seine Wut wieder auf.
»Er kennt den Club«, sagte Escabar. »Vor langer Zeit, ehe seine Tochter ermordet wurde, war er manchmal hier. Nicht oft, aber oft genug, um sich auszukennen.«
»Wie ist Tim Hight denn in den Club 3 AM reingekommen?«
»Er hat früher Regie bei einer Show im Kabelfernsehen geführt. Sie hat den Leuten gefallen und war recht erfolgreich.«
»Haben Sie ihn heute hier gesehen?«
»Nein, und ich habe bereits alles überprüft. Er ist nicht zum Haupteingang reingekommen und auf die Liste eingetragen worden. Aber er kannte sich ja, wie gesagt, aus.«
Escabars Stimme erstarb. Nach einer Weile stand er mühsam auf und stützte sich am Tisch ab. Als Lena nach rechts schaute, stellte sie fest, dass Barrera ihr durch die Fenster zuwinkte. Er ging auf der Suche nach einer Tür durch das Foyer.
»Ich hätte noch eine Frage, Dante?«
»Nur eine, Detective Gamble?«
»Sie kennen meinen Namen.«
Er nickte wortlos.
»Das Kokain«, begann sie. »Sie wussten, dass es dort lag. Warum haben Sie es nicht beseitigt?«
Er hielt nachdenklich inne.
»Welches Kokain? Ich habe kein Kokain gesehen. Der Mörder muss es mitgebracht haben.«
»Guter Versuch. Warum haben Sie es nicht beseitigt?«
Er betrachtete sein leeres Glas und antwortete nicht.
»Wie bitte?«, hakte Lena nach. »Glauben Sie, dass ich Ihrem Partner was anhängen werde? Ich glaube, nach dem, was heute Nacht passiert ist, hätte ich vor Gericht keine Chance. Verraten Sie mir, warum Sie es liegen gelassen haben.«
Die Tür öffnete sich, und Barrera kam heraus. Als er sich von der anderen Seite des Innenhofs näherte, senkte Escabar die Stimme.
»Ich habe versucht, mich um alles zu kümmern«, erwiderte er. »Ich musste meine Partner anrufen und ihnen mitteilen, was Johnny zugestoßen ist. Es war ein ziemliches Durcheinander. Alle hatten Angst. Ich habe mir eine Stunde Zeit genommen, um den Laden dichtzumachen.«
»Haben Sie den Staatsanwalt verständigt?«
Die Frage überraschte ihn offenbar, und er schien um eine Antwort verlegen.
»Sie waren Freunde«, fuhr Lena fort. »Also wäre es nur natürlich gewesen, wenn Sie Higgins zuerst informiert hätten.«
Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts.
»Ist das eine Antwort?«, fragte sie.
»Ich habe den Staatsanwalt nicht informiert.«
Als Barrera zu ihnen stieß, ging Escabar davon. Lena wandte sich zu ihrem Vorgesetzten um. Nach seiner Miene zu urteilen, hatte Barrera Neuigkeiten.
»Wir haben ihn«, flüsterte er. »Tim Hight ist unser Mann. Überwachungskameras an der Straße haben aufgenommen, wie er vom Club wegfuhr. Sein Auto. Sein Nummernschild. Man konnte sein Gesicht am Steuer erkennen.«
»Wann?«
»Vor etwa einer halben Stunde. Wahrscheinlich hat er sich hier herumgedrückt, um die Show zu genießen. Das machen die meisten so.«
Lena sah auf die Uhr. Die Nacht verging rasch. Zu viele Personen waren beteiligt.
»Ich möchte Gants Eltern benachrichtigen«, sagte sie. »Sie sollen nicht durch die Medien herausfinden, was passiert ist.«
»Er hatte einen Vater und einen Bruder. Die Mutter ist tot.«
Das war auch während des Prozesses erwähnt worden. Gants Mutter war einem Mord zum Opfer gefallen, als er vierzehn Jahre alt gewesen war. Man hatte ihre Leiche auf einem Sportplatz gefunden, einen Häuserblock entfernt von der Santa Monica Highschool. Als Barrera Lena die Karteikarte mit Gants Kontaktdaten reichte, wurde ihr klar, dass sie nicht so voreilig sein durfte. Sie musste gründlicher nachdenken und sich besser konzentrieren.
»Nehmen Sie Rhodes mit«, sagte Barrera. »Tito kann mir mit den richterlichen Anordnungen helfen. Aber danach brauchen die Jungs Ruhe. Ich möchte sie nach Hause schicken, sobald Sie mit Gants Vater geredet haben. Um sieben treffen wir uns wieder im Parker Center. Der stellvertretende Polizeichef arrangiert eine Besprechung mit der Staatsanwaltschaft. Dann können wir alles erörtern, einverstanden?«
Sie nickte und steckte die Karte in ihren Notizblock. Barrera sah sie an und zuckte die Achseln.
»Tut mir leid, Lena«, sagte er leise. »Ein Jammer, dass Hight wirklich der Täter ist und dass Sie diesen Fall am Hals haben. Ich habe die ganze Zeit gehofft, dass wir uns irren.«
»Schon gut, Frank, alles in Ordnung.«
»Mag sein, aber das ändert nichts daran, dass die Sie benutzen. Wenn man bedenkt, wie Ihre letzten beiden Fälle ausgegangen sind, haben Sie bei denen da oben einen Stein im Brett. Und das werden sie skrupellos ausnützen, glauben Sie mir.«
»Ich sorge dafür, dass wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen«, entgegnete Lena.
Barreras Lippen unter dem Schnurrbart verzogen sich zu einem freundlichen Lächeln.
»Ich habe denen gesagt, dass Sie so reagieren würden. Und jetzt schnappen Sie sich Rhodes, und ab durch die Mitte mit Ihnen. Und nicht vergessen, Hight wohnt nebenan. Also halten Sie die Augen offen. Seien Sie vorsichtig und gehen Sie kein Risiko ein.«