20

Da Lena Vaughan nicht mobil erreichen konnte, hastete sie durch das Untergeschoss zum Aufzug am Ende des Flurs. Sie hatte die Abkürzung vom Parkhaus genommen und das Parker Center durch die Hintertür betreten. Es war nach Dienstschluss und dunkel. Bis auf zwei entfernte männliche Stimmen war es still. Als Lena an der Herrenumkleide vorbeikam, hörte sie sie durch die Tür. Sie lachten über etwas, und Lena beneidete sie um ihre Sorglosigkeit und die lockere, freundschaftliche Stimmung.

Die Kugel, die Johnny Boscos Leben beendet hatte, war von hinten eingedrungen, hatte die Wirbelsäule verfehlt und die Aorta durchtrennt. Im Magen war sie dann mit einem Käseburrito zusammengetroffen, der sie blockiert hatte wie ein Schaumstoffwürfel. Nach Kosinskis Schätzung hatte Bosco den Burrito etwa zwanzig Minuten vor seinem Tod verspeist, und das Ergebnis war ein unversehrtes Geschoss Kaliber neun Millimeter. Sobald die Kugel aus Jacob Gants Unterleib entfernt und die zweite Autopsie beendet war, würde man beide Geschosse per Boten ans kriminaltechnische Labor schicken. Allerdings schien die Sache noch immer nicht dringlich zu sein. Nicht, solange Tim Hights Pistole fehlte.

Als sich die Aufzugtüren im zweiten Stock öffneten, ging Lena mit schnellen Schritten den Flur entlang ins Großraumbüro. Die Deckenbeleuchtung war gedämpft, der Raum menschenleer. Sie eilte an Barreras Schreibtisch vorbei und den Mittelgang entlang und stellte fest, dass ihr Chef sie im Büro des Captain erwartete. Er saß am Konferenztisch, zog an dem Überrest einer Zigarre und schnippte die Asche in eine leere Dose Pepsi light. Außerdem standen einige Pappboxen mit chinesischem Essen und ein Telefon in einem an die Steckdose angeschlossenen Ladegerät auf dem Tisch. Als Lena die Tür öffnete, nickte Barrera ihr zu und deutete auf einen Stuhl. Er wirkte abgemagert und erschöpft. Und er hatte dunklere Ringe unter den Augen als heute Morgen.

»Geben Sie sie mir«, sagte er.

Lena nahm die Fallakte aus dem Koffer und schob sie über den Tisch. Barrera zog den Ordner näher zu sich heran, ohne Lena aus den Augen zu lassen.

»Cobb hat Bennett angerufen«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. »Und der hat wiederum den Oberstaatsanwalt verständigt. Der Oberstaatsanwalt hat versucht, den Polizeichef zu erreichen, allerdings vergeblich. Als er es dann bei Ramsey probiert hat, hat dieser sich verleugnen lassen, und so ist er schließlich bei Peltre gelandet. Der hat sich daraufhin bei mir gemeldet. Dafür sind Freunde da.«

Er ließ es darauf beruhen und zog weiter nachdenklich an seiner Zigarre, ehe er fortfuhr.

»Die haben alle Ihretwegen die Hosen voll, Lena. Cobb, Bennett und Higgins wollen, dass Sie fliegen. Oder es hat sogar weiter reichende Konsequenzen für Sie. Mit Vaughan würden die es am liebsten genauso machen, aber das schaffen sie nicht. Denn dann müssten Bennett, Watson oder Higgins den Fall übernehmen, und das kommt für sie nicht in die Tüte. Also ist Vaughan aus dem Schneider. Seine Karriere kann er zwar vergessen, aber er behält seinen Job. Ganz im Gegensatz zu Ihnen. Auch wenn der stellvertretende Polizeichef glaubt, sich auf Ihrem Erfolg in den letzten beiden Fällen ausruhen zu können, sind Sie noch nicht lange genug im Geschäft, als dass man nicht auf Sie verzichten könnte. Verstehen Sie, was ich meine? Für die da oben haben Sie ein Verfallsdatum, und es wird Ihnen in der Chefetage niemand eine Träne nachweinen.«

Lena nickte wortlos und dachte dabei an Cobb. Er hatte sich Unterstützung geholt – allerdings nicht bei seinem Vorgesetzten, sondern bei Bennett. Ihr gefiel das nicht.

Barrera beugte sich vor. »Das, was ich Ihnen heute Morgen erklärt habe und was der Chef Ihnen bei dieser Sitzung klarmachen wollte, gilt noch immer. Ihre Aufgabe ist es, Hight die Morde an Johnny Bosco und Jacob Gant nachzuweisen, und zwar ein bisschen plötzlich. Der Mordfall Lily Hight hat nichts mit diesen Ermittlungen zu tun, und das wird auch so bleiben. Warum muss ich das überhaupt betonen, Detective? Wir sollen die Vergangenheit ruhen lassen und nach vorne schauen. Hight ist eine tickende Zeitbombe. Wer ihn falsch anfasst, stirbt. Dann sind wir alle tot. Und währenddessen veranstalten Sie ein Tamtam, als ob wir das falsche Arschloch vor Gericht gestellt hätten! Kein Wunder, dass alle im Karree springen. Ich auch. Der Kerl, der Lily Hight ermordet hat, wurde letzte Nacht erschossen. Sein Name ist Jacob Gant, und er ist tot.«

Lena blickte auf den Aktenordner und dann Barrera an.

»Ich wollte von Cobb nur wissen, warum für ihn Hight als Mörder seiner Tochter nicht in Frage kam, Frank. Das war eine berechtigte Frage, die wohl jeder gestellt hätte. Und die Fallakte brauche ich wegen der Hintergrundinformationen. Was ich laut Cobb angeblich gesagt oder gedacht habe, ist sein Problem, nicht meins.«

»Wenn das so ist, würde mich interessieren, warum Vaughan sich gerade die Bandaufzeichnungen vom Prozess gegen Gant anschaut.«

Lena zuckte die Achseln und überlegte, ob diese Geste wohl als Lüge ausgelegt werden konnte. In dieser Situation vermutlich schon.

»Davon wusste ich nichts«, erwiderte sie. »Aber ich wage die Vermutung, dass er es aus denselben Gründen tut, aus denen ich die Fallakte einsehe. Wir versuchen, uns so schnell wie möglich auf den neuesten Stand zu bringen.«

Als er ihr in die Augen sah, hielt sie seinem Blick lange stand. Sie war nicht sicher, ob er ihr glaubte, und kam sich ziemlich hinterhältig vor, weil sie ihn so an der Nase herumführte. Doch im nächsten Moment schob er die Akte unaufgefordert wieder zu ihr herüber.

»Gut«, sagte er, während er sie noch immer abschätzend musterte. »Einverstanden. Sie wollen nur auf dem neuesten Stand sein und brauchen Hintergrundinformationen. Aber ich muss wissen, was hier gespielt wird. Sie spazieren unangekündigt in die Pacific Station und stellen solche Forderungen … Da möchte ich ab jetzt im Voraus informiert werden, okay?«

»Okay«, wiederholte sie.

Barrera lehnte sich zurück und zündete sich mit einem Streichholz die ausgegangene Zigarre an.

»Und jetzt verraten Sie mir mal, was Sie mit diesem Klatschreporter angestellt haben.«

Lena starrte ihn verständnislos an. Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete.

»Dick Harvey«, fuhr er fort. »Was haben Sie und Rhodes letzte Nacht vor dem Club 3 AM mit ihm gemacht?«

Dick Harvey. Endlich fiel bei ihr der Groschen. Seitdem schien eine Ewigkeit vergangen zu sein.

»Er hatte sich durch die Polizeiabsperrung geschummelt und sich in meinem Auto versteckt«, antwortete sie. »Wir haben ihn mit einem nagelneuen Satz Dietriche auf der Rückbank erwischt.«

»Sein Anwalt gibt an, Sie hätten ihn misshandelt. Er hat ihn fotografiert und die Bilder auf Harveys Website gepostet.«

»Bilder wovon?«

»Platzwunden und Blutergüssen.«

»Ist Harvey etwa wieder auf freiem Fuß?«

Barrera schüttelte den Kopf.

»Nein, der sitzt noch hinter Schloss und Riegel. Sein Anwalt hat ihn während eines Besuchs geknipst. Was haben Sie dem Mann angetan?«

»Er hat sich geweigert auszusteigen, weshalb wir ihn gewaltsam aus dem Wagen holen mussten. Wir haben ihm Handschellen angelegt und ihm seine Rechte vorgelesen. Außerdem hatten wir den Verdacht, dass er unter Drogeneinfluss stand. Anfangs hat er versucht, mich zu beißen, aber dann hat er sich beruhigt. Als wir abgefahren sind, war alles mit ihm in Ordnung.«

»Sie zu beißen?«

Lena nickte wortlos. Barrera schaute auf sein Mobiltelefon, als erwarte er einen Anruf.

»Die behaupten, Harvey habe eine Videokamera dabeigehabt, Lena. Und alles, was Harvey in jener Nacht aufgezeichnet hat, ist auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Wissen Sie etwas darüber?«

Darüber wusste Lena sogar eine ganze Menge. Ehe sie Harvey vor Eintreffen der uniformierten Kollegen an den Laternenmast gekettet hatten, hatte Rhodes alles von den in der Baseballkappe und der Sonnenbrille versteckten Kameras gelöscht, sodass Dick Harvey von jener Nacht nichts als Erinnerungen geblieben waren. Gerade wollte sie Barrera alles beichten, aber die Antwort schien ihn nicht mehr zu interessieren. Offenbar war ein Schmierlappen wie Dick Harvey im Moment sein geringstes Problem. Insbesondere solange der keine Videoaufnahmen vorlegen konnte, die seine Vorwürfe bekräftigten.

»Ich habe mir schon gedacht, dass Sie dazu nichts sagen können«, erwiderte er. »Als ich mit Rhodes gesprochen habe, war es dasselbe. Vermutlich ist es am besten so.«

»Wo ist Rhodes?«

»Er geht einer Spur in San Diego nach. Tito ist heute Nachmittag darauf gestoßen. Es hat ihren ganzen Fall auf den Kopf gestellt. In drei oder vier Tagen müsste er zurück sein. Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal geschlafen?«

»Ich fühle mich prima.«

»Sie sehen aber nicht so aus«, entgegnete er. »Essen Sie auch genug? Möchten Sie etwas vom Chinesen?«

»Ich habe vor ein paar Stunden was gegessen.«

»Dann fahren Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Morgen muss es besser laufen als heute.«

Lena schwieg. Barreras Worte empfand sie nicht als beleidigend. Außerdem wünschte sie sich aus unerklärlichen Gründen, dass Rhodes nicht hätte wegfahren müssen. Nachdem sie die Mordakte wieder eingesteckt hatte und bereits auf dem Weg zur Tür war, drehte sie sich noch einmal um.

»Wer ist Dan Cobb?«

Die Frage schien Barrera zu überraschen, und er brauchte einen Moment, um zu überlegen. Als er endlich antwortete, war sein Tonfall nachdenklich geworden.

»Früher war er einmal ein guter Polizist«, erwiderte er.

»Dann kennen Sie ihn also.«

Barrera nickte.

»Ich kenne ihn. Sie sitzen an seinem Schreibtisch.«

»Was soll das heißen?«

»Genau das, was ich sage. Sie sind Cobbs Nachfolgerin.«

Die Zeit schien stehen zu bleiben. Als Barrera sie über den Tisch hinweg musterte, spürte Lena, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten.

»Was ist passiert?«, erkundigte sie sich.

Barrera betrachtete die Pappboxen mit dem chinesischen Essen und schob sie beiseite.

»Cobb hatte persönliche Schwierigkeiten. Er hat sich eine Auszeit genommen und wurde danach anderweitig eingesetzt. Schnee von gestern. Belassen Sie es dabei.«

Eigentlich wollte Lena es darauf nicht beruhen lassen. Doch als Barreras Mobiltelefon zu läuten anfing, winkte er sie hinaus. Lena ging ins Großraumbüro und trat hinter ihren Schreibtisch. Er bestand aus Eiche und war, wie alle Möbel auf dieser Etage, so alt wie das Gebäude selbst. Lena betrachtete die Aktenablage und die Papiere auf der Schreibtischplatte. Beinahe konnte sie sehen, wie Cobb auf ihrem Stuhl saß.

Im nächsten Moment meldete sich eine Erinnerung, etwas, das ihr gleich aufgefallen war, als man ihr nach der Beförderung diesen Schreibtisch zugeteilt hatte. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, weil sie es jeden Tag sah. Sie schob die Papiere auf der rechten Schreibtischseite weg und entdeckte die Spuren auf der Tischplatte – ein kleines Rechteck, wo der Lack im Laufe der Jahre nicht ausgebleicht war. Der Fleck hatte genau die Größe eines Fotos – wie das, das auf Cobbs Schreibtischplatte klebte. Die verschossene Aufnahme eines Sonnenuntergangs am Meer hinter einem Palmenhain, entstanden in Hawaii vor fünfzehn Jahren.

Sie wich einen Schritt zurück.

Cobb war in den Urlaub geschickt, degradiert und versetzt worden. Als er heute Nachmittag ihren Dienstausweis verlangt hatte, hatte er genau gewusst, wer sie war.

Nicht nur der frische Wind, sondern sein Ersatz.

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