7
Lena fuhr den Santa Monica Freeway hinunter und bog am Lincoln Boulevard links ab. Sie saß am Steuer von Rhodes’ Audi. Den Crown Vic hatte sie stehen gelassen, damit die Spurensicherung das Auto in Augenschein nehmen und nach Harveys schmierigen Fingerabdrücken absuchen konnte. Harvey selbst war, in der Obhut zweier uniformierter Polizisten und an einen Laternenmast gekettet, auf dem Parkplatz zurückgeblieben. Inzwischen war er sicherlich schon aufs Präsidium gebracht worden.
Bei diesem Gedanken konnte Lena sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Sie warf einen Blick auf Rhodes, der sich zurückgelehnt hatte. Seine Augenlider waren geschlossen, flatterten aber. Selbstverständlich wurde Harvey nicht wirklich des Mordes verdächtigt, doch durch das Spielchen mit dem Kerl hatte Rhodes ein wenig Dampf ablassen können. Abhängig von den Vorwürfen, die man letztlich gegen ihn erhob, würde der Reporter einige Stunden, vielleicht sogar ein oder zwei Nächte im Gefängnis verbringen. Sie würden ihn so lange wie möglich in einer Zelle schmoren lassen. Lena musste zugeben, dass ihr die Vorstellung, wie der Klatschreporter mit Desinfektionsmittel abgespritzt, in einen orangefarbenen Overall gesteckt und hinter Schloss und Riegel verfrachtet wurde, ziemlich gut gefiel.
Sie überfuhr eine rote Ampel, und dann ging es auf dem Ocean Park Boulevard den Hügel hinauf. Da die Straßen menschenleer waren, schaffte sie die Fahrt von Hollywood zum Strand in Rekordzeit. Als sie in die Sixteenth Street einbog, überlegte sie, wie sie mit dem Vater eines jungen Mannes sprechen sollte, der ungestraft mit dem Mord an einer sechzehnjährigen Nachbarin davongekommen war, nur um nun selbst erschossen zu werden. Lena war zwiegespalten, denn Jacob Gants Verbrechen an Lily Hight würde in der nächsten halben Stunde schlicht und ergreifend nicht Thema sein. Gants Vater würde genauso leiden wie jeder Elternteil, der erfuhr, dass er ein Kind verloren hatte. Ganz gleich, wie sein Sohn auch gelebt haben mochte, Lena überbrachte ihm eine Hiobsbotschaft.
Nach der letzten Kurve folgte sie der Straße um die Hügelkuppe herum. Rechts konnte sie die Main Street und den an Venice Beach angrenzenden schwarzen Ozean erkennen. Links wurde die Landschaft flacher, und es kamen immer mehr Eigenheime, Gehwege und Eichen in Sicht. Sie warf einen Blick auf die Adresse, die Barrera ihr gegeben hatte. Als sie das Haus entdeckte, schaltete sie die Scheinwerfer aus und stoppte am Straßenrand.
Gants Vater war bereits wach. Jedes Fenster im Haus war grell erleuchtet. Im Nebenhaus brannte in zwei Zimmern im oberen Stockwerk ebenfalls Licht. Als sie Rhodes wecken wollte, stellte sie fest, dass er aufmerksam durch die Windschutzscheibe starrte.
»Wer wohnt wo?«, fragte er.
»Das Haus von Tim Hight ist das linke mit dem Lattenzaun. Gants Vater wohnt auf der anderen Seite der Einfahrt.«
»Dort, wo alles hell ist.«
»Richtig«, bestätigte sie. »Er lebt mit seinem Sohn zusammen.«
Rhodes schaute auf die Uhr am Armaturenbrett und dann wieder zu Gants Haus.
»Die Lichter wären nicht an, wenn sie es nicht wüssten, Lena. Jemand hat sie angerufen.«
»So viele Leute haben es mitgekriegt, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, es geheim zu halten.«
»Wenn es sogar zu einem kleinen Schleimbeutel wie Harvey durchgesickert ist, ist es inzwischen vermutlich Stadtgespräch. Sicher war Gant schon vor uns im Bilde. Jetzt wird es noch schwieriger, ihn zum Reden zu bringen.«
Lena stellte den Motor ab. Nachdem sie ausgestiegen waren, lauschte sie in die Stille. Offenbar schlief die restliche Straße noch tief und fest. Nur die in diesem Jahr ungewöhnlich früh zum Einsatz gekommenen Klimaanlagen brummten. Trotz der Hitze spürte Lena ein Frösteln zwischen den Schulterblättern, als sie die beiden Nachbarhäuser betrachtete. Ihr erschien es seltsam, dass die beiden Familien weiterhin Tür an Tür wohnten. Nach allem, was geschehen war, verstand sie nicht, warum niemand auf den Gedanken gekommen war, sein Haus zu verkaufen und seine Zelte abzubrechen. Obwohl man zehn Straßen weiter im Landesinneren einen besseren Meerblick hatte, standen die beiden im typisch kalifornischen Stilmischmasch auf zwei Etagen aufgeblasenen Bungalows mit Veranda und Wintergarten auf Filetgrundstücken, die außerdem Platz für eine Einfahrt und Garagen boten. Soweit Lena vom Gehweg aus feststellen konnte, gehörten sogar kleine Gärten dazu. Also waren diese Häuser doch gewiss nicht schwer an den Mann zu bringen.
»Wir hätten Tito mitnehmen sollen«, sagte Rhodes.
»Warum?«
»Schau.«
Sie folgte seinem Blick über Gants Einfahrt hinweg zu Tim Hights Haus, wo sie im Wohnzimmerfenster eine Gestalt ausmachen konnte. Als sie sich dem Lattenzaun näherte, sah sie Hight, noch voll bekleidet, der sich am Küchentresen einen Drink einschenkte. Selbst aus der Entfernung erkannte sie die Flasche an ihrer blauen Farbe. Hight goss Wodka in ein sehr großes Glas.
»Es ist fünf Uhr«, stellte sie fest. »Es geht doch nichts über einen Cocktail nach einem langen Arbeitstag.«
Rhodes trat einen Schritt vor.
»Killen und Chillen, Lena. Der Mann hat offenbar eine Stärkung nötig.«
»Hast du die Zigaretten mitgebracht?«
»Nein, die habe ich auf dem Tresen liegen gelassen. Aber er scheint welche zu haben.«
Lena beobachtete, wie Hight sich eine Zigarette anzündete und nach seinem Glas griff. Beim Verlassen der Küche betätigte er den Lichtschalter, und es wurde dunkel im Haus. Kurz darauf bemerkte sie die glühende Spitze seiner Zigarette. Das Lichtpünktchen bewegte sich durchs Wohnzimmer in den seitlich am Haus gelegenen Wintergarten. Lena erkannte seine Silhouette durch die Scheibe. Vermutlich tauchte die LED-Anzeige eines Radios oder Kabelreceivers den Raum in ein gedämpftes Licht. Als Hight sich an die Fenster mit Blick aufs Nachbarhaus setzte, glomm seine Zigarette immer wieder auf. Der Mann rauchte und trank und ließ wahrscheinlich die letzten drei Stunden Revue passieren. Es war anzunehmen, dass er sich auch an alles erinnerte, was im vergangenen Jahr geschehen war – an die Bilder, die er nun sein Leben lang mit sich herumtragen musste.
Die Liebe zu seiner Tochter – dann ein Schwenk zu ihrer Leiche auf dem Boden in ihrem Zimmer. Die Justitia mit den verbundenen Augen, an der er dreimal täglich vorbeigegangen war – dann ein Schwenk zu einem gescheiterten Prozess mit katastrophalem Ergebnis. Er hatte so lange wie möglich durchgehalten, bis er schließlich unter dem Druck zusammengebrochen war und Jacob Gant die Augen ausgeschossen hatte.
Die Gerechtigkeit ist blind.
Lena hörte ein Ticken und bemerkte Hights Auto unter einer Eiche. Ein schwarzer Mercedes, der offenbar nach einer schnellen Fahrt durch die heiße Nacht abkühlte. Sie wandte sich wieder zu Rhodes um.
»Ich glaube, ich sollte allein reingehen und mit Gant reden«, flüsterte sie. »Du bleibst draußen und behältst diesen Typen im Auge.«
»Bist du sicher?«
Sie nickte und schaute wieder zu Hights geisterhafter Silhouette im Fenster hinüber.
»Vielleicht hat er genug für heute. Könnte aber auch sein, dass er noch etwas plant. Jedenfalls ist mir der Kerl nicht geheuer.«
»Mir auch nicht«, erwiderte Rhodes.
Die Tür öffnete sich zögernd. Auf der Schwelle stand ein achtzehnjähriger Junge, den Lena vom Prozess als Jacob Gants Bruder Harry wiedererkannte. Anstatt sich die Dienstmarke in ihrer Hand anzusehen, rief er nach seinem Vater, ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden.
»Sie sind da, Dad.«
Der Vater antwortete nicht. Als der Junge nach links zeigte, folgte Lena ihm durchs Esszimmer in die Küche. William Gant saß, im Bademantel und eine Tasse Kaffee vor sich, am Küchentisch. Bei Lenas Eintreten hob er die Hand, als wolle er sie zum Stehenbleiben auffordern.
»Mr Gant?«, begann sie. »Ich bin …«
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Wissen Sie was, Detective, es ist mir eigentlich egal, wer Sie sind. Falls Sie vorhaben, mir mitzuteilen, dass Jake tot ist, kommen Sie mehr als anderthalb Stunden zu spät. Und die Mühe, mir Ihr Beileid auszusprechen, können Sie sich ebenso sparen. Ich will es nicht hören. Und ich glaube, Jakes Bruder will es auch nicht. Sie können nichts mehr sagen oder tun, das noch etwas ändern würde.«
Harry hatte den Tisch umrundet und sich hinter seinen Vater gestellt. Lena empfand die Blicke der beiden als hasserfüllt und beklemmend. Mit Zorn hätte sie umgehen können. Das wäre zu erwarten und außerdem verständlich gewesen. Allerdings hatte Lenas angespannte Stimmung weder etwas mit Vater und Sohn noch mit dem Grund ihres Besuchs zu tun, sondern mit dem, was sich jenseits der Terrassentür hinter ihrem Rücken abspielte. Sie konnte den Lichtpunkt von Tim Hights Zigarette im Fenster des Wintergartens erkennen. Der Mann beobachtete sie, und er war ganz nah. Nur die Auffahrt trennte sie voneinander.
Lena versuchte, nicht darauf zu achten, und hielt sich vor Augen, dass Rhodes irgendwo da draußen den Gaffer im Auge behielt.
»Trotzdem mein Beileid«, sagte sie. »Ich weiß, dass Sie es nicht aus meinem Mund hören möchten, aber es ist ehrlich gemeint.«
William Gant schwieg. Seine Augen wanderten von Lena zu einem Gegenstand in seiner Hand. Es war ein kleines Foto. Als er es auf den Tisch legte, konnte Lena einen Blick darauf erhaschen. Ein Familienfoto, das William Gant und seine beiden Söhne zeigte. Sie standen warm angezogen an Bord eines Schiffes. Dicht vor dem Bug schwamm ein Wal. Alle drei schauten gebannt und mit einem breiten Lächeln auf das Tier.
Als Gant bemerkte, dass sie das Foto betrachtete, hielt er die Hand darüber.
»Ich glaube, wir sind fertig. Sie sollten jetzt gehen.«
»Wir müssen noch einen Termin vereinbaren, damit Sie Ihren Sohn in der Gerichtsmedizin identifizieren können.«
»Das wurde bereits erledigt«, entgegnete er.
»Von wem?«
»Von Buddy Paladino, dem Anwalt meines Sohnes.«
Der Satz schwebte im Raum. Also hatte Paladino Gant vor anderthalb Stunden mitgeteilt, dass sein Sohn tot war. Rhodes hatte recht. Die undichte Stelle hatte sich in ein sprudelndes Leck verwandelt, noch ehe sie überhaupt mit den Ermittlungen begonnen hatte.
»Was ist mit den Umständen, unter denen Ihr Sohn zu Tode gekommen ist?«, fragte sie.
Gant schüttelte den Kopf. Er stieß die Wörter hervor, als spucke er etwas Vergiftetes aus.
»Die Umstände, unter denen mein Sohn zu Tode gekommen ist«, höhnte er. »Das klingt gut.«
»Wissen Sie, was er im Club 3 AM wollte?«
Weder Vater noch Sohn antworteten. In ihrem Blick lag derselbe Ausdruck wie bei Escabar – Verzweiflung, gemischt mit Abscheu. Sie schaute rasch zu der Terrassentür, Hight saß noch immer am Fenster. Der Lichtpunkt seiner Zigarette durchdrang weiterhin die Dunkelheit.
»Was ist mit Johnny Bosco?«, fragte sie. »Warum war Jacob bei ihm?«
Der Vater schob die Kaffeetasse weg.
»Keine Ahnung.«
In Harrys Miene regte sich etwas, und Lena wandte sich an ihn.
»Kannten Sie Johnny Bosco? Wissen Sie, was Ihr Bruder von ihm wollte, Harry? Hat er vielleicht gekokst?«
Der Junge antwortete nicht. Offenbar machte es ihn nervös, direkt angesprochen zu werden. Als Lena die Frage wiederholte, verhärteten sich seine Züge.
»Mein Bruder hat keine Drogen genommen«, erwiderte er schließlich. »Und Sie sind nichts weiter als eine blöde Bullenschlampe. Warum lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe, verdammt?«
Er drängte sich an seinem Vater vorbei und stürmte hinaus. Kurz darauf knallte im Obergeschoss eine Tür zu. Gant steckte den Schnappschuss ein und stand vom Tisch auf. Interessanterweise wandte er Lena den Rücken zu, um durch die Terrassentür zu spähen. Offenbar hatte er die ganze Zeit über gewusst, dass Hight sie beobachtete.
»Ich will, dass Sie jetzt gehen«, sagte er, während er noch immer auf die Einfahrt schaute. »Sie verhalten sich wie erwartet, Detective, und ich gönne meinem Nachbarn, diesem Arschloch, die Genugtuung nicht, mich wütend zu sehen. Denn genau das möchte er. Deshalb glotzt er ja dauernd rüber. Warum klopfen Sie nicht gleich bei ihm an und fragen ihn, ob er sich jetzt besser fühlt? Ich sehe die Nachrichtenmeldungen schon vor mir. Man wird den Mann, der meinen Jungen auf dem Gewissen hat, als Helden verehren und wahrscheinlich noch eine Straße nach dem elenden Wicht benennen. Ich wette, Sie bei der Polizei sind froh darüber, wie die Sache gelaufen ist. Nicht kurzfristig betrachtet, weil Sie jetzt wie die verblödeten Idioten dastehen, die Sie ja auch sind. Aber langfristig, denn nun sind Sie das Problem endlich los.«
»Niemand ist irgendein Problem los, Mr Gant.«
Gant wandte sich vom Fenster ab und musterte sie. Er zitterte vor Erschöpfung und schien in den letzten Minuten um zehn Jahre gealtert zu sein. So, als sei etwas in ihm zusammengesackt. Als er den Stuhl an den Tisch schob, ähnelte er in vielerlei Hinsicht seinem Nachbarn. Er wirkte wie ein Mann, der für den Rest seines Lebens eine schwere Last mit sich herumschleppen musste – unzählige Erinnerungen und Alpträume, die sich nicht abschütteln oder beseitigen ließen.
Er ging um den Tisch herum. Als er auf die Tür zeigte, war seine Stimme belegt und kaum zu hören.
»Jetzt ist Schluss«, sagte er. »Raus.«