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Dan Cobb, alias Mad Dog Dan, alias »Ey, du!«, geboren und aufgewachsen in Wichita, Kansas, holte die heimlich aufgenommene Tonbandkassette aus dem Gerät, steckte sie ein und hastete aus dem Techniklabor. Er würde sie sich anhören, wenn er mehr Zeit und Muße hatte. Heute Abend zu Hause zum Beispiel. Und dann würde er sich auch ein paar Notizen machen.

Seine Knie waren im Arsch. So schnell er konnte, eilte er durch das Großraumbüro und warf die grässliche Brille auf den Schreibtisch. Als er am Fenster ankam, sah er die Welt endlich wieder klar und konnte beobachten, wie Gamble über den Parkplatz auf einen grünmetallic lackierten Crown Vic zuging. Sie hatte die Fallakte unter dem Arm. Die Akte, die Cobb redaktionell bearbeitet hatte – nicht etwa die echte, die bei ihm zu Hause lag. Er hatte sie eigens für den Tag X vorbereitet, der sicher eines Tages kommen würde.

Cobb war völlig klar, dass sein Schicksal auf Messers Schneide stand. Die Katastrophe war nicht mehr fern. Er sah sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen.

Es lief als Film in seinem Kopf ab. So scharf und wirklichkeitsgetreu wie in einem dieser neuen Kinos in Hollywood. Als er das Gebäude durch die Hintertür verließ und in seinen Lincoln stieg, versuchte er, die Bilder auszublenden. Doch sosehr er sich bemühte, wenigstens den Sender zu wechseln, blieben die Szenen immer dieselben und spulten sich ab wie in Endlosschleife. Vor etwa einem Jahr hatten sie angefangen, ihn zu verfolgen. Seit er neben Lilys Leiche in ihrem Zimmer gesessen hatte. Während des Prozesses waren diese Szenen schneller abgespielt worden und in den letzten sechs Wochen zunehmend verblasst. Doch nun war es aus und vorbei mit dem Frieden. Nach der letzten Nacht hatte sich der Film wieder in seinen Kopf eingeschlichen, und zwar so realistisch, dass er vor einem Richter und Geschworenen einen Eid hätte ablegen können, der verdammte Mist sei in 3-D-Technik gedreht worden.

Er sah, wie die Leichen immer mehr wurden. Im Dämmerlicht erkannte er ihre Gesichter, die ihn anstarrten und ihn verhöhnten.

Eins, zwei, drei.

Cobb nahm sich mühsam zusammen und rollte im Schritttempo über den Parkplatz, bis er einen Blick auf das Hinterteil von Gambles Crown Vic erhaschte. Da seine Autofenster im richtigen Winkel zur Ecke des Gebäudes standen, konnte er durch die Scheibe sehen, dass sie neben ihrem Wagen stand. Sie telefonierte und machte sich dabei Notizen auf einem Block.

Er hasste diese blöde Schlampe. Das ganze politisch korrekte Gedöns.

Doch zuerst brauchte er einen Plan. Eine Landkarte, die ihm den Weg wies. Inzwischen sogar nötiger denn je – er hatte bereits zu viel verloren.

Sein Haus, sein Vermögen, seine Altersvorsorge – sein gesamtes Hab und Gut, mit Ausnahme des Autos, war von der Geldvernichtungsmaschine an der Wall Street verschlungen worden. Und dann hatte der Moloch das Ganze auf der anderen Seite wieder ausgeschieden, damit sich die großen Tiere dank ihrer unrechtmäßig zusammengerafften Reichtümer ein schönes Leben machen konnten, während man Cobb mit einem Fußtritt zu den Habenichtsen befördert hatte. Er hatte deutlich vor Augen, wie sein Alter aussehen würde. Ein klassischer Rentnerjob: Mit gebeugtem Rücken, die Knie steif von der Arthtritis, die bereits in seinen Schultern saß, hielt er, einen Smiley-Anstecker an der Schürze, bei Walmart den Kunden die Tür auf und winkte jedem Schwachkopf, der sich einen Einkaufswagen nahm, freundlich zu.

Die blöde Schlampe fuhr los.

Offenbar hatte er gerade einen Aussetzer gehabt, denn er hatte nicht mitgekriegt, dass sie eingestiegen war.

Sie verließ den Parkplatz, bog rechts ab und fuhr die Culver Street nach Osten in Richtung Freeway 405. Cobb umrundete die Ecke, zählte bis fünf und fädelte sich dann in den Verkehr ein. Da weniger Autos als gewöhnlich auf der Straße waren, konnte er den einen Häuserblock entfernten Crown Vic gut ausmachen. Er wechselte die Spur, in der Annahme, dass sie nach Norden zum Santa Monica Freeway und zurück in die Innenstadt fuhr. Doch während er es sich noch in seinem Sitz bequem machte, nahm Gamble die Auffahrt zum 105 in südlicher Richtung und beschleunigte.

Er sah sie eine Spur neben sich, als er ebenfalls in die Auffahrt des Freeway einbog. Da sie sich durch die langen Reihen von Lastern und SUVs schlängelte, war es schwierig, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Er trat das Gaspedal durch, sodass der Lincoln einen Satz vorwärts machte, und hielt sich hinter einem F-150-Pick-up, der eine gute Deckung bot. Als sie auf die 105 nach Osten einfädelte, wurde er ein wenig langsamer und folgte ihr.

Die Fahrt auf der 105 war so kurz, dass Cobb keine Zeit hatte, sich seinen nächsten Schritt zu überlegen. Schon wenige Minuten später befanden sie sich wieder auf Nebenstraßen und brausten in Hawthorne am Flughafen vorbei. Cobb warf einen Blick auf die Lagerhäuser und kleinen Fabriken, ließ jedoch Gamble, die hinter den getönten Scheiben ihres Crown Vic verborgen war, nicht aus den Augen.

Offenbar war sie ziemlich in Eile. Und anscheinend war das Ziel weder das Parker Center noch sonst ein Gebäude in der Innenstadt.

An der Ecke bog sie rechts ab und am Ende des Häuserblocks noch einmal. Allmählich fragte sich Cobb, ob sie ihn wohl bemerkt hatte. An das, was sein Ausbilder an der Polizeiakademie ihm eingebläut hatte, erinnerte er sich noch, als ob es gestern gewesen wäre.

Dreimal rechts abbiegen und dabei dreimal in den Spiegel schauen. Wenn du den Mistkerl dann noch immer im Nacken hast, ist Showtime. Dann musst du den Arsch hochkriegen.

Allerdings bog Gamble nicht zum dritten Mal ab, sondern rollte in eine Gasse und stoppte auf einem Parkplatz hinter einem unauffälligen Gebäude, das von einem sieben Meter hohen, von Natodraht gekrönten Sicherheitszaun umgeben war.

Cobb fuhr an der Gasse vorbei bis zum Ende der Straße, wendete und stellte den Wagen ab. Durch eine Lücke zwischen den Gebäuden erkannte er, dass sie ausstieg und jemandem die Hand schüttelte. Offenbar war der Mann froh, sie zu sehen. Er war eine ziemlich auffällige Erscheinung und viel zu jung, um so weißes Haar zu haben. Sicher hatte er es sich in einem der Salons in der Melrose Street färben lassen.

Cobb klappte das Handschuhfach auf und holte das Tylenol heraus. Nachdem er drei Kopfschmerztabletten ohne Wasser geschluckt hatte, griff er zum Fernglas und stellte die Schärfe ein. Hinter Gamble bemerkte er zwei ungewöhnlich breite Rolltore. SAMY, INC. stand auf einem kleinen Schild an der Wand, doch nichts wies darauf hin, welche Geschäfte hier betrieben wurden.

Auf den ersten Blick schien es eine Autowerkstatt zu sein. Doch als Cobb noch einmal hinsah, kam er zu dem Schluss, dass das Gebäude dafür zu versteckt lag, nicht über eine direkte Zufahrt zur Straße verfügte und von Lagerhäusern eingekeilt wurde.

Wieder spähte er durch sein Fernglas und hielt es ruhig, indem er die Ellbogen auf die Tür stützte. Gamble und der Mann gingen zu einem vor der Ladezone geparkten Acura TSX. Das dunkelgraumetallic lackierte Auto war offenbar ausgezeichnet in Schuss, obwohl es dem Aussehen nach sicher schon zwei Jahre auf dem Buckel hatte. Nummernschilder waren keine zu sehen. Als er welche an einem schwarzen Carrera 911 neben dem Eingang – dem einzigen anderen Auto auf dem Parkplatz – entdeckte, notierte er sich das Kennzeichen und holte sein Mobiltelefon heraus.

Er hatte genug gesehen, um sich seinen Teil zu denken. Doch da nun alles auf dem Spiel stand, durfte er sich nicht auf Vermutungen verlassen. Also rief er die Zentrale an, nannte der Telefonistin seinen Namen und gab ihr das Autokennzeichen durch. Während er wartete, betrachtete er Lena Gamble und nutzte die Zeit, um Pläne zu schmieden.

Er hatte nicht mit ihrem Besuch gerechnet und nicht geglaubt, dass schon so kurz nach Jacob Gants Tod überhaupt jemand bei ihm aufkreuzen würde. Eigentlich hatte er auf mehr Zeit gehofft, um sein Sprüchlein einzuüben. Nur ein paar Tage, damit er an seiner Vorstellung feilen konnte. Auch wenn vielleicht ein paar Punktsiege zu verbuchen waren, wusste er tief in seinem Inneren, dass er es vermasselt hatte. Sein Verhalten hatte offenbar stärker gewirkt als seine Worte. Die Dominosteine, die nun ins Kippen geraten waren, konnten mühelos seine ganze Welt zum Einsturz bringen und ihn unter sich begraben.

Die Telefonistin meldete sich wieder. Cobbs Blick blieb auf Lena gerichtet.

»Samuel Trevor Beck. Weiß, männlich, dreiundreißig. Wohnt in Manhattan Beach.«

»Und wie sieht es bei ihm aus?«

»Seit zehn Jahren sauber«, erwiderte die Telefonistin.

»Und davor?«

»Schwerer Autodiebstahl. In zwei Fällen.«

»Habe ich mir fast gedacht. Danke.«

Cobb steckte das Telefon wieder ein, warf noch einen letzten Blick auf Gamble und fuhr davon. Das Gespräch mit ihr hatte er vermasselt, daran war nichts zu rütteln. Dennoch hoffte er, dass sich daraus keine neue Szene in dem Film entwickeln würde, der in seinem Kopf ablief. Eine Szene, die damit endete, dass er sich in die Enge getrieben fühlte und keine andere Wahl hatte, als ihr das Herz aus dem Leib zu reißen.

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