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Cobb brauchte saubere Sachen für die Beerdigung.

Lena erinnerte sich an den neuen grauen Anzug, den er in Jacob Gants Prozessvideo getragen hatte. Vaughan erbot sich, mit ihr hinzufahren und ihn zu holen.

In den letzten drei Tagen hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, unter anderem im Bett, damit sie nicht allein mit sich und ihren Gedanken waren.

Lena verließ das Parkhaus des Parker Center und bemerkte, wie die Kameras sich in ihre Richtung wandten. Sie kehrte den rings ums Gebäude campierenden Reportern den Rücken zu und ignorierte die rote Ampel. Anstatt sich den Mittagspausenverkehr auf dem Freeway 110 anzutun, beschloss sie, erst Nebenstraßen rings um das Dodger Stadion und auf der anderen Seite des Hügels den Golden State Freeway zu nehmen.

Die Medienvertreter schwärmten wieder aus. Der Mord an Lily Hight war aktueller denn je, es gab frische Schlagzeilen und inzwischen sieben Opfer, ins Jenseits befördert vom übelsten Massenmörder aller Zeiten, Bennett, dem Finsterling – einem Staatsanwalt, der sich durch Selbstmord der Verhaftung und Strafverfolgung und der damit einhergehenden öffentlichen Demütigung entzogen hatte.

Am Samstagabend war der Oberstaatsanwalt wegen seines fragwürdigen Verhaltens zur Rede gestellt worden. Ein Schlagabtausch, angeordnet vom stellvertretenden Polizeichef Ramsey, der wissen wollte, was Higgins und Spadell an den Überwachungsaufnahmen aus dem Club 3 AM so brennend interessiert hatte und warum Higgins in Johnny Boscos Haus eingebrochen und davongelaufen war, als Lena sich als Polizistin zu erkennen gegeben hatte. Spadell war nicht zu dieser Debatte erschienen, und es hieß, er habe die Stadt fluchtartig verlassen. Als Higgins sich weigerte zu reden und zuerst mit seinen politischen Beratern sprechen wollte, wies Ramsey den Staatsanwalt darauf hin, dass Einbruch in Los Angeles noch immer als Straftat gelte, weshalb er ihm empfehle, sich lieber an seinen Anwalt anstatt an diese Schießbudenfiguren zu wenden.

Doch falls Jimmy J. Higgins das Video gesucht hatte, das ihn beim Kokainkonsum zeigte, spielte das kaum noch eine Rolle.

Bennett war, wie allgemein bekannt, Higgins’ Ziehkind gewesen. Higgins hatte Bennett und Watson bei den Vorbereitungen des Prozesses gegen Jacob Gant über die Schulter geschaut, in der Hoffnung, dass dabei so viele Schlagzeilen wie möglich für ihn herausspringen würden. Obwohl Buddy Paladino ihm, Bennett und Watson eine Kopie des Berichts von Gants Lügendetektortest zugestellt hatte, hatte Jimmy J. Higgins geschwiegen und – als Vertreter des Rechtsstaats – damit dem wahren Mörder gewissermaßen den Weg geebnet, einen Unschuldigen wegen eines Verbrechens vor Gericht zu stellen, das er selbst begangen hatte. Der Bürgermeister, eine Mehrheit des Stadtrats sowie Mitglieder des Landtags – wenn auch nicht alle – verlangten Higgins’ Rücktritt. Hinzu kam die öffentliche Empörung, die die Menschen auf die Straße trieb. Obwohl die Angelegenheit erst seit drei Tagen bekannt war, war Higgins bereits zweimal in Restaurants von Menschen angegriffen worden, die für gewöhnlich nicht zur Gewalt neigten. Außerdem hatten einige Collegestudenten ihn beim Verlassen eines Parkhauses eine Straße hinuntergejagt.

Higgins bekam nun eine Dosis der Medizin ab, die seine Behörde Jacob Gant verabreicht hatte – nur mit einem entscheidenden Unterschied: Er hatte jeden Schlag verdient.

Lena fuhr vom Golden State Freeway ab und um den Flughafen herum bis zur Vineland Avenue. Nachdem sie Fiesta Liquors und die Rancho Coin Laundry links liegen gelassen hatte, entdeckte sie eine Parklücke direkt vor Cobbs Haus, wendete scharf und stoppte.

Vaughan schien verwirrt.

»Warum hältst du an?«

»Wir sind da«, erwiderte Lena. »Das ist es.«

Er betrachtete das heruntergekommene Gebäude und die schäbige Umgebung.

»Ich hatte ja keine Ahnung.«

Lena versuchte, nicht daran zu denken, als sie ausstieg. Eine Latina hängte ihre Bettlaken zum Trocknen über den Zaun in die Sonne. Von der anderen Straßenseite beobachtete sie eine Asiatin.

Lena ging mit Vaughan durch das defekte Tor und die Stufen hinauf in den ersten Stock. Wie beim ersten Mal hatten die meisten anderen Mieter die Fenster geöffnet, sodass ihnen der Geruch von gebratenen Maistortillas und Hühnchen entgegenschlug. Als sie um die Ecke bogen, saß die Mexikanerin wieder an ihrem Fenster. Ihr verrunzeltes Greisengesicht war noch immer ausdruckslos. Doch als Lena sie diesmal anblickte, bemerkte sie, dass die Frau sie erkannte. Irgendwie sah sie traurig aus. Vor Cobbs Tür hatten seine Nachbarn Blumen und Kerzen gestellt. Ein Schnappschuss von Cobb, aufgenommen mit einer Polaroid im Hof, war an die Tür geklebt.

»Sie haben ihn sehr gern gehabt«, flüsterte Vaughan.

Lena nickte und betrachtete das Arrangement, während sie die Tür mit Cobbs Schlüssel öffnete. Sie wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.

In der Wohnung war es stickig und heiß. Vaughan schloss die Tür nicht und betrachtete ungläubig die schäbigen Möbel und die grauen Wände. Lena überließ ihn seinem Schicksal und ging ins Schlafzimmer, um einen Anzug für Cobb herauszusuchen. Nach einer Weile erschien Vaughan auf der Schwelle.

»Weißt du, dass ich immer wieder daran denken muss, wie du das erste Mal in mein Büro gekommen bist«, sagte er. »Du wolltest reden, allerdings nicht am Telefon. Du warst gerade bei Gants Bruder Harry gewesen. Er hatte dir erzählt, dass Jacob auf eigene Faust hinter Lilys Mörder her war. Dass er etwas gefunden hatte, von dem er Johnny Bosco erzählen wollte.«

Lena hatte den grauen Anzug entdeckt und breitete ihn auf dem Bett aus.

»Unser erster Durchbruch.«

»Aber damals kannte ich dich noch nicht. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, und hatte sogar den Verdacht, du könntest eine Schraube locker haben.«

»Doch jetzt weißt du es«, entgegnete sie.

»Das ist mein Ernst, Lena. Auch wenn Gant mit einem Freispruch aus dem Gerichssaal spaziert ist, hielten ihn alle weiter für Lilys Mörder. Jeder glaubte, wegen der DNA sei die Sache klar. Erinnerst du dich, wie wir uns aus dem Fenster gehängt haben?«

Sie warf ihm einen Blick zu und nickte wortlos.

Vaughan schüttelte den Kopf, als wolle er seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen.

»Angefangen hat es in dem Konferenzraum«, sagte er. »Der Lieferservice hatte ein Büfett gebracht. Als Watson dich in meiner Begleitung sah, ist sie losgelaufen, um Bennett Bericht zu erstatten. Und im nächsten Moment tauchte Bennett auf und versuchte, uns zu belauschen.«

»Heute sind wir klüger«, erwiderte sie. »Damals hatten wir keine Ahnung.«

Vaughan zuckte die Achseln und grübelte weiter, während Lena eine Krawatte auswählte und ein sauberes weißes Hemd aus dem Schrank nahm. Nachdem sie die Sachen auf den grauen Anzug gelegt hatte, suchte sie im Schrank nach einem Paar schwarze Schuhe.

»Weißt du noch, was wir für einen ersten Eindruck von Cobb hatten, Lena?«

Lena holte tief Luft und versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Dann zog sie die Schubladen von Cobbs Kommode auf und kramte Unterwäsche und Socken heraus. Sie fühlte sich wie vor vielen Jahren, als sie ihren Dad begraben hatte. Auch wenn sie damals noch eine Jugendliche gewesen war. Sie wusste nicht, warum sie so für Cobb empfand oder wie das so schnell hatte geschehen können. Er hatte unbeschreibliche Fehler im Leben begangen, die sich auftürmten wie Berge. Und dennoch schienen gerade diese Fehler ihn auch als Menschen auszumachen. Er hatte nicht nach einem Sündenbock gesucht. Er hatte die Akte nicht geschlossen, im Geheimen weitergearbeitet und Paladino das größte Geschenk von allen gemacht.

Die Blutproben von Jacob Gant waren plötzlich unauffindbar.

Sie wünschte nur, dass sie hätten länger zusammenarbeiten können. Nur noch einen einzigen Fall als richtige Partner.

Sie warf einen Blick auf Vaughan. Er hatte etwas gesagt, was sie nicht mitbekommen hatte. Etwas über Lilys Vater. Lena entdeckte einen Kleidersack aus Plastik und packte Cobbs Sachen ein.

»Was ist mit ihm?«, fragte Vaughan. »Lilys Dad.«

»Bei dem muss ich mich entschuldigen«, antwortete sie. »Und bei seinem Freund.«

»Dem Typen, der sich für ihn eingesetzt hat?«

»Ich bin ihnen etwas schuldig«, wiederholte sie und ließ ein letztes Mal den Blick durch das Zimmer schweifen. »Lass uns von hier verschwinden, Greg.«

Vaughan griff nach dem Kleidersack. Sie gingen hinaus und schlossen die Tür hinter sich ab. Als sie die Treppe zum Hof hinunterstiegen, stand die Asiatin noch immer auf dem gegenüberliegenden Gehweg und beobachtete sie eindringlich.

Vaughan hängte den Kleidersack hinter den Beifahrersitz. Lena stieg ein, schaute sich nach der Frau um und fragte sich, ob sie ihr schon einmal begegnet war. Sie war schätzungsweise um die fünfzig, hatte ein sanftes Gesicht und offene Augen und passte ihrer Kleidung nach nicht in dieses heruntergekommene Viertel. Als Lena den Zündschlüssel umdrehte, winkte die Frau ihr schüchtern zu, und plötzlich rastete etwas ein.

Lena drehte sich zu Vaughan um und sagte, sie sei gleich zurück. Dann überquerte sie die Straße. Sie musste mit der Freundin eines Freundes sprechen, mit der Frau, die sich im Internet als absolut scharf beschrieben hatte. Sie wollte die Frau in Cobbs Leben kennenlernen: Betty Kim.

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