53
Lena schlängelte sich durch den dichten Freitagabendverkehr am westlichen Ende des Sunset Boulevard. Sie hatte keine Ahnung, wie schnell sie vorankam, weil sie nicht auf den Tacho schaute. Nur eines stand fest: Sie war zu langsam. Sie warf einen Blick auf Vaughan, der neben ihr saß.
»Wir schaffen das schon«, sagte er.
Das wiederholte er nun seit einer Stunde jedes Mal, wenn sie ihn ansah.
Wir schaffen das schon.
Sie hatte in Debi Watsons Haus in West Hollywood auf Vaughan gewartet und ihm in Begleitung der Detectives vom Büro des Sheriffs den Tatort gezeigt. Vaughan hatte den ganzen Tag lang, unterstützt von Keith Upshaw, das Computernetzwerk des Oberstaatsanwalts durchsucht. Und sie waren tatsächlich auf etwas gestoßen, das er gern mit Lena besprechen wollte. Doch die war in Gedanken bei Cobb. Sie machte sich große Sorgen um ihn. Eigentlich hätte er sie in Watsons Haus treffen sollen, war aber nie erschienen. Als sie ihn angerufen hatte, war schon nach einmal Läuten die Mailbox angegangen, als hätte er das Telefon abgeschaltet.
Sie hatte ein sehr mulmiges Gefühl. Irgendetwas lag da mächtig im Argen.
Als vor ihr die Straße frei wurde, gab sie Gas.
»Die Rockingham ist gleich um die Ecke«, sagte Vaughan. »Auf der rechten Seite, bald sind wir da.«
Lena entdeckte das Straßenschild kurz hinter der Kurve. Sofort nachdem sie abgebogen waren, bemerkte sie die Blaulichter und spürte ein Ziehen im Bauch. Schwarzweiße Streifenwagen vom Revier West L. A. blockierten die Straße. Ein Polizist regelte den Verkehr und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, zu wenden und weiterzufahren. Zähneknirschend schüttelte Lena den Kopf. Als sie ihre Dienstmarke hochhielt, wurde sie zu einer Parklücke in der ersten nicht gesperrten Straße gelotst.
Vaughan berührte sie am Arm.
»Kannst du noch?«
Sie sah ihn wortlos an. Alles in ihr war in Aufruhr.
Lena riss die Autotür auf. Vaughan und sie rannten die Straße hinauf. Während sie sich anmeldeten, ließ Lena den Blick über Bennetts Haus schweifen und bemerkte die zerschmetterten Scheiben und die Einschusslöcher im Garagentor. Vaughan stieß sie an und wies auf einen Hügel auf der anderen Straßenseite, der Aussicht auf das Haus bot. Zwei Männer suchten das Gelände mit Taschenlampen ab. Offenbar war das der Beobachtungsposten, von dem Cobb ihr erzählt hatte. Der mit dem malerischen Blick.
»Hier ist nirgendwo ein Krankenwagen«, flüsterte Vaughan.
»Und auch kein Transporter von der Gerichtsmedizin. Vielleicht haben wir ja Glück.«
Im nächsten Moment rief jemand Lenas Namen.
Als sie sich umdrehte, bemerkte sie auf dem Gehweg vor Bennetts Haus einen Detective, den sie kannte. Er hieß Clayton Hu; sie waren in ihrer Zeit in Hollywood ein Jahr lang in Uniform zusammen Streife gefahren.
Hu schien überrascht, sie zu sehen, kam auf sie zu und hielt ihnen die Hand hin.
»Was machst du denn hier, Lena?«
»Ich suche einen Detective namens Dan Cobb. Bist du ihm begegnet, Clayton?«
Der Detective schüttelte den Kopf.
»Wir können noch nicht sagen, was hier passiert ist. Das Haus gehört einem Staatsanwalt.«
Vaughan nickte.
»Das wissen wir. Steven Bennett.«
»Es ist niemand da«, antwortete Hu. »Wir versuchen jetzt schon seit einer Stunde, Bennett zu erreichen. Seine Telefonnummer haben wir zwar, aber er reagiert nicht. Außerdem haben wir sämtliche Krankenhäuser in der Stadt verständigt. Wenn jemand mit einer Schusswunde dort aufkreuzt, erfahren wir es sofort.«
Nach einem Blick auf Lena wandte sich Vaughan wieder an Hu. »Könnten Sie uns erzählen, was Sie bis jetzt gefunden haben?«
Hu nickte, knipste seine Taschenlampe an und ging voraus zum Straßenrand, wo er auf die Geschosshülsen wies. Dann richtete er den Lichtstrahl auf die Blutspur, die die Straße hinaufführte. Lena war geschockt und konnte kaum hinschauen.
»Was wollte Cobb hier?«, fragte Hu.
»Er hat Bennett im Auge behalten.«
»Und Bennett ist ein Verdächtiger?«
»Ja«, erwiderte sie. »Er ist ein Verdächtiger. Es geht um Mord, Clayton. Und zwar in mehreren Fällen.«
»So etwas habe ich schon befürchtet. Wir wollen einen Spaziergang auf den Hügel machen.«
Sie folgten der Blutspur die Straße entlang und vorbei am Flatterband ins Gebüsch. Als sie die Hügelkuppe erreichten, senkten die beiden Männer ihre Taschenlampen und zeigten auf drei weitere Geschosshülsen. Kurz darauf wanderten die Lichtstrahlen wieder zum Rand des Hügels, wo Lena in den Boden eingesickertes Blut erkannte.
»Tut mir leid«, sagte Hu leise. »Offenbar hat dein Detective von hier aus das Haus beobachtet, als auf ihn geschossen wurde. Ist er ein Freund?«
Lena nickte wortlos.
»Er hat eine Menge Blut verloren, Lena. Aber er muss ein ziemlich harter Bursche sein, wenn er zu Fuß von hier verschwunden und weggefahren ist. Die Blutspur zieht sich bis zur nächsten Straße und bricht dann plötzlich ab. Wahrscheinlich hatte er dort sein Auto geparkt. Wir hatten keine Ahnung, dass es ein Kollege ist.«
Vaughan räusperte sich.
»Er ist bestimmt nach Westwood gefahren.«
Hu nickte.
»Das dachten wir auch, aber dort ist niemand mit einer Schusswunde aufgetaucht.«
Lena schaute zu Bennetts Haus und drehte sich wieder zu Hu um.
»Hast du die Strecke von hier zum Haus absuchen lassen?«
»Noch nicht«, antwortete er. »Aber das wird sofort erledigt.«
Lena gab ihm alle Informationen, die sie hatte: eine Beschreibung seines Autos, den Namen seines Vorgesetzten in der Pacific Station und seine Mobilfunknummer. Dann gingen sie den Hügel hinunter, wobei sie dem gelben Flatterband auswichen, das Cobbs Weg durchs Gebüsch nachzeichnete. Nachdem Lena und Vaughan sich von Hu verabschiedet hatten, gingen sie schweigend zum Auto und stiegen ein. Lena war unendlich traurig.
»Was denkst du?«, flüsterte sie. »Warum ist Cobb nicht ins Krankenhaus gefahren?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Vaughan leise.
»Glaubst du …«
Ihre Stimme zitterte, und es gelang ihr nicht mehr, ihre Fassung zu wahren. Sie verstand ihre Gefühle nicht und spürte, wie die Tränen ihr die Kehle hinunterrannen. Als sie sich abwenden wollte, zog Vaughan sie an sich und hielt sie fest. Nach einer Weile schmiegte sie sich an ihn, und ihre Anspannung löste sich. Sie strich über seine Schultern und vergrub das Gesicht an seinem Hals. Sein Gesicht war rau wie Schmirgelpapier. Sie spürte seine Lippen, er küsste ihre Wange. Sie drehte den Kopf und sah ihn an, und ihre Blicke trafen sich in der Dunkelheit. Und dann berührten sich ihre Lippen. Lena wurde warm, und sie schmeckte das Salz auf seiner Haut.