48
Debi Watson hatte noch immer nicht zurückgerufen. Lena befürchtete, dass das Mitteilungsbedürfnis der Staatsanwältin nachlassen könnte, wenn man ihr zu viel Zeit zum Nachdenken gab. Obwohl es schon spät war, hatte Lena ihr bei ihrer Rückkehr nach Hause in der letzten Nacht noch eine Nachricht und heute Morgen gleich nach dem Aufstehen eine dritte hinterlassen. Falls die Frau sich nicht bis Mittag bei ihr meldete, würde sie ihr einen Überraschungsbesuch im Büro abstatten und ihr auf den Zahn fühlen.
Lena hatte eine unruhige Nacht verbracht, weil ihr die Neun-Millimeter-Smith nicht aus dem Kopf wollte. Sie stimmte Cobb zu. Der Täter hatte die Pistole benutzt, weil er wollte, dass sie identifiziert wurde.
Die Frage war nur, warum.
Dass es etwas mit den Ereignissen vor acht Jahren zu tun haben musste, erschien ihr inzwischen sonnenklar.
Lena hatte den ganzen Vormittag Berichte über die tödlichen Schüsse auf Elvira Wheaton und ihren Enkel gelesen. Sie hatte sich zwar nicht an den Fall erinnert, als Vaughan ihn zum ersten Mal erwähnt hatte, wusste allerdings noch, dass Wes Brown, der Augenzeuge, drei Monate später ermordet worden war, nachdem Bennett und Higgins den Prozess gewonnen hatten, dem Higgins Amt und Würden verdankte. Und schon bald dämmerte ihr, was ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte: Wes Brown hatte einen Bruder, der wiederum eine kleine Plattenfirma besaß. Sie kannte Reggie Brown zwar nicht persönlich, hatte aber die nötigen Beziehungen, um sich seine Telefonnummer zu beschaffen.
Brown war bereit, mit Lena zu sprechen, und wohnte sogar ganz in ihrer Nähe in den Hügeln oberhalb des Sunset Boulevard. Doch er bestand darauf, sich dort zu treffen, wo sein Bruder niedergeschossen worden war – in dem kleinen Park gegenüber der Brachfläche, wo Wheaten und ihr Enkel hatten sterben müssen. Reggie Browns kleiner Bruder hatte an beiden fraglichen Tagen an einem Picknicktisch dicht an der Straße unter den Bäumen gesessen und Schach gespielt. Und in diesem Park wollte Reggie sie in einer Dreiviertelstunde sehen.
Lenas Mobiltelefon piepte. Vaughan hatte eine SMS geschickt. Er war im Parker Center bei Keith Upshaw von der Abteilung Computerkriminalität; die beiden hatten gerade erst mit der Arbeit angefangen. Upshaw hatte in den Ermittlungen gegen den Serienmörder Romeo vor einigen Jahren eine wichtige Rolle gespielt. Polizeichef Logan selbst hatte den genialen ehemaligen Hacker angeworben, unterstützt von einem Richter, der es sehr schade gefunden hätte, den jungen Mann ins Gefängnis zu stecken. Falls jemand in der Staatsanwaltschaft also noch dem Irrglauben anhängen sollte, dass er seine gelöschten Mails getrost vergessen konnte, würde Upshaw ihn rasch eines Besseren belehren.
Lena sah auf die Uhr, schnappte sich eine Wasserflasche und machte sich auf den Weg. Der Treffpunkt im Exposition Park lag etwa eine halbe Autostunde entfernt südlich der Western Avenue. Da Lena sich den Stau in Koreatown ersparen wollte, fuhr sie etwa zwanzig Minuten lang auf Seitenstraßen, bis sie wieder links abbog und zur Western Avenue zurückkehrte. Allmählich veränderte sich das Straßenbild, und Lena sah unzählige junge Afroamerikaner, die am Bordstein standen, um auf die Autos potenzieller Kunden zu warten. Sie brauchte kein Hinweisschild, um zu wissen, wo sie war. Die Straße trug den Spitznamen Avenue of the Ghosts – Straße der Geister –, denn die jungen Männer waren mager wie Strichmännchen, und ihre eigentlich dunkelbraune Haut war von einem Leben auf Crystal Meth fahlgrau geworden. Sie erinnerten an Skelette; gespenstische Elendsgestalten, die Waffen trugen, dealten und keine Chance hatten, jemals wieder in die Gesellschaft zurückzufinden.
Es war ein beklemmender Anblick, weshalb Lena erleichtert war, als sie vor sich die Western Avenue und schließlich den Park erkannte, der zwischen einer Bibliothek und einer Grundschule lag.
Reggie Brown saß am Picknicktisch, rauchte eine Zigarette und trank süßen Tee. Er war etwa fünfundzwanzig, hatte eine schwarze Hose und ein rotes T-Shirt an und trug die Rolex am Handgelenk so locker wie ein Armband. Als Lena sich dem Tisch näherte und sich vorstellte, hatte sie nicht den Eindruck, dass Brown ihr feindlich gesinnt war.
»Ich habe Sie überprüft«, sagte er. »Sie sind die Schwester von David Gamble. Also sind wir gewissermaßen Leidensgenossen, was?«
Lena zuckte die Achseln und setzte sich.
»Wenn Sie meinen, Reggie. Ich arbeite mit einem Detective zusammen. Dan Cobb. Erinnern Sie sich an ihn?«
»Klar. D. C., so haben wir ihn damals genannt.«
»Es ist acht Jahre her. Sicher haben Sie viele Einzelheiten vergessen.«
Er zog an seiner Zigarette.
»Ich habe gar nichts vergessen, Lena Gamble. Und das werde ich auch nie. Ich habe meinen Bruder verloren, genau wie Sie. Oder haben Sie vielleicht was vergessen?«
Eine Weile verging, während Lena überlegte, wie sie sich ausdrücken sollte.
»Diese Woche ist ein Mord passiert«, begann sie schließlich, »und wir sind bei den Ermittlungen über einen möglichen Hinweis auf die Sache vor acht Jahren gestolpert.«
Brown hielt kurz inne und dachte über ihre Worte nach. Seine Augen leuchteten wachsam.
»Keine Ahnung, womit Sie momentan zu tun haben«, sagte er. »Aber in einem haben Sie recht: Vor acht Jahren ist etwas passiert, und dieses Etwas heißt Steven Bennett. Mich wundert, dass Cobb es Ihnen nicht erzählt hat. Er weiß nämlich genauso viel wie ich.«
Sie wandte sich ab und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Warum hatte Cobb nach dem gestrigen Abend noch Geheimnisse vor ihr?
»Erzählen Sie mir von Bennett«, forderte sie Brown auf.
»Ein Scheißkerl. Ein Arschloch erster Güte. Wes saß an diesem Tisch. Die Brachfläche ist gleich da drüben, gegenüber von der Bibliothek. Er hört die Schüsse, versteckt sich unter der Bank und kriegt mit, wie Mrs Wheaton umfällt. Außerdem erkennt er die Männer im Auto, das sofort wegfährt. Er hört die Typen lachen. Mein Bruder hat gewusst, was er tun musste. Er hat Cobb geholfen, jeden von ihnen zu identifizieren.«
»Aber vor Gericht wollte er nicht aussagen«, erwiderte Lena. »Er durfte nicht an die Öffentlichkeit gehen. Das wäre Selbstmord gewesen.«
»Wer das Maul zu weit aufreißt, sollte besser gleich sein Testament machen. Das war Wes klar, mir und Cobb auch.«
»Und Bennett nicht?«
»Deshalb ist er ja so ein Arschloch, Lena Gamble. Bennett war sich dieser Tatsache genauso bewusst wie alle anderen. Nur mit dem Unterschied, dass es ihm egal war.«
»Er hat also weiter Druck gemacht«, fuhr sie fort. »Er hat ein Nein nicht gelten lassen.«
»Drei-oder viermal am Tag hat er angerufen. Und er hat auch nicht mehr bitte gesagt, verstanden? Er hat Wes rumkommandiert, ihn angebrüllt und ihm mit Knast gedroht.«
Lena musste das erst einmal sacken lassen. Sie spürte, wie Wut in ihr hochstieg, und bedauerte, dass Vaughan nicht hier war.
»Doch Ihr Bruder hat nicht klein beigegeben«, sagte sie schließlich.
Brown schob den Teebecher weg.
»Die Gerichtsverhandlung fand statt. Und wie sich herausstellte, haben sie Wes gar nicht gebraucht. Bennett und Higgins gewinnen haushoch, und Higgins wurde der neue Oberstaatsanwalt. Der Stress hier im Viertel war endlich ausgestanden. Niemand wusste von Wes’ Rolle. Die Sache geriet allmählich in Vergessenheit.«
Lena ahnte, was nun kam. Sie konnte es an Browns Gesicht ablesen.
»Nur dass es doch nicht in Vergessenheit geriet«, sagte sie leise. »Nach dem Prozess und der Wahl hat Bennett sich wieder gemeldet und Ihrem Bruder eröffnet, dass es noch längst nicht vorbei ist.«
Brown nickte. Er ließ den Kopf hängen und wischte sich, überwältigt von Erinnerungen, die Augen ab. Als er weitersprach, zitterte seine leise Stimme vor Trauer.
»Es passierte gleich am nächsten Tag«, fuhr er fort. »Sie haben gewartet, bis es auch wirklich jeder mitbekam. Bennett hat einen Bullen zu uns geschickt. Und als der Bulle Wes sah, hat er ihn dämlich angegrinst, salutiert, wie um sich bei ihm zu bedanken, und ist wieder weggefahren. Zwei Stunden später saß Wes hier, wo ich jetzt sitze, und tat das, was ihm am meisten Spaß gemacht hat, nämlich Schach spielen. Meine Mom und ich glauben, dass er nichts gemerkt hat. Mein kleiner Bruder hatte noch eine Schachfigur in der Hand und wollte gerade ziehen, als die ihn einfach abgeknallt haben.«
Brown ließ die Zigarette ins Gras fallen und unternahm keine Anstalten, sie aufzuheben. Sein Blick war nach innen gerichtet und verlor sich in der Vergangenheit.
»Hat Bennett je wieder angerufen?«
Brown schüttelte den Kopf.
»Nein, nie mehr. Doch im letzten Jahr habe ich ihn im Club 3 AM gesehen. Hin und wieder gehe ich hin, und er ist manchmal auch da. Keine Ahnung, warum ein Typ wie Bennet da reinkommt. Jedenfalls hat er es irgendwie geschafft. Er saß immer da und gaffte, als lege er es regelrecht darauf an, dass ich ihn erkenne. So, als könnte ihm niemand was anhaben. Diese grünen Augen. Ein Freund von mir, der im Irak gedient hat, hat sie als Wüstenaugen bezeichnet … Schlangenaugen. Sie bewegen sich weder, noch blinzeln sie. Sie durchbohren einen nur eiskalt.«
»Ist das alles, was Sie dort beobachtet haben?«
»Ich habe mitgekriegt, wie er versucht hat, Mädchen anzubaggern«, erwiderte er. »Doch die haben den kleinen Schleimer nur kurz angeschaut und laut gelacht. Nach einer Weile ist er nicht mehr aufgekreuzt. Vielleicht hat Johnny Bosco ihn ja zum Teufel gejagt. Ich habe Bosco mehr als einmal drum gebeten.«
Lena kramte eine Zigarette aus der Tasche. Da ihr die Sonne in die Augen schien, setzte sie sich neben Brown auf die andere Seite des Tisches in den Schatten. Dann schaute sie zu der Brachfläche hinüber.
Da es Bennett nicht gelungen war, einen Augenzeugen so unter Druck zu setzen, dass er sein Leben riskierte, hatte er ihn verraten und ermorden lassen. Offenbar hatte der Mann ein Lebensmotto. Eine Methode, nach der er immer vorging. War das die Antwort auf die Frage, warum ausgerechnet diese Pistole benutzt worden war?