52

Verdammt. Er öffnete die Augen. Er lag auf dem Bauch. Langsam richtete er sich auf und spürte regelrecht, wie er sich aus der Umarmung des Todes befreite. Cobb blinzelte, schaute sich ächzend wie ein Tier um und versuchte, klar zu denken, zu erfassen, was gerade geschehen war und was ihn erwartete.

Er war allein.

Bennetts Haus war dunkel.

Offenbar hatte er ihn für tot gehalten und zurückgelassen.

Voller Angst tastete Cobb nach seiner Pistole. Sie war noch da und steckte im Halfter am Gürtel. Doch sein Mobiltelefon war verschwunden. Cobb drehte sich in Richtung Straßenlaterne und musterte seine Brust. Er hatte zwar drei Schüsse gehört, entdeckte jedoch nur zwei Austrittswunden. Er brauchte ärztliche Hilfe. Die nächste Notaufnahme war das UCLA in Westwood. Allerdings durfte Bennett ihn auf keinen Fall aufspüren. Also musste er dafür sorgen, dass die Ärzte Gamble verständigten.

Sein Lincoln parkte um die Ecke in der Highwood Street. Cobb kämpfte sich hoch und wankte, um sein Gleichgewicht kämpfend, den Hügel hinunter. Er kam nur langsam voran und strauchelte immer wieder wegen der Büsche, die urplötzlich in der Dunkelheit aufzutauchen schienen. Etwas stimmte mit seinen Augen nicht: Die ganze Welt schien zu leuchten. Als auf der Straße ein Auto vorbeifuhr, strahlten die Scheinwerfer so grell, dass er einen Moment wie geblendet war.

Cobb nahm sich zusammen. Er war kurz vor dem Ziel. Links von ihm stand Bennetts Haus, und er hatte den plötzlichen Einfall, eine Spur zu legen. Einen Hinweis zu hinterlassen, dem Gamble folgen konnte, sicherheitshalber, und wenn es nur eine Kleinigkeit war. Also zog er die Pistole, feuerte zwei Neun-Millimeter-Geschosse auf das Garagentor ab und nahm mit dem restlichen Magazin der Sig das Wohnzimmerfenster unter Beschuss, bis es zerbarst, sodass das Haus schlagartig hell erleuchtet und der lautlose Alarm ausgelöst wurde. Cobb warf einen Blick auf die Geschosshülsen auf der Straße und beförderte sie mit einem Tritt in Richtung Randstein, damit niemand darüberfuhr und sie dennoch leicht zu finden waren.

Nach dieser Aktion fühlte er sich ein wenig gekräftigt. An der Ecke angekommen, entdeckte er in der Dunkelheit seinen Lincoln und wäre beinahe gestolpert, als er den Schlüssel aus der Tasche kramte. Es gelang ihm, die Tür zu öffnen und einzusteigen. Doch dann ließ sein Tatendrang auch schon wieder nach.

Cobb nahm sich einen Moment Zeit zum Durchatmen.

Er dachte an Bennetts Trick mit der Verbindungstür zwischen Haus und Garage und fragte sich, wie er sich nur von einem solchen Amateur hatte austricksen lassen können. Ein Jammer, dass Bennett nicht mehr an seinem dämlichen Auto herumgewienert hatte, als Cobb mit seiner Pistole vorbeigekommen war, denn am liebsten hätte er sich diesen kleinen Wichser vorgeknöpft, ihm erst jeden Zahn einzeln aus der Fresse getreten und ihm dann den Rest gegeben.

Er schaltete die Innenbeleuchtung ein und betrachtete, ungläubig und entsetzt, die Verletzungen an seiner Brust. Er musste die Blutungen stillen. Cobb öffnete das Handschuhfach, kramte die von unzähligen Fastfoodmahlzeiten übrig gebliebenen Servietten heraus, drehte sie zu zwei festen Wülsten und schob sie in die Wunden.

Er spürte keine Schmerzen. Er war nur geschwächt.

Außerdem hatte Cobb keine Ahnung, wie lange er außer Gefecht gesetzt gewesen war. Die Eintrittswunden an seinem Rücken, an die er rankam, waren vermutlich um einiges schwerer. Er kannte sich gut genug mit Blutverlust und Schock aus, um zu wissen, dass das hier womöglich das letzte Problem seines Lebens war.

Er schaffte es, den Wagen zu starten, fuhr hinunter zum Sunset Boulevard und bog rechts ab. Dabei hatte er Mühe, die Spur zu finden und sie auch zu halten. Als vor ihm eine hufeisenförmige Kurve erschien, kam er sich vor, als würde er auf einer wackeligen Achterbahn hin und her geschleudert. Es gelang ihm, das Hindernis zu überwinden, indem er sich ans Lenkrad klammerte. Allerdings blendeten ihn ständig Scheinwerferlichter, die auf ihn zuschossen und an seiner Windschutzscheibe kleben zu bleiben schienen, selbst wenn das jeweilige Auto ihn längst überholt hatte. Die Lichter wurden heller und heller, sodass er die Augen schließen musste. Sekunden vergingen, bis er sich zwang, sie wieder zu öffnen und geradeaus auf die Straße zu schauen.

Seine Kraft ließ nach. Er würde es nicht schaffen.

Als er endlich den letzten Hügel hinunterrollte und den Pacific Coast Highway erkannte, wurde ihm klar, dass er am Sunset Boulevard falsch abgebogen war. Zur Notaufnahme des UCLA wären es von Bennetts Haus aus schätzungsweise knappe fünf Minuten nach Osten gewesen.

Allmählich wurde er von Panik ergriffen. Im nächsten Moment bemerkte er ein Schaufenster. Und eine Leuchtreklame.

L. A. HUND UND KATZE.

Er fuhr rechts ran und stöhnte auf, als er feststellte, dass noch Licht brannte. Also riss er die Tür auf und stieg aus. Er hatte die Pistole, seine Sig Sauer, in der Hand, ohne zu wissen, warum. Außerdem konnte er kaum das Gleichgewicht halten. Obwohl sich kein Lüftchen regte, war es, als marschiere er gegen eine steife Brise an.

Endlich hatte er zu seinem eigenen Erstaunen die Tür erreicht. Durch die Scheibe sah er den Tierarzt, der an der Rezeption Formulare ausfüllte.

Cobb klopfte an die Scheibe. Es war ein schwaches Klopfen, eher nur ein Tippen, doch der Tierarzt blickte auf und wies auf das Schild an der Tür. »Wir haben geschlossen«, formte er mit den Lippen.

Wieder stöhnte Cobb wie ein Tier.

Wir haben geschlossen.

Diesmal sprach der Tierarzt so laut, dass Cobb ihn durch die Scheibe hören konnte.

Wir haben geschlossen.

Er glaubte sich jeden Moment übergeben zu müssen, stemmte sich mit aller Macht dagegen und bemühte sich, klar zu denken – doch keine Chance. Er stierte auf die Tür: ein Holzrahmen und eine Holzvertäfelung mit einer Glasscheibe. Dann machte er zwei Schritte rückwärts, nahm Anlauf und rammte die Schulter gegen das Schloss.

Die Tür flog auf. Der Tierarzt fuhr hoch.

Cobb hob die Pistole.

»Wenn Sie noch einmal ›Wir haben geschlossen‹ sagen, puste ich Ihnen Ihre blöde Rübe weg.«

Dem Tierarzt blieb der Mund offen stehen. Er starrte auf die in Cobbs Brust steckenden Serviettenrollen. Blut sickerte durch den Zellstoff und tropfte auf den Boden wie aus einem undichten Rohr.

»Ich bin Polizist«, fuhr Cobb fort. »Und ich brauche Ihre Hilfe.«

Der Tierarzt wollte antworten, doch es hatte ihm die Sprache verschlagen. Er war schätzungsweise fünfunddreißig, hatte ein jungenhaftes Gesicht und trug Jeans und einen Arztkittel. DR. FRANK stand auf dem Namensschild über seiner Brusttasche.

»Ich rufe einen Krankenwagen«, stammelte er.

Cobb schüttelte so nachdrücklich den Kopf, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor.

»Bis der hier ist, bin ich verblutet. Sie müssen es machen. Sie müssen mir helfen.«

»Aber ich bin Tierarzt«, protestierte der Mann. »Ich behandle Tiere.«

»Ich habe den Großteil meines Lebens gehaust wie ein Tier, Doc. Außerdem ist das hier nicht unbedingt eine Bitte.«

Cobb erinnerte sich zwar, dass er sein Magazin beim Beschuss auf Bennetts Pseudotraumhaus leer gefeuert hatte, hielt dem Tierarzt aber trotzdem die Mündung unter die Nase. Als er bemerkte, dass sich Franks Augen leicht weiteten, wusste er, dass er gewonnen hatte. Die Sig war eine beeindruckende Waffe. Cobb war schon immer sehr stolz darauf gewesen.

»Okay, okay«, sagte Dr. Frank. »Dann also los.«

Er nahm Cobb am Arm und führte ihn ins Behandlungszimmer. Es war mit einem Tisch aus Edelstahl ausgestattet. Die Fliesen an den Wänden waren genauso blau wie Gambles Augen. Cobb deutete das als gutes Zeichen. Allerdings musste er zugeben, dass es momentan von guten Zeichen nur so wimmelte.

Dr. Frank hob ihn auf den Tisch und zog sich ein Paar Vinylhandschuhe an. Dann zog er Cobb das Hemd aus und fing an, die Wunden zu verarzten. Er arbeitete so zügig wie ein Militärarzt auf dem Schlachtfeld, und Cobb fragte sich, ob er wohl im Krieg gewesen war.

»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte der Tierarzt. »Ich muss wissen, womit ich es zu tun habe.«

Cobb betrachtete ihn. Er war alt genug und schien sich auch nicht mehr zu fürchten.

»Drei Schüsse von hinten«, erwiderte er. »Ich zähle zwei Austrittswunden. Hoffentlich ist eine Kugel danebengegangen. Außerdem habe ich mein Telefon verloren, Doc. Falls mir etwas passiert …«

Eine riesige Welle schwappte durch seinen Körper.

Es fühlte sich an, als versinke er in einem Meer aus Erschöpfung. Trotzdem versuchte Cobb, die Situation so zusammenhängend wie möglich zu schildern, dem Tierarzt die Lage in groben Zügen zu erläutern und ihm mitzuteilen, dass Gamble in Gefahr schwebte. Allerdings war er nicht sicher, ob er ihn noch verstand. Er konnte nicht einmal mit Gewissheit sagen, ob er überhaupt laut redete.

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