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Als Tajirika eine Vorladung erhielt, vor dem Untersuchungsausschuss zum Schlangenwahn auszusagen, war er außer sich, Kaniũrũs Unterschrift darunter zu sehen. War der nicht sein Stellvertreter und eigentlich sein Gehilfe, ganz egal ob er nun Vorsitzender des Untersuchungsausschusses war oder nicht? Die Rangfolge musste eingehalten werden, trotz allem. Wie konnte er Kaniũrũ klarmachen, dass er, Tajirika, sein Chef war, und ihm zugleich eine Lektion in Sachen Demut und Ehrerbietung gegenüber seinem Vorgesetzten erteilen? Er dachte daran, die Vorladung in Stücke zu reißen, sie wieder in den Umschlag zu stecken und „Zurück an Absender“ daraufzuschreiben.

Dann kam ihm eine andere Idee. Warum schrieb er seinem Stellvertreter nicht einen Brief und beorderte ihn in sein Büro, um ihm seine Rolle als Stellvertreter klarzumachen und ihm die Bedeutung von Marching to Heaven einzuschärfen? Er malte sich die Situation aus. Sobald Kaniũrũ sein Büro betrat, würde er, Tajirika, ihm die Vorladung entgegenhalten oder, noch besser, sie vor seinen Augen in Fetzen reißen und sie seinem Gehilfen ins Gesicht werfen. Kaniũrũ würde vor Schrecken erbeben; Tajirika würde lächelnd zu ihm treten und ihm mit einer freundschaftlichen Geste der Vergebung auf die Schulter klopfen. Ein Spaß zwischen einem Stellvertreter und seinem Chef, würde er dem zitternden Kerlchen versichern, und damit wäre die Angelegenheit vom Tisch. Doch dann fiel ihm ein, weder über einen offiziellen Briefkopf noch über ein Siegel zu verfügen, die seine neue Stellung bewiesen. Nur der Außenminister oder der Herrscher besaßen die Macht, dergleichen zu verleihen, doch die waren immer noch in Amerika. Aber wer hatte Kaniũrũs Briefpapier genehmigt? Der Emporkömmling könnte es selbst getan haben. Was sollte er machen? Sikiokuu einen Besuch abstatten und den Kerl bloßstellen?

Ein oder zwei Tage später – er hatte sich noch nicht für eine Vorgehensweise entschieden – las er von Sikiokuus Absicht, die Büros des Untersuchungsausschusses und des Stellvertreters von Marching to Heaven offiziell einzuweihen. Furcht mischte sich in seine Selbstsicherheit. Im Augenblick stand Sikiokuu dem Land vor. Paka akienda panya hutawala, wie es bei den Waswahili heißt. Möglich also, dass ihn die Ratte verschlang, die in Abwesenheit der Katze das Land regierte. Doch dann schob er diese Befürchtungen beiseite. Sikiokuu konnte dem Vorsitzenden von Marching to Heaven nichts anhaben, denn das bedeutete, sich an einem Sonderbeauftragten des Herrschers zu vergehen. Und was Kaniũrũ anbelangte, so beschloss er, etwas anderes zu unternehmen.

Er würde im Büro seines Stellvertreters auftauchen – jedoch nicht an dem Tag, der in der Vorladung stand – und ihm mitteilen, dass er lediglich für ein kurzes Gespräch zum besseren Kennenlernen zwischen Chef und Stellvertreter vorbeigekommen sei.

Der Tag der Vorladung kam und verstrich. Tajirika dachte daran, seinen Besuch um eine weitere Woche zu verschieben. Doch als er am nächsten Morgen erwachte, änderte er seine Meinung und entschied, noch an diesem Tag hinzugehen und seinen Stellvertreter sofort an die Leine zu legen.

Am späten Nachmittag bat Tajirika seinen Fahrer, ihn in der Straße abzusetzen, in der sich Kaniũrũs Büros befanden. Noch im Auto begann Tajirika sich Worte zurechtzulegen, die seine Autorität unter Beweis stellten und diesen Emporkömmling von einem Untergebenen in die Schranken wiesen, doch seine innere Unruhe störte ihn dabei. Als er den Fahrer anwies, in der Rais Avenue anzuhalten und zu warten, war er noch immer dabei, seine Zurechtweisung zu formulieren. Er überquerte die Straße. Das Tor führte in einen riesigen, umschlossenen Innenhof. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein zweistöckiges Gebäude, in dem zwei Büros mit jeweils eigenem Haupteingang untergebracht waren. Über dem einen war ein Schild REGIERUNGSKOMMISSION ZUM SCHLANGENWAHN angebracht und über dem anderen stand STELLVERTRETENDER VORSITZENDER VON MARCHING TO HEAVEN. Tajirikas Augen blieben an diesem zweiten Schild hängen. „Stellvertretender“ war so winzig klein geschrieben, dass es beinahe unsichtbar war und man es zweifellos nur erkennen konnte, sofern man unmittelbar davorstand. Das Wort „Vorsitzender“ jedoch prangte in großen, farbigen Buchstaben auf dem Schild und war schon von Weitem gut lesbar.

Tajirikas erste Reaktion war ein Vorwurf an sich selbst: Warum war er nicht auf die Idee gekommen, sich als Vorsitzender von Marching to Heaven ein eigenes Büro einzurichten? Neid, Wut und Frust nagten in ihm. Warum hatte Kaniũrũ das Wort „Stellvertretender“ so verkleinert? Doch wohl nur um den Eindruck zu erwecken, hier herrsche der richtige Vorsitzende?

Dann bemerkte er die Leute, die im Hof warteten. Sie standen in Fünfergruppen zusammen, um die neue Vorschrift über die Länge von Warteschlangen an öffentlichen Plätzen einzuhalten. Sein Zorn steigerte sich. Einige von ihnen waren auch in seinem Büro gewesen, um sich mit Briefumschlägen zu empfehlen. War der Verkehr der Gunstkäufer von seinem Büro zu dem seines Stellvertreters umgeleitet worden? Erhielt er, Tajirika, deshalb keine Anrufe mehr, in denen man ihn bat, ihm seine Aufwartung machen zu dürfen? War der Zustrom von Briefumschlägen in sein Büro der Eldares Modern Construction and Real Estate deshalb versiegt? War es also Kaniũrũ, der den Flusslauf seines Glücks umgeleitet hatte?

Tajirika hätte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher gewünscht, als Kaniũrũ zu erwürgen. Jetzt dort hineinzugehen, ergab keinen Sinn. Kaniũrũ wäre am Ende sogar so unverfroren, sich einzubilden, Tajirika wäre ein weiterer Bittsteller mit Briefkuvert. Nein, die mögliche Demütigung, sich erklären zu müssen, konnte er sich nicht erlauben. Er war außer sich, als er zu seinem Auto zurückkehrte. Er war nicht einmal fähig, seinem Fahrer die Anweisung zu geben, ihn zum Büro zurückzufahren, und machte es ihm stattdessen durch Gesten deutlich.

Wenn er nur seinen Freund Machokali erreichen könnte! Warum hatte der Minister ihn nicht von Amerika aus angerufen? Bei ihrem letzten Treffen im Mars Café hatte der Minister gesagt, er würde sich ab und zu melden, um Neuigkeiten über die Aktivitäten seiner politischen Gegner zu erfahren. War das etwa keine Aktivität, über die Machokali Bescheid wissen und über die er sogar mit dem Herrscher sprechen sollte, um Sikiokuu und Kaniũrũ davon abzuhalten, die Geschäfte anderer Leute zu übernehmen? Er befürchtete, der Erfolg dieser beiden, den Chef von Marching to Heaven auszuschalten, könnte sie ermutigen, höhere Posten ins Visier zu nehmen … Nein, über die Möglichkeit eines Staatsstreichs durch Sikiokuu wollte er nicht nachdenken; er würde verrückt werden.

Tajirika beschloss, dass er der Vorladung vor den Untersuchungsausschuss nicht folgen würde, solange sein Freund Machokali und der Herrscher in den USA waren, und mit dieser mutigen Entscheidung gewann er seinen inneren Frieden zurück. Er gab dem Fahrer die Anweisung, doch nicht zum Büro zurückzufahren, sondern ihn zu seinem Haus in Golden Heights zu bringen.

Sie holten ihn um Mitternacht, Männer in Zivil. Wie einen Baumstamm warfen sie ihn auf die Ladefläche eines Land Rovers und ignorierten das Flehen Vinjinias. Sie sprachen kein Wort, wiesen sich nicht aus. Sie fuhren in die Dunkelheit davon und ließen Vinjinia in Finsternis und Stille an der Eingangstür stehen.

Herr der Krähen
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