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Als Nyawĩra auf dem Gelände der Eldares Modern Construction and Real Estate ankam, war ihr Chef Titus Tajirika bereits da. Ihr Büro, das gleichzeitig als Empfang diente, lag neben seinem, und bevor sie ihren Platz einnahm, ging sie hinüber, um sich bei ihm zu melden. Tajirika war in die Eldares Times vertieft, weshalb sie unsicher in der Tür stehen blieb und überlegte, ob sie sich räuspern sollte, um auf sich aufmerksam zu machen. Ihr war klar, dass er wütend war, wenn auch offensichtlich nicht auf sie, sondern auf das, was er las. Tajirika war ihre Gegenwart durchaus bewusst und schon kurz darauf legte er los.
„Diese Bettler können einem auf die Nerven gehen“, sagte er, und Nyawĩra war froh, dass er sie nicht nach dem Grund ihres Zuspätkommens fragte. „Ich weiß nicht, was man gegen sie unternehmen soll. Wie können sie es wagen, ihre Bettelhände genau an dem Ort auszustrecken, an dem die eigene Regierung …“, er wollte schon sagen „die Hände ausstreckt“, doch das gefiel ihm nicht, und er beendete den Satz mit „… Staatsgäste empfängt?“
„Ich habe noch keine Zeitung gelesen“, sagte Nyawĩra. „Was ist passiert?“
„Nun, wir, die Gastgeber und Gäste, waren im Paradise, deshalb haben wir von dem Tumult draußen überhaupt nichts mitbekommen. Und wenn die Zeitungen nicht wären – warum, verdammt noch mal, muss die Zeitung die randalierenden Bettler überhaupt erwähnen und ihnen umsonst diese Öffentlichkeit verschaffen?“ Er hielt die Zeitung in der linken Hand und zeigte mit der rechten – das Gesicht von Abscheu, Verachtung und Unverständnis verzogen – auf den ärgerlichen Artikel.
Nyawĩra reckte den Hals und las die Titelschlagzeile: BETTLER IM PARADISE. Sie erhaschte auch einen Blick auf ein Bild von flüchtenden Bettlern, denen Schlagstock schwingende Polizisten auf den Fersen waren, wollte aber kein unangebrachtes Interesse zeigen, indem sie näher an den Tisch herantrat. Und da Tajirika redete, wollte sie ihn auch nicht unterbrechen.
„Genau aus diesem Grund habe ich immer gesagt, die Regierung sollte alle Zeitungen verbieten. Wir kommen auch ohne sie aus. Haben unsere Vorfahren, bevor die Kolonialherren ins Land kamen, nicht bis ins hohe Alter ein erfülltes Leben gehabt, ohne jemals eine Zeitung zu lesen? Sie sind ein Fluch, diese Zeitungen, und wenn man mich fragen würde, was die Ursache für den Aufruhr gestern Abend war, dann würde ich mit einem einzigen Wort antworten: Neid. Diese Bettler sind bestimmt von unseren politischen Gegnern geschickt worden, um den Empfang zu stören. Wissen Sie eigentlich, dass einige Minister neidisch auf meinen Freund Machokali sind, nur weil er so weit sehen kann? Ich will Ihnen sagen, was mit uns Schwarzen nicht stimmt. Anders als den Indern oder Europäern fehlt es uns an Gruppensolidarität! Es passt uns nicht, wenn wir sehen, dass einer von uns Erfolg hat.“
Nyawĩra bemerkte, dass dies der passende Augenblick war, um ihm ein paar Informationen zu entlocken.
„Hat nun die Bank zugestimmt, Marching to Heaven zu finanzieren?“, fragte sie.
Ihre Anteil nehmende Neugier rührte ihn, und er antwortete mit einer Bereitwilligkeit, die sie überraschte.
„Aber warum stehen Sie denn? Nehmen Sie sich einen Stuhl und setzen Sie sich.“
Tajirika setzte sich aufrecht, bereit, ihr bis ins Detail alles über den Empfang zu erzählen, vor allem über seine eigene Rolle dabei. Das Interesse an seinem Bericht beruhte auf Gegenseitigkeit, und das Telefon, das genau in diesem Moment klingelte, irritierte beide. Nyawĩra tat so, als wollte sie in ihr Büro gehen, um das Gespräch anzunehmen, aber Tajirika, der keine Sekunde auf sein Publikum verzichten wollte, wies sie an, es an seinem Telefon anzunehmen.
„Eldares Modern Construction and Real Estate. Kann ich Ihnen weiterhelfen? … Ja … Sagen Sie mir bitte Ihren Namen? … Ihren Namen? … Bitte bleiben Sie einen Augenblick dran … Ich will nachsehen, ob er da ist.“
Sie bedeckte die Muschel mit der Hand. „Es ist für Sie.“
„Wer?“
„Das sagt er nicht. Er will mit Ihnen persönlich sprechen und er sagt, es sei dringend.“
Mürrisch griff Tajirika nach dem Hörer. Er ärgerte sich über die Störung.
„Glückwünsche? Wofür? … Heute?“, fragte er. Sein Unmut war wie weggeblasen, als er aufstand, von seinem Stuhl wegging und den Hörer ans Ohr hielt. „Im Radio? … Die Morgennachrichten? … Sind Sie sicher? … Ich glaube, wir sollten besser nicht am Telefon darüber reden … Ja … Ja … Warum kommen Sie nicht her? … Ja … Wir reden darüber.“
Sobald er den Hörer auf die Gabel gelegt hatte, läutete das Telefon erneut. Diesmal nahm er schnell selbst ab.
„Ja … Danke … Kommen Sie ins Büro.“
Es klingelte ein drittes, viertes und fünftes Mal, und er gab immer wieder dieselbe Antwort: „Kommen Sie ins Büro.“ Er schaute zum Fenster, trat hin, pfiff und winkte Nyawĩra zu sich.
Was sie sah, überwältigte sie. Auf der Straße, die zu ihrem Bürokomplex führte, stauten sich die Autos, die neuesten Modelle aller Fabrikate, überwiegend aber die mit dem Stern.
„Was ist denn hier los?“, rief Nyawĩra und schaute Tajirika fragend an.
Gedankenversunken schritt Tajirika im Büro auf und ab. Schließlich blieb er stehen und sagte mit fast zitternder Stimme: „Heute ist einer der größten Tage in meinem Leben, wenn nicht überhaupt der größte. Sie können sich ihn auch als den Tag meiner Wiedergeburt vorstellen. Minister Machokali hat heute Morgen verkündet, er habe empfohlen – und der Herrscher hat dem zugestimmt –, dass ich zum Ersten Vorsitzenden des Baukomitees für Marching to Heaven ernannt werden soll. Verstehen Sie, was das bedeutet? Das können Sie nicht, das sehe ich Ihnen an. Aber die Leute, die dort unten in ihren Autos sitzen, die wissen, was das bedeutet, und sie wissen auch von den finanziellen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Jeder Einzelne da unten möchte mir seine Aufwartung machen – ,meine Bekanntschaft machen‘, werden sie sagen. Und die meisten haben nicht einmal angerufen – sie sind sofort losgefahren. Ich erzähle Ihnen das, weil Sie mir, seit Sie bei mir angefangen haben, nur Glück gebracht haben. Oh, nein, nicht noch so ein Glückwunschanruf! Nein. Lassen Sie das Telefon klingeln. Gehen Sie in Ihr Büro, empfangen Sie die Besucher und bringen Sie sie einzeln in mein Büro. Nehmen Sie die Anrufe entgegen und machen Sie Termine wie immer. This is manna from Heaven“, sagte er, als führte er ein lautes Selbstgespräch.
Nyawĩra eilte hinüber in ihr Zimmer, und Tajirika setzte sich in der Pose eines in Papierkram vertieften leitenden Angestellten an seinen Schreibtisch. Schon kurz darauf war der Empfangsbereich überfüllt, und draußen wartete eine noch größere Menge darauf, vorgelassen zu werden. Das Telefon läutete unaufhörlich. Außerstande, alles gleichzeitig zu bewältigen, fand Nyawĩra schnell eine Lösung. Auf zwei Blatt Papier schrieb sie: BITTE ANSTELLEN. WER SICH NICHT IN DIE SCHLANGE STELLT, WIRD NICHT VORGELASSEN. Einen Zettel befestigte sie an einer Wand im Büro, den anderen draußen.
Die Leute drängelten und schoben, warfen einander Beleidigungen an den Kopf und versuchten, sich möglichst an der Spitze der Schlange einzureihen. Wie die Kinder, dachte Nyawĩra. Und alles nur, um dem Vorsitzenden seine Aufwartung zu machen? Die Würdenträger stammten alle aus Eldares, sie kamen aus verschiedenen Gemeinschaften, gehörten verschiedenen Nationalitäten und unterschiedlichen Rassen an, doch alle einte der Wunsch, Tajirika unter vier Augen zu sprechen. Nyawĩra führte einen nach dem anderen in Tajirikas Büro.
Der erste blieb nur wenige Minuten, sein Anliegen musste aber zu seiner Zufriedenheit behandelt worden sein, denn er strahlte, als er wieder herauskam. Dasselbe geschah beim zweiten, dritten, vierten, fünften und so weiter. Ein paar Minuten beim Vorsitzenden und alle schienen sich eines kleinen Glücks zu erfreuen, wenn sie zu ihrem Mercedes zurückgingen. Tajirika vermittelte allen Besuchern ein Glücksgefühl! Wie war das möglich?, wunderte sich Nyawĩra.
Nyawĩra, die Besucher in Tajirikas Büro geführt, Namen festgehalten, Akten geordnet und Telefonanrufe entgegengenommen hatte, fand bald heraus, was da vor sich ging. Jeder bot seine Dienste als Subunternehmer für Marching to Heaven an und hoffte darauf, berücksichtigt zu werden. Ob sie anboten, Zement, Holz, Nägel, Toilettenpapier, Nahrungsmittel oder Getränke zu liefern, sie redeten und benahmen sich so, als hätte die Global Bank das Geld für das Projekt bereits ausgezahlt.
Tajirika sagte ihnen offen, es sei mit der Global Bank noch nicht über die Kredite verhandelt worden, der Empfang im Paradise sei nur ein gesellschaftliches Ereignis gewesen und Verträge würden erst in ferner Zukunft abgeschlossen. Aber davon wollten sie nichts wissen. Für sie war das Ganze eine logische Angelegenheit: Warum sollte Minister Machokali einen Vorsitzenden für das Baukomitee ernennen und seinen Namen öffentlich bekannt geben, wenn er nicht einigermaßen sicher davon ausging, dass die Global Bank das Geld zur Verfügung stellte? Einige von ihnen hatten gelesen, die Global Bank hätte Millionen und Abermillionen an Russland gegeben und das Land bestochen, damit es friedlich vom Sozialismus ließ. Wieviel mehr käme also auf ein Land zu, dessen Führung niemals von Demokratie geträumt und auch nicht mit sozialistischem Unsinn herumexperimentiert hatte? Kein Wunder, dass die Besucher ihre Visitenkarten daließen.
Mit jeder Karte wechselten Tausende Burĩ den Besitzer. Einige Herrschaften wollten Schecks ausstellen, aber darauf ließ Tajirika sich nicht ein. Bargeld und nichts anderes, ließ Tajirika sie wissen, und sie beeilten sich, ihm zu versichern, dass sie das selbstverständlich verstünden. Einige bestanden auf einer Verabredung zu einem Geschäftsessen und legten noch ein paar Burĩ drauf. Und keiner verlor auch nur ein Sterbenswort über das Geld, das er im Büro zurückließ. Selbst ihren engsten Freunden sagten sie nur, dass sie dem Vorsitzenden ihre Aufwartung gemacht und ihre Visitenkarte überreicht hätten. Das Geld türmte sich, und die Schreibtischschubladen quollen so schnell über, dass Tajirika Nyawĩra losschicken musste, um für den weiteren Geldsegen Säcke und Kartons zu kaufen.
Nachmittags um vier war die Schlange zwar kürzer geworden, das Telefon klingelte aber immer noch in einem fort. Es waren Geschäftsleute von außerhalb, die ebenfalls um einen Termin beim Vorsitzenden baten. Angesichts der großen Anzahl von Terminen wurde Nyawĩra schnell klar, dass sie die Arbeit in den kommenden Tagen nicht alleine bewältigen konnte. Am Abend, als der letzte der Schlange gegangen war, konfrontierte Nyawĩra ihren Chef mit diesem Problem.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, meinte Tajirika erfreut über diese Nachricht, die weitere Visitenkarten und Geldscheine bedeutete. „Nehmen Sie das Keine-Stellen-Schild an der Straße ab und machen Sie ein anderes dran, auf dem steht, dass wir Aushilfen einstellen. So was wie ‚Aushilfsjobs zu vergeben‘ oder einfach ‚Aushilfsjobs‘. Das machen wir immer so, wenn die Arbeit überhandnimmt. Aber wie diesmal war es noch nie. Wenn Sie das Schild angebracht haben, Nyawĩra, lassen Sie’s gut sein für heute. Gehen Sie nach Hause. Wir sehen uns dann morgen. Und versuchen Sie, pünktlich zu sein“, fügte er hinzu, um ihr klarzumachen, dass seiner Aufmerksamkeit nichts entging. „Morgen zählt jede Minute.“
In einer Zimmerecke entdeckte Nyawĩra drei Säcke voller Burĩ-Scheine. Der Chef hatte recht gehabt: Es war wirklich Manna vom Himmel gefallen, sagte sie sich beim Hinausgehen. Sie ging in den kleinen Lagerraum neben dem Empfang und holte ein großes Sperrholzbrett heraus, das ihr als Anschlagtafel dienen sollte. Aber es war so groß und schwer, dass sie ihre Handtasche auf dem Schreibtisch abstellte. Sie wollte sie später mitnehmen, nachdem sie das Schild angebracht hatte.
Es war ungefähr fünf Uhr. Sie ging durch den Haupteingang hinunter auf die Straße. Als sie das Schild KEINE FREIEN STELLEN: KOMMEN SIE MORGEN WIEDER sah, erinnerte sie sich, was Kamĩtĩ widerfahren war – die wohl durchdachte Demütigung. Sie geriet so sehr darüber in Wut, dass ihr die Hände zitterten und das neue Schild herunterfiel. Ihr Zorn setzte Energie frei. Sie zog das alte Schild heraus und schleuderte es von sich. Mit einem Gefühl des Triumphs ersetzte sie es durch das neue. Als Nyawĩra einen Schritt zurücktrat, um ihre Arbeit zu begutachten, spürte sie, dass jemand hinter ihr stand.
„John!“, rief Nyawĩra erschrocken.
Kaniũrũ stand einige Meter von dem neuen Schild entfernt, fast an derselben Stelle, an der Kamĩtĩ am Tag zuvor gestanden und versucht hatte, seine Demütigung zu verarbeiten. Kaniũrũ las laut: AUSHILFSJOBS: PERSÖNLICHE VORSTELLUNG ERWÜNSCHT!
„Was machst du hier?“, fragte sie ihn.
„Trinken wir im Mars Café einen Kaffee“, schlug er vor.
„Ich mag keinen Kaffee“, antwortete sie.
„Dann nimmst du eben einen Tee, einen Milchshake, Soda, irgendwas. Ich habe Neuigkeiten.“
„Ich kann selber Zeitung lesen. Und ich höre Radio.“
„Das sind keine gewöhnlichen Neuigkeiten. Das ist etwas, was du unbedingt wissen musst.“
Nyawĩra dachte kurz darüber nach, obwohl sie sich bemühte, so desinteressiert wie möglich zu wirken. Sie gähnte und seufzte, als gäbe sie seinem Drängen nur widerstrebend nach.
„Okay, ich bin gleich zurück“, sagte sie schließlich. „Oder besser, wir sehen uns im Mars.“
Sie ging mit dem alten Aushang ins Büro zurück, um ihn im Lagerraum zu verstauen.
Die Tür war abgeschlossen. Sie zog den Schlüssel aus einer ihrer Taschen, öffnete und erstarrte. Sprachlos stand sie da und schaute in eine Gewehrmündung. Sie schloss die Augen und rechnete mit dem Schlimmsten.
„Oh, Sie sind’s?“, sagte Tajirika und ließ die Waffe sinken. „Ich habe gedacht, da versucht jemand einzubrechen. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen heimgehen?“
„Meine Handtasche“, antwortete sie mit bebender Stimme. „Ich habe gerade das neue Schild angebracht“, fügte sie benommen hinzu und zeigte auf das alte. „Ich wollte nur noch meine Handtasche holen.“
„Gut. Dann helfen Sie mir doch mal, die Sisalsäcke zum Auto zu bringen.“
Die Säcke waren schwer und bis zum Rand mit Burĩ-Scheinen gefüllt. Tajirika schleppte zwei, Nyawĩra einen zum Kofferraum seines cremefarbenen Mercedes.
Sie sah dem Wagen hinterher, der sich in den Verkehr einordnete und schließlich verschwand. Dann wurde ihr schlagartig bewusst, was hätte geschehen können. Mit weichen Knien setzte sie sich, um sich zu sammeln. Dann ging sie zu Kaniũrũ ins Mars Café.