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Was hatte der Mann ihm sagen wollen? Der Herr konnte überirdisch oder irdisch sein. Diejenigen, die den Schrein niedergebrannt hatten, standen in irgendeiner Beziehung zum Herrscher. Lobet den Herrn. Es hatte keine Opfer gegeben, deshalb: Lobet den Herrn. Diese Erklärung erleichterte ihn. Nyawĩra lebte. Aber wo war sie? War sie verletzt? War sie im Krankenhaus oder hatte man sie gefasst? Wie sollte er das herausfinden? Wo sollte er sie suchen? Andererseits: Wenn man Nyawĩra gefasst hatte, hätte das in allen Zeitungen gestanden. Er suchte in den Archiven der Eldares Times, jedoch vergeblich. In letzter Zeit war nichts über Nyawĩra, die Bewegung für die Stimme des Volkes oder Brandstiftung erschienen. Er ging ins Polizeihauptquartier und gab sich als Reporter der Eldares Times aus, der herausfinden wollte, ob es in den verschiedenen Landesteilen unlängst Verhaftungen oder Unfälle gegeben hatte. Aber auch dort musste er mit leeren Händen abziehen. Er klapperte die Krankenhäuser ab, ebenfalls umsonst.

Während der Tage und Wochen seiner Suche magerte er ab und bald sah er dem, der aus Amerika zurückgekehrt war, kaum noch ähnlich. Weil seine Suche keine beunruhigenden Neuigkeiten zu Tage förderte, war er sich beinahe sicher, dass Nyawĩra lebte und frei war. Doch manchmal fragte er sich, ob sie sich vielleicht im Gewahrsam der von Sikiokuu kontrollierten Geheimpolizei befand. Als er für Sikiokuu geweissagt hatte, hatte er immer wieder gesehen, wie Nyawĩra in einer Menge verschwand, und deshalb begann er sie überall dort zu suchen, wo sich Menschen versammelten, um Gutes zu tun.

Er ging in die katholischen, protestantischen und orthodoxen Kirchen; in die Moscheen und die Tempel der Hindus, Sikhs, Jaina und Juden im ganzen Land; aber es gab an diesen Orten der Verehrung keinerlei Spur von Nyawĩra.

Dabei kam er auch an einigen Menschenschlangen vorbei, langsamen, unaufhaltsamen Prozessionen, und war nicht sicher, ob diese neu oder Fortsetzungen der alten waren. Aber ob es nun alte oder neue waren, spielte keine Rolle für ihn. Er sah in ihnen nur Menschenansammlungen, in denen der Geist Nyawĩras leben könnte, und deshalb begann er dort nach ihr zu suchen. Er stellte sich jedoch nicht an, sondern ging alle Warteschlange ab, das Gesicht nach links oder rechts gewandt, je nachdem, auf welcher Seite der Reihe er sich befand. Weil sich die Schlangen täglich und überall vervielfachten, bekam er bald einen steifen Hals.

Eines Tages stieß er auf eine Prozession, die besser organisiert zu sein schien als die anderen, an denen er bislang vorbeigekommen war, und ihr Anliegen in einem Lied zum Ausdruck brachte:

Das Volk hat gesprochen

Das Volk hat gesprochen

Gebt mir meine Stimme wieder

Das Volk hat gesprochen

Gebt mir die Stimme wieder, die ihr mir genommen

Die Szenerie wandelte sich täglich; immer häufiger begegnete er Menschen, die von der Stimme des Volkes sangen und sich auf Eldares zubewegten. Trotzdem suchte er weiter, ging an ihnen entlang, musste aber wie die Motorradfahrer feststellen, dass sie weder Anfang noch Ende hatten.

Der Gedanke kam wie aus dem Nichts: Was, wenn Nyawĩra ihn verlassen und sich mit einem anderen, möglicherweise einem ihrer jüngeren Kameraden, eingelassen hatte? Er dachte daran, wie Margaret Wariara, die später dem tödlichen Virus zum Opfer fiel, ihn verlassen hatte. Gab es etwas an ihm, das die Menschen, die er am meisten liebte, von ihm wegtrieb? Doch auch wenn er es versuchte, er konnte sich nicht vorstellen, dass Nyawĩra ging, ohne sich von ihm zu verabschieden. Aber hatte er sich je vorstellen können, dass Wariara, eine häusliche Frau, sich für die Touristen in den großen Hotels prostituieren würde?

Der Gedanke an Wariara trieb ihn dazu, in den Bars, die überall im Land wie Pilze aus dem Boden schossen, nach Nyawĩra zu suchen. Dort wurden alle erdenklichen Sorten Bier und Schnaps verkauft und es kam oft zu Schlägereien, weil die Trinker sich gegenseitig die bessere Qualität ihrer Sorten vorhielten. Er fühlte sich unbehaglich, einfach nur herumzustehen oder ohne Drink, gerade mal mit einem Soda, in einer Ecke zu sitzen.

Ab und zu genehmigte er sich ein Bier, um sich der trinkenden Gemeinschaft anzupassen. Anfangs beschränkte er sich auf ein Glas am Tag. Doch mit jedem vorübergehenden Tag wuchs die Menge, die er trank. Das Bier war nun sein Retter. Wenn er aus trunkener Benommenheit erwachte und die Wirklichkeit ihn zu verschlingen drohte, eilte er zurück zum Tempel und suchte Erlösung. Der Alkohol enttäuschte ihn nie, hielt seine Sorgen immer auf Distanz.

Seine Mittel waren erschöpft, und so verbrachte er seine Tage damit, statt nach Nyawĩra nach billigerem und wirksamerem Gebräu zu suchen. Nyawĩra und der Herr der Krähen verblassten zu Gestalten aus einem Traum, vor langer Zeit in einem fernen Land. Jetzt hatte er neue Freunde, Säufer wie er selbst, und wenn er kein Geld hatte, bettelte er sie um ein oder zwei Schnäpse an.

Unter den Zechkumpanen wurden viele Geschichten und derbe Witze erzählt. Eines Tages entdeckte er in einer überfüllten Bar einen Mann, der der Menge aus einem Buch mit dem Titel „Der gekreuzigte Teufel“ vorlas. Immer wenn er sein Glas geleert hatte, machte er eine Pause und verkündete, dass er seinen Schnabel befeuchten müsse. Und erst wenn ihm die Umstehenden das Glas wieder gefüllt hatten, las er weiter. Der Erfolg des Mannes, sich kostenlose Getränke zu ergattern, inspirierte Kamĩtĩ, selbst Geschichten zum Besten zu geben. Er erzählte, wie er einst am Fuße eines Müllbergs aus seinem Körper gefahren und als Vogel hoch durch die Lüfte geflogen war, bevor er eben noch rechtzeitig in seinen Körper zurückkehrte, weil Müllmänner sich daran machten, ihn zu begraben. Die Menge interessierte sich nicht für Kamĩtĩs Märchen, nur ein Betrunkener, der immer allein in einer Ecke saß, als wollte er sich verstecken, horchte auf. Er, der sonst kaum etwas sagte, hob plötzlich die Stimme: „Was hast du gesagt?“

Die anderen Trinker waren überrascht, die Stimme des Mannes zu hören, und fragten sich: Hat Bileams Esel endlich eine Stimme bekommen? Kamĩtĩ, der glaubte, schließlich doch ein interessiertes Publikum gefunden zu haben, wiederholte die Geschichte. Der Betrunkene, bekannt als Mr. Gehstock – er hatte stets seinen Stock mit kreuzförmigem Griff bei sich –, kam herüber und starrte ihm entsetzt in die Augen, schüttelte den Kopf und ging murmelnd zu seinem Platz zurück: „Nein, das ist unmöglich, er hat keine Tasche auf dem Rücken wie der andere. Und er hat keine Hörner.“ Dennoch wechselte der Betrunkene, der in dieser Bar schon zum Inventar gehört hatte, das Lokal und zog von da an von Bar zu Bar, und wenn eine neugierige Zunge wissen wollte, warum, sagte er: „Wenn man zu lange auf demselben Stuhl sitzt, schlafen die Arschbacken ein.“

Bei anderer Gelegenheit erzählte Kamĩtĩ in der gleichen Trinkerrunde, wie er sich in einen Vogel verwandelt und ganz Afrika und die Karibik besucht hatte, aber das ging seinen Zuhörern zu weit, und sie meinten, er solle seine blanken Lügen irgendwelchen leichtgläubigen Dummköpfen anderswo erzählen. Irgendwie fehlte seinen Geschichten oder der Art, wie er sie erzählte, die Kraft, die die Zuhörer in Welten mitnahm, die sie noch nie besucht hatten, die ihnen Wunder zeigte, die sie noch niemals gesehen hatten, die sie das vertraute Milieu ewigen Elends zumindest vorübergehend vergessen ließ, und deshalb wurde sein Glas nur selten gefüllt. Enttäuscht gab er das Geschichtenerzählen auf. Da nicht viel in sein Glas floss, verließ er die Bar manchmal schon früh und machte sich auf den Weg nach dem, was ihm Zuhause geworden war, seinen dem Erdboden gleichgemachten Schrein, in dem er morgens neben einer Katze erwachte, die sich an ihn schmiegte. Es war dieselbe Katze, die er gesehen hatte, als er zum ersten Mal vor den verkohlten Ruinen stand. Wie an jenem Tag maunzte die Katze einmal auf und ging davon, und er blieb verwundert mit der Frage zurück, ob er ihr folgen sollte, konnte sich aber nicht dazu entschließen.

Als er eines Nachts seine Stammkneipe verließ, entdeckte er an der Wand ein Plakat, und irgendetwas daran ließ ihn stehen bleiben. Das Bild darauf hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit ihm – zumindest mit seinem Äußeren, bevor der Alkohol die Herrschaft über Körper und Geist erlangt hatte. Nein, es war nicht sein Gesicht, weder jetzt noch damals, denn er hatte nie lange Haare getragen, und der Bart ließ ihn wie eine Art schwarzer Jesus aussehen. Als er näher heranging und das Plakat berührte, schien das dargestellte Gesicht ein wenig an Sikiokuu zu erinnern. Darunter stand geschrieben: AN DEN HERRN DER KRÄHEN! MELDEN GEGEN BELOHNUNG. Er rieb sich die Augen und schaute noch einmal hin. Da stand eine Telefonnummer. Warum eine Belohnung? Wofür? War die Belohnung für ihn oder für denjenigen, der ihn auslieferte? Er war vollkommen ratlos, was er damit anfangen sollte, zumal er in den nachfolgenden Tagen noch weitere Plakate entdeckte, die zu dem ersten im Widerspruch standen.

Eines Nachmittags ging er in seine Stammkneipe, die Sell-Me-Death-Bar, und hoffte, obwohl er schon völlig betrunken war, auf ein weiteres Glas. Vor der Wand, an der eines der Plakate mit dem Jesus-Bart auf Sikiokuus Gesicht hing, stand ein herrenloses rotes Motorrad, aber das interessierte ihn nicht; und auch der Plakatkrieg beschäftigte ihn nicht weiter.

Was jedoch selbst im trunkenen Zustand seinen Neid weckte, war die große Menschenmenge, die sich um einen Erzähler scharte, dessen Geschichten und die Art, in der er sie vortrug, die Phantasie der Zuhörer so beflügelte, dass einige sogar vergaßen, warum sie hierhergekommen waren. Der Höhepunkt kam, als der Geschichtenerzähler die Stimme senkte und Andeutungen machte, etwas über die Schwangerschaft eines Präsidenten zu wissen. Die Leute stießen einen Pfiff aus. Dann folgte Stille. Sie warteten ab. Ein schwangerer Präsident?

„Ehrlich! Haki ya Mungu!“, sagte der Geschichtenerzähler mit lauter Stimme.

Herr der Krähen
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