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Kamĩtĩ konnte das Gesicht des Geschichtenerzählers nicht genau erkennen. Aber die Wendung „Ehrlich! Haki ya Mungu!“ riss ihn aus seiner dumpfen Gleichgültigkeit. Wann und wo hatte er diese Wendung zuletzt gehört?
„Sogar die weißen Ärzte waren von dem seltsamen Ereignis verblüfft“, fuhr der Geschichtenerzähler fort. „Und der Herr der Krähen? Oh, nein, der nicht. Ich war im Flugzeug dabei, als der Brief verlesen wurde, und habe alles gehört. Mr. Präsident, stand in dem Brief, Sie sind schwanger, und keiner weiß, was Sie zur Welt bringen werden.“
Wer ist dieser Mann, der meine Worte benutzt?, fragte sich Kamĩtĩ. Warum verdreht er sie und macht Lügen daraus? Ihm war, als könnte er diesem Geschichtenverdreher nicht gestatten, weiter den Sinn seiner Worte zu verfälschen. Er fühlte sich wie ein Autor, dessen Werk von einem anderen abgekupfert wurde, nur um es in Form und Inhalt zu verdrehen. Und obwohl er betrunken war, spürte er das Bewdürfnis, seine schriftstellerische Integrität zu verteidigen.
„Hapana! Nein, so war es nicht!“, hörte er sich zur Verblüffung des Publikums sagen.
Alle drehten sich zu Kamĩtĩ um. Diejenigen, die ihn aus dieser oder einer anderen Bar kannten, taten ihn kurzerhand als den Trinker ab, der jedes Mal versuchte, eine gute Geschichte zu verderben. Der Geschichtenerzähler war von seiner Einmischung verblüfft und belustigt. Wer war das, der seine Geschichte auf eine Weise in Frage stellte, wie das noch kein anderer Zuhörer gemacht hatte, an keinem einzigen Ort, an dem er seine Geschichte erzählt hatte? „Hapana! So war es gar nicht. Machokali ist mein Zeuge. Ich hinterließ ihm eine Nachricht am Empfang, ja, des, ich meine am Empfang des Hotels – Himmel, wie hieß es gleich? VIP. New York, ja, Very Important People Hotel, New York, wo es viele gelbe Taxis und schwarze Müllsäcke gibt. Warum gelb? Warum schwarz? Fragt mich nicht. Also, was wollte ich sagen? Meine Nachricht war für eine Person gedacht, für eine einzige: Machokali, den Minister für Auswärtige, ich meine, für Angelegenheiten. Und ich wollte ihm nur eines mitteilen, nur eines. Passen Sie auf sich auf. Warum? Ich will es noch einmal wiederholen. Das Land ist schwanger. Und niemand weiß, was es zur Welt bringen wird. Das war alles. Ich halte diesen Krieg um meine Worte nicht aus. Ich gehe …“
Kamĩtĩ stolperte zur Tür. Doch bevor er sie erreichte, war einigen Zuhörern bereits herausgeplatzt: „Der Säufer hat die Wahrheit gesagt. Mit diesem Land stimmt etwas nicht.“ Plötzlich verstummten sie, so hypnotisiert waren alle von dem, was sich vor ihren Augen abspielte. Zitternd vor Erregung versuchte der Geschichtenerzähler, den Betrunkenen einzuholen.
„Herr der Krähen“, rief er. „Erkennen Sie mich nicht? Ich bin es, Arigaigai Gathere, alias A.G.“
Doch es sollten noch weitere Überraschungen folgen. Ein Mann, der gerade in die Bar gekommen war, rief: „Herr der Krähen! Ich bin Elijah Njoya, der Sie zum Flughafen gebracht hat, erinnern Sie sich?“
Kamĩtĩ zeigte keinerlei Anzeichen des Wiedererkennens.
Draußen war das Röhren eines Motorrads zu hören, und Sekunden später stand der Fahrer keuchend in der Tür. „Herr der Krähen!“, rief er. „Ich bin Peter Kahiga. Sie erinnern sich doch an mich?“
Kamĩtĩ blieb stumm.
Die drei Männer, A.G., Kahiga und Njoya, riefen nun gleichzeitig: „Sie werden im State House erwartet!“
Aber Kamĩtĩ wa Karĩmĩri, alias Herr der Krähen, schien die drei nicht zu hören, sondern torkelte, gefolgt von den drei Polizisten, denen die Menge aus der Bar nachdrängte, zur Tür. Er ging hinaus, stolperte ein Stück die Straße entlang, blieb stehen und übergab sich auf das Gras am Straßenrand. Er fiel hin und blieb im Erbrochenen liegen; unmittelbar darauf begann er zu schnarchen.
A.G., Njoya und Kahiga, die dem Herrn der Krähen gefolgt waren, begannen heftig zu streiten. Jeder behauptete, der Erste gewesen zu sein, der den Zauberer erkannt habe, und dass es sein Recht sei, den Hexenmeister zu dem Chef zu bringen, der ihn auf seine Mission geschickt hatte. Diejenigen, die aus sicherer Entfernung zugesehen hatten, sagten später, dass die Auseinandersetzung zwischen den dreien so schlimm wurde, dass sie ihre Waffen zogen und einander wohl erschossen hätten, wenn sie keinen Kompromiss gefunden hätten. Sie wollten Sikiokuu, Machokali und Kaniũrũ beiseite lassen und den Herrn der Krähen direkt zum Herrscher ins State House bringen. Sie einigten sich, dass A.G. als Ranghöchster – er war Senior Superintendent, während die beiden anderen nur Assistent Senior Superintendents waren – im State House anrufen und den Herrscher auf seine wertvolle Trophäe vorbereiten sollte. Sobald sie im State House ankämen, wollten sie ihre Chefs über die Mobiltelefone von dem „Fait“ unterrichten, das gleich „accompli“ werden würde. Dadurch hätte keiner der drei Chefs den Vorteil, vor den anderen Bescheid zu wissen, und die drei Polizisten würden alle Lorbeeren ernten, weil sie den Zauberer gefunden hatten.
Der Herr der Krähen bekam davon nichts mit. Er schien bewusstlos und merkte nicht einmal, dass man ihn auf dem Rücksitz von A.G.’s Motorrad festband. Njoya fuhr voran, Kahiga hinterher, und die drei Motorradfahrer machten sich triumphierend auf den Weg zum State House.