11

Viel später, nachdem sein Leben viele überraschende Wendungen genommen hatte, die selbst für ihn, einen ausgebildeten Polizisten, jeglicher Vernunft zuwiderliefen, fand sich Constable Arigaigai Gathere immer wieder von einer Menschenmenge umringt, die eine Geschichte nach der anderen über den Herrn der Krähen hören wollte. Damals fingen die Leute an, ihn liebevoll mit den Anfangsbuchstaben seines Namens, A.G., zu rufen, wobei einige Zuhörer trocken behaupteten, sie stünden für „Ausgewiesener Geschichtenerzähler“. Wenn er in einer Kneipe seine Erlebnisse zum Besten gab, wurde seine Phantasie von einem nie versiegenden Schnapszufluss zu stets neuen Höhenflügen angefeuert. War er dagegen auf dem Land, auf einem Markt oder an einer Straßenkreuzung, fühlte sich Constable Arigaigai Gathere durch den Anblick der gespannten Gesichter der Männer, Frauen und Kinder beflügelt, die ihm begierig jedes Wort von den Lippen lasen. Doch egal wo er sich befand, seine Zuhörer erhielten von ihm Nahrung für die Seele: die unerschütterliche Hoffnung, dass, wie ausweglos etwas auch erschien, immer eine Wende zum Guten möglich war. Denn wenn ein einfacher Sterblicher wie der Herr der Krähen sich in jedes erdenkliche Wesen verwandeln konnte, dann konnte nichts dem menschlichen Willen zur Veränderung widerstehen.

„Und wenn ich sage, dass er sich in alles Mögliche verwandeln konnte“, hob er immer hervor, „dann weiß ich das nicht nur vom Hörensagen. Ehrlich, Haki ya Mungu. Ich rede von dem, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.“

Die Geschichte, die sie immer wieder hören wollten, war die von jener Nacht, in der A.G. zwei Bettler von den Toren des Paradise vertrieb. Anfangs berichtete A.G. noch, dass er mit zwei anderen Polizisten zusammen gewesen war, doch im weiteren Verlauf und der ständigen Wiederholung der Geschichte verschwanden sie aus seiner Erzählung.

„Ja, es begann vor dem Paradise. Man hatte uns dorthin geschickt, um sicherzustellen, dass die Besucher von der Global Bank nicht von der Bettlermenge belästigt wurden. Anfangs benahmen sich die Bettler auch ganz ordentlich, doch als sie anfingen, Wörter zu rufen, die mir niemals über die Lippen kommen würden, erhielten wir von oben den Befehl, sie zum Schweigen zu bringen und auseinanderzutreiben. Das war am frühen Abend, erinnere ich mich. Ich sah, wie mich ein in Lumpen gehüllter Mann mit Augen anschaute, die in der Dunkelheit heller glühten als die eines Tigers. Ich spürte, wie mich seine Augen zwangen, ihm zu folgen, als er fortging. Ich wollte ihm sagen, er solle damit aufhören, brachte aber keinen Ton heraus. Und was noch erstaunlicher war: Er rannte nicht davon. Ehrlich, Haki ya Mungu. Der Mann spazierte gemütlich dahin und schwang dabei eine große Tasche. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, hinter ihm her zu rennen, die Entfernung zwischen uns blieb gleich.

Es schien mir, als wäre dieser Mann nicht allein; neben ihm ging noch jemand und geleitete ihn durch die Dunkelheit. Wie soll ich es erklären? Manchmal sah ich nur einen, dann waren es auf einmal wieder zwei.

Als ich versuchte, stehen zu bleiben und die Lage zu überdenken, musste ich feststellen, dass ich das nicht konnte. Ehrlich, Haki ya Mungu. Und schließlich fand ich mich draußen im Grasland wieder. Fragt mich nicht, wie ich dort hingekommen bin – ich weiß es bis heute nicht. Der Mond schien, das stimmt, aber er wurde immer wieder von Wolken verhüllt. Es war, als hätte sich der Himmel mit ihm verbündet, um mit mir in Licht und Schatten Verstecken zu spielen. Er ließ mich die ganze Zeit im Kreis rennen. Dann sah ich ihn im Buschwald verschwinden und folgte ihm. Es war stockfinster in dem dichten Gehölz. Ich stolperte und fiel über einen gespaltenen Stein. Ich sprang auf und rannte weiter. Erst als ich auf der anderen Seite des Buschwalds herauskam, wurde mir klar, dass ich mich in der Nähe von Santalucia befand. Zwischen dem Rand des Buschs und den Häusern lag ein offenes Gelände, und als der Mann dieses überquerte, erkannte ich, dass es sich tatsächlich nur um eine Person handelte. Und trotzdem hätte ich schwören können, zwei Personen gesehen zu haben! Aber mit einem Mal war der Mann verschwunden. Und weil im Dickicht keine Lücke war, konnte ich mir auch nicht erklären, wie er da hindurchgekommen sein soll.“

„Willst du damit sagen, du hast nicht mal gesehen, wie er über die Hecke gesprungen ist?“, fragte jemand.

„Nein, hab ich nicht. Ehrlich, Haki ya Mungu.

„Vielleicht hat er sich selbst in eine Hecke verwandelt“, schlug ein anderer als Erklärung vor.

„Ja. Du sagst es.“

„Und was hast du gemacht? Aufgegeben?“

„Ich? Aufgeben? Oh, nein. Ich beschloss, überall nach ihm zu suchen.“

A.G., du bist mutig, Mann! Selbst wenn ich in jeder Hand zehn Pistolen gehabt hätte, wäre ich nicht einen einzigen Schritt weitergegangen.“

„Nun ja, mir fehlt es wirklich nicht an Mut. Ich suchte nach einem Weg, nach Santalucia hineinzugelangen. Ihr wisst ja, in Santalucia stehen die Häuser sehr dicht und alle sehen gleich aus. Die Straßen sind eng. Die Beleuchtung ist armselig. Also stellt euch vor, wie ich meine Waffe fest in der Hand halte. Ich versuche es bei diesem, versuche es beim nächsten Haus. „Polizei. Öffnen Sie die Tür.“ Die Leute sahen mich voller Furcht an und antworteten mit trockenem Mund. Dann sagte ich mir, dass das so nicht funktioniert. Ich sollte lieber von Tür zu Tür gehen, lauschen, durch Ritzen in den Wänden spähen und nur dann verlangen, die Tür aufzumachen, wenn ich etwas Verdächtiges sehe oder höre. Ich führte meinen neuen Plan aus. Und dann, wie soll ich sagen? Plötzlich spürte ich, wie eine Kraft mich erfasste, herumwirbelte und mich zwang, etwas anzusehen. Ein Blick auf dieses Ding, das da am Dach hing, und ich wusste sofort, dass ich es mit einem mächtigen Zauber zu tun hatte. Als ich näher trat, sah ich, wie Buchstaben von der Mauer sprangen und auf mich zukamen: ACHTUNG! DIESES ANWESEN GEHÖRT EINEM ZAUBERER, DESSEN MACHT FALKEN UND KRÄHEN VOM HIMMEL HOLT. SIE NÄHERN SICH DIESEM HAUS AUF EIGENE GEFAHR. – DER HERR DER KRÄHEN. Anschließend verschwanden die Buchstaben wieder in der Wand. Was war ich für ein Narr! Ich wollte das Ding gerade berühren, da spürte ich, wie unsichtbare Hände mich packten und hochhoben. Sie wirbelten mich durch die Luft und warfen mich auf den Boden. Wieder und Wieder. Sieben Mal. Als sie mich endlich losließen, floh ich und drehte mich nicht ein einziges Mal um …“

„Und deine Waffe?“, fragte jemand. „Wie kam es, dass du sie nicht fallen gelassen hast?“

„Das war der Grund, warum ich nicht schlafen konnte, denn ehrlich, Haki ya Mungu, ich lag die ganze Nacht wach und wälzte die Angelegenheit wieder und wieder in meinem Kopf. Ich wurde sieben Mal hochgehoben und auf den Boden geworfen, aber wieso bekam ich dabei nicht einen einzigen Kratzer ab? Vielleicht tat mir der Hintern ein bisschen weh, aber sonst? Und wie blieb meine Waffe in meiner Hand? Ja, sagte ich mir, Constable Arigaigai Gathere, was glaubst du, warum der Mann dich ausgesucht und gezwungen hat, ihm zu diesem Zauberort zu folgen? Was wollte er dir damit sagen? Mich quälten schon lange einige Probleme, und in den Wochen vor dieser schicksalhaften Begegnung waren noch etliche dazugekommen. Da sah ich auf einmal das Licht. Ein Zeichen. Das Ganze war ein Zeichen, das mich zu dem führte, der meine Probleme lösen würde.

Deshalb bin ich früh am Morgen zum Zauberhaus zurückgegangen. Zum Glück waren das Bündel und die Schrift an der Wand noch da. Er machte mir auf. Und wisst ihr was? Hört genau zu. Der Mann erschien mir in Gestalt einer wunderschönen Frau. Zunächst stellte er oder sie mir Fragen in einer sanften Stimme, dann dröhnte auf einmal hinter seinem oder ihrem Rücken eine machtvolle Stimme:

‚Ich bin der Herr der Krähen: Wer steht da unter dem Schatten meines Zaubers? Wie kannst du es wagen, in meinen magischen Kreis einzudringen? Verschwinde und wasch dir erst einmal die Füße, bevor du …‘

Ich wartete nicht ab, was danach kam. Zum zweiten Mal rannte ich um mein Leben.“

Herr der Krähen
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