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Er war müde, hatte Hunger und Durst und die Sonne quälte ihn. Er wollte ganz hinaufklettern, als ihm plötzlich die Knie weich wurden und er am Fuß des Müllberges zusammenbrach. Er konnte nicht sagen, ob er vorübergehend ohnmächtig war oder tief schlief, doch als jetzt eine sanfte Brise aufkam, hob sie ihn aus seinem Körper und trug ihn in den Himmel, wo er nun schwebte. Noch immer konnte er unten am Fuß des Müllbergs seinen Körper liegen sehen, wo sich Kinder und Hunde um winzige Fleischreste an weißen Knochen zankten. Dein Körper braucht Erholung von dir, und du brauchst Erholung von deinem Körper, hörte er sich sagen. Er beschloss, seinen Körper unten in der Sonne liegen zu lassen, und wanderte schwerelos durch Aburĩria. Warum sollte man die Erforschung und die Freude an unserem Land nur den Touristen überlassen?, kicherte er in sich hinein – und verglich die Zustände in den verschiedenen Städten und Regionen des Landes.
Das ist wirklich lustig, sagte er zu sich, als er bemerkte, dass er wie ein Vogel aussah und auch wie ein Vogel durch die Luft schwebte. Das Brausen der kalten Luft an den Flügeln tat ihm gut. Ihm fiel ein christliches Lied ein, das er einmal gehört hatte:
Ich werde fliegen und diese Welt verlassen
Ich werde durch den Himmel schweben und Zeuge werden
Von Wundern die ich niemals vorher sah
Die unten mit der Erde geschehen.
Er begann zu singen. Doch weil er den Schnabel nicht so weit aufbekam wie seinen Mund, glich das, was herauskam, eher dem Pfeifen der Vögel, deren Lied er frühmorgens in der Wildnis gehört hatte.
Aus der luftigen Höhe seiner Vogelperspektive sah er die Regionen im Norden und in der Mitte Aburĩrias, im Süden, im Osten und im Westen. Die Landschaft unter ihm reichte von den Ebenen an der Küste bis zum Gebiet der Großen Seen und dem unfruchtbaren Busch im Osten, vom Hochland in der Mitte bis zu den Bergen im Norden. Die Menschen unterschieden sich ebenso in der Sprache wie in ihrer Kleidung und der Art, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienten. Einige waren Fischer, andere züchteten Rinder und Ziegen, und wieder andere bestellten die Äcker. Doch überall, besonders in den Städten, war das Leben kaum anders als in Eldares. Überall litten die Menschen Hunger, hatten Durst und liefen in Lumpen herum. In den meisten Städten hausten Familien mit ihren Kindern in Hütten aus Pappe, Schrottteilen, abgefahrenen Reifen und Plastik. Er fand es widersinnig, dass diese Elendshütten wie in Eldares gleich neben Herrenhäusern aus Ziegeln, Stein, Glas und Beton standen. In der Umgebung der kleinen und größeren Städte sah es ähnlich aus: Riesige Plantagen mit Kaffee, Tee, Kakao, Baumwolle, Sisal und Kautschuk grenzten an ausgelaugte Landstriche, die von armen Bauern bewirtschaftet wurden. Kühe mit prall gefüllten Eutern weideten auf üppigem Land, während andere ausgemergelt über dornige und steinige Böden zogen.
Ich bin also nicht allein, hörte er sich zu seinem Vogel-Ich sagen. Vielleicht sollte er seine menschliche Daseinsform aufgeben und ein Vogel bleiben, der mühelos durch den Äther segelt und in der frischen Luft des Himmels badet. Doch dann musste er niesen, weil ihm die Abgase der Fabriken in der Nase stachen. Gibt es denn weder im Himmel noch auf der Erde einen Ort, an dem ein Mensch von diesem Gift verschont bleibt? Ein wenig verwirrt überlegte er, vorerst zu seinem in der Sonne liegenden Körper zurückzukehren, um die Schrecken des Tages zu überdenken und sich zu erholen. Erst dann wollte er entscheiden, in welchem Körper er den Rest seines Lebens zubringen sollte. Was aber, wenn sein Körper inzwischen völlig von der Sonne ausgedörrt worden war? Bei diesem Gedanken nutzte er seine Flügel und eilte nach Eldares zurück.
Er kam keine Sekunde zu früh. Ein Abfallkipper war am Fuße des Müllberges vorgefahren. Er wollte wieder in seinen Körper schlüpfen, hielt sich aber zurück und schwebte noch etwas in der Luft, um zu sehen, was sie mit seiner Hülle anstellen würden.
Der Fahrer und zwei Männer stiegen aus dem Müllwagen und betrachteten einige Sekunden den Körper. Dann bückte sich einer, legte sein Ohr auf die Brust und erklärte ihn für tot, was eine Diskussion auslöste, wie sie mit dem Leichnam verfahren sollten. Die Polizei wollten sie nicht rufen – die Bullen würden einen Tag brauchen, bevor sie kämen, und schließlich hätten sie zu arbeiten. Außerdem wollten sie keinesfalls in endlose Gerichtsverfahren verwickelt werden. Es war auch möglich, dass sie des Mordes anklagt und ins Gefängnis gesteckt würden, man sie einen Kopf kürzer machte oder sie eine Menge Geld verlören, wenn sie sich freikauften. Den Leichnam liegen zu lassen, könnte jedoch dieselben Folgen haben.
Die Leiche steckte in einem abgetragenen Anzug. War da eventuell Geld in den Taschen? Bei diesem Gedanken verschwanden plötzlich alle Ängste, den Körper zu berühren, und die drei durchsuchten hektisch den Anzug, fanden aber nichts. Kein Geld. Es fiel ihnen auf, dass die Leiche seitlich auf einer Tasche lag und diese umklammerte. Sie musste etwas Wichtiges enthalten, wenn der Besitzer noch im Todeskampf so hartnäckig daran festhielt. Die drei sahen sich kurz an, lasen die Gedanken des jeweils anderen und wendeten den Leichnam kurzerhand, um die Tasche zu durchsuchen. Sie waren sich sicher, dass sie voller Geld war, wurden aber sehr wütend auf die Leiche, als sie feststellten, dass die Tasche nichts als Lumpen enthielt. Einer beschimpfte den leblosen Körper sogar, als wäre er lebendig. „Du elender Lügner. Ich bin sicher, dass diese Lumpen deine Kleidung sind und du den Anzug gestohlen hast. Schämst du dich nicht, anderen Leuten die Kleider zu stehlen? Und dann klaust du nicht einmal einen besseren Anzug. Den hätten wir wenigstens nehmen können.“
Als sie gerade gehen wollten, wurde ihnen plötzlich bewusst, dass sich überall auf der Leiche ihre Fingerabdrücke befanden. Sie konnten sie nicht dort liegen lassen und beschlossen, den Beweis ihrer Verstrickung zu vergraben. Tote reden nicht, schon gar nicht, wenn sie und ihre Taschen unter einem Müllhaufen begraben sind. Es starben so viele an Hunger oder Krankheiten, ganz zu schweigen von denen, die sich aus Verzweiflung das Leben nahmen. Für die Polizei gab es keinen Grund in dem ganzen Gestank nach einer weiteren Leiche zu suchen.
Vielleicht sollte ich sie meinen Körper ruhig begraben lassen, sagte er sich – oder vielmehr seinem Vogel-Ich: Wozu bin ich in Aburĩria schon nutze? Der Körper ist ein Gefängnis für die Seele. Warum sollte ich nicht die Ketten durchtrennen, die mich an ihn binden, und Körper und Seele voneinander Abschied nehmen lassen? Dann wäre meine Seele frei und könnte ungehindert Land und Himmel durchstreifen. Ja, sie könnte ziehen, wohin sie wollte, ohne diese endlosen, einschränkenden Bedürfnisse des Körpers: Ich habe Durst, ich möchte Wasser trinken; ich habe Hunger, ich möchte etwas essen; ich bin nackt, ich brauche Kleidung; ich stehe im Regen, ich brauche Obdach; ich bin krank, ich muss zum Arzt. Ich muss den Bus nehmen, habe aber kein Geld. Ich muss Schulgeld bezahlen, Steuern … Ist es nicht einfacher, das alles hinter sich zu lassen?
Als er aber sah, dass die Männer ihn – oder vielmehr seinen Körper – tatsächlich hochhoben und ihn zum Abfall auf die Ladefläche ihres Lastwagens warfen, der auf die Müllhalde zusteuerte, hörte er eine innere Stimme schreien, der Leib sei der Tempel Gottes und die Seele habe kein Recht, ihre Verbindung zu dieser Welt zu trennen, bevor sie nicht ihren Aufenthalt auf Erden beendet habe. Ich bin ein Mensch, ein menschliches Wesen, eine Seele und kein Stück Abfall, egal wie arm und zerlumpt ich aussehe, und ich verdiene Achtung, hörte er sich sagen, während er zu seinem Körper hinabglitt und ihn wieder in Besitz nahm.
Der Gestank, der ihm in die Nase stach, war so kräftig, dass er niesen musste, als er versuchte sich aufzusetzen. Er wischte sich die Müllreste aus dem Gesicht. Die beiden Männer, die gerade auf der Beifahrerseite des Lastwagens einsteigen wollten, hörten sein Niesen. Wie angewurzelt blieben sie stehen. Auch der Fahrer erstarrte, die Hände an der Tür, ein Bein auf dem Trittbrett, das andere noch auf dem Boden. „Was war das?,“ fragte er. Doch die zwei antworteten nicht. Nachdem sie nach hinten gegangen waren, um einen Blick auf den Körper zu werfen, der von den Toten auferstanden war, rannten sie davon. Auch der Fahrer floh, lief seinen Freunden hinterher und flehte sie inständig an, ihn nicht der Willkür des Teufels auszuliefern. Das Wort „Teufel“ ließ sie noch schneller laufen, alle drei schrien jetzt „Satan!“, so laut sie konnten. Erst als sie eine Gruppe junger Männer und Frauen mit Kreuzen und einem Spruchband sahen, auf dem SOLDATEN CHRISTI geschrieben stand, blieben sie stehen, fassten sich etwas und baten um Hilfe.