21
Sie erwachten, als die Sonne aufging. Sie froren. Wie Diamanten glitzerten Tautropfen auf ihren Kleidern, und keiner von beiden konnte sich erinnern, wie oder wann sie aufgewacht waren, um sich anzuziehen. Sie schüttelten den Tau ab.
„Zeig mir, wo ich mir das Gesicht waschen kann“, bat Nyawĩra.
Er führte sie an einen Bach. Dort bückten sie sich und wuschen sich. Das Wasser war kalt und klar, fast betäubte es. Dann kehrten sie in ihr Versteck zwischen den Felsen zurück.
Nyawĩra hatte gekochte Eier mitgebracht, Zucker, etwas Kakao, Streichhölzer, einen Wasserkessel, einen kleinen Kochtopf. Nachdem sie ein paar Früchte gesammelt hatten, die um sie herum noch im Überfluss wuchsen, bereiteten sie sich ein einfaches Mahl und unterhielten sich wie in alten Zeiten. Es war ein fröhliches Gespräch, das ihren Seelen gut tat und sie immer wieder zum Lachen brachte. Kamĩtĩ dankte Nyawĩra und einer reichen Natur für das Essen.
„Die Natur mag ergiebig sein“, entgegnete Nyawĩra, „aber trotzdem ist es gut, einen Speicher anzulegen für den Fall, dass sich die Natur einmal erkältet. Soviel ich weiß, gab es früher kein Haus, das diesen Namen verdiente, wenn es keinen Speicher hatte. Nun schau dir das heutige Aburĩria an. Wie viele Haushalte besitzen einen Speicher? Keiner, weil es nichts gibt, was sie speichern könnten. Komme ich vom Thema ab? Ich nehme an, es ist das Bild eines Eremiten, der sich mit Tieren um Honig und wilde Beeren schlägt, das mir zusetzt.“
„Musst du immer urteilen?“, fragte Kamĩtĩ. „Du hättest Jura studieren und Anwältin werden sollen.“
„Im Augenblick bin ich Anwältin. Anwältin des Volkes …“
„Und ich? Ein selbst ernannter Anwalt der Rechte von Tieren und Pflanzen etwa?“, meinte Kamĩtĩ lachend. „Aber du wirst mir zustimmen, dass mein Urteilen selbstloser ist, weil Tiere und Pflanzen keine Zunge haben, um für sich sprechen zu können.“
„Was willst du damit sagen?“
„Dass ich mit dir einen Rundgang machen will, damit du meine Freunde kennenlernst, alle Bewohner des Waldes.“
„Freunde unter den Bäumen und Tieren?“
„Genau, und bei den Vögeln und den Pflanzen und den Bergen und den Tälern.“
„Dann freue ich mich auf die Tour. Aber sprich nicht für die Bewohner – sie sollen für sich selber lügen“, sagte Nyawĩra.
„Dann machen wir mal einen Plan für den ersten Tag. Was möchtest du sehen?“
„Ich werde gehen, wohin du mich führst, und sagen, es ist gut“, antwortete sie.
Über Tajirika verloren sie den ganzen Tag kein Wort. Ebenso wenig über den Herrn der Krähen oder Kamĩtĩs plötzliches Verschwinden aus Santalucia und sein Abtauchen in der Wildnis. Es war, als hätten sie ein Abkommen geschlossen, die Ereignisse in Eldares nicht in ihre Vereinigung und die mit der Natur eindringen zu lassen. Hier in der freien Natur fühlten sie sich gut und mit sich im Reinen.
Sie waren über vieles einer Meinung. Oft unterbrachen sie ihr Gespräch mit Liedern und Geschichten und vergnügtem Geplänkel. So zum Beispiel, als ihnen nacheinander eine Zebraratte und eine Feldmaus über den Weg liefen. Sie blieben stehen und stimmten ein Lied über diese Tiere an:
Zebraratte
und Feldmaus
zogen einst
zum Speicher
eines Verwandten
um zu essen
Heraus kamen
neun Ziegen
sehr jung
und waren bald zehn
Das war ein Lied, mit dem Kinder bis zehn zählen lernten, wobei die Logik sich stärker aus dem Rhythmus als dem eigentlichen Sinn der Wörter ergab. Wieder lachten sie, und als sie einander in die Augen sahen, fehlten ihnen plötzlich die Worte. Schweigend gingen sie weiter, erfüllt von dem Licht, das sie in den Augen des anderen sahen.
Überall war Liebe: in den Ästen der Bäume, in denen die Nester der Webervögel hingen; im Farn, in dem der Witwenvogel zwei lange Schwanzfedern gelassen hatte; im Murmeln des Eldares River, der ostwärts floss, bevor er sich in einen donnernden Wasserfall verwandelte; in den Sonnenstrahlen, die durch den Wasserfall glitzerten und sich in die Farben des Regenbogens auflösten; im stillen Wasser eines kleinen Sees, der durch den Fluss gebildet wurde, in dem Kamĩtĩ und Nyawĩra nun badeten und schwammen und einander jagten und sich gegenseitig bespritzten; im Zweizahn, in der Fingerhirse und anderen Pflanzen; in den Blumen, deren Blütenstaub sich an ihren Kleidern festsetzte; in den Bewegungen der Stachelschweine und den Flügeln der Perlhühner; in den Feldhühnern, die sich eilends davonstahlen, nachdem sie einen Blick auf das Paar geworfen hatten; in den Bienen und Schmetterlingen, die von Blume zu Blume tingelten; im Gurren der Tauben; in den Balzrufen der Frösche im Fluss, die zwischen Schilf und Wasserlilien saßen. Liebe war in den Kletterpflanzen, die sich um die Baumstämme wanden; ja, auch in den Brombeeren, von denen sie pflückten, um sie sich gegenseitig in den Mund zu schieben. Liebe war im sanften Wind, der leise die Blätter rauschen ließ. Liebe war überall in diesem Wald, doch weder Nyawĩra noch Kamĩtĩ sprachen dieses Wort aus.
Später, als sie am Boden saßen, gegen den Stamm einer Sykomore gelehnt, nippten sie vom Kakao, meist schweigend, weil sie beide in Gedanken versunken waren, und es waren bei beiden dieselben Gedanken. Und dann redeten sie wieder unbeschwert miteinander. Die Liebe war ihnen hierher gefolgt, und jetzt beleuchtete der Mond die Blätter und warf ihre Schatten auf den Boden und über ihre Körper. Dennoch konnten sie sich die Liebe immer noch nicht eingestehen, auch im Geheimen nicht sich selbst.
Aber sie fühlten sich von einem Frieden umfangen, der jegliches Verstehen überstieg; von einem Frieden, der von diesem Wald ausging, obwohl die Zikaden zirpten und in der Ferne die Hyänen heulten; und als sich Nyawĩra und Kamĩtĩ ansahen, zogen ihre Blicke sie zueinander hin, und Kamĩtĩs Finger wanderten zu Nyawĩras Brustwarzen, die die Farbe von Brombeeren hatten.
Sie glitten in ein wortloses Wunder, und selbst, als sie am Morgen erwachten, lagen sie sich noch fest in den Armen, als wollten sie nie wieder voneinander lassen.