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Der Herrscher war sowohl überrascht als auch befriedigt darüber, wie glatt alles gegangen war, und fragte sich, warum er jemals eine solche Angst vor dem Wort „Mehrparteiendemokratie“ gehabt hatte. Das muss der schlechte Einfluss Machokalis und Sikiokuus gewesen sein, meinte er, denn erst als er die beiden losgeworden war, hatten sich seine Beziehungen zur Welt, zu Aburĩria und zu sich selbst verbessert. Doch die „Politische Theorie“ des Herrschers, die eigentlich der tote Machokali geschrieben hatte, die aber jetzt seinen Namen trug und mit einem Vorwort versehen war, in dem er erklärte, diese Theorie in der Zeit entwickelt zu haben, in der er die Öffentlichkeit mied, hatte ihm diese Vision verschafft. Dieser Theorie nach war in jedem beliebigen Land nicht die Zahl der politischen Parteien wichtig, sondern nur der Charakter desjenigen, der Kopf, Herz, Arme und Beine des Staates personifizierte. Um sicherzustellen, dass das Land stabil und seine Macht gefestigt war, gab es für einen Herrscher keine moralischen Grenzen bei der Auswahl der Mittel zwischen Lügen und Leben, Bestechung und Prügeln. Wenn es ihm aber gelang, den Staat stabil zu halten, indem er die Wahrheit opferte statt Leben, das Recht beugte, statt es zu brechen, den Vorlauten mit endlosen Tricks den Mund stopfte, statt sie mit Stacheldraht und heißem Wachs zu foltern, wenn es ihm gelang, den Frieden durch eine groß angelegte Betrügerei zu erkaufen, statt Panzer in den Straßen auffahren zu lassen – was seinen Feinden oftmals Propagandamaterial an die Hand gab –, dann errang er den süßesten aller Siege. Die Theorie verlangte von einem Herrscher auch, das Unerwartete zu tun, ob dies nun gut oder schlecht war, um Freund und Feind zu überraschen. Der dritte Lehrsatz war der, den er das Prinzip des Gebens, ohne zu geben, nannte. Nimm dir zehn, weigere dich standhaft, diese zehn zurückzugeben, gib dann unter Druck nach und eins zurück, und das Ergebnis wird Applaus von allen Seiten sein, der Sieg über den Feind und Glückwünsche des Freundes. Bis hierher hatte er alle Lehrsätze der Theorie streng befolgt. Mit erstaunlichen Ergebnissen.
Am angenehmsten war die freundliche Aufnahme seiner Ausführungen im Westen, auch in jenen Staaten, die ihm vorher Staatsbesuche verweigert hatten. Man gratulierte ihm zu seinen mutigen Schritten, wobei einige Kommentatoren so weit gingen, ihn einen demokratischen Visionär zu nennen, dessen Balance zwischen Pragmatismus und Ideologie seine Feinde aus der Bahn geworfen habe.
Lediglich Botschafter Gabriel Gemstone schien sich in dem Bericht an seine Regierung ein wenig frostig geäußert zu haben. Der aburĩrische Herrscher habe einen Schritt in die richtige Richtung gemacht, sagte er, aber mehr auch nicht: einen Schritt. Obwohl es ein Schritt nach vorn sei, berge dieser, wenn man ihn mit afrikanischen Augen betrachte, ernsthafte Risiken, und er könne dem Westen nicht mit gutem Gewissen raten, die Reformen zu begrüßen, solange der Herrscher nicht geklärt habe, was es damit auf sich habe, dass er der Vorsitzende aller politischen Parteien sei.
Der Herrscher unterschätzte Gemstone nun nicht mehr und reagierte sofort, ohne sich natürlich direkt auf den Botschafter zu beziehen. In einer offiziellen Klarstellung seiner Bemerkungen bei der Vorstellung von Baby D sagte er, dass er sich in den Alltag der Parteien nicht einmischen werde; das werde er den gewählten Generalsekretären überlassen. Er werde nur den Vorsitz der Partei ausüben, die die allgemeinen Wahlen gewinne. Der De-facto-Vorsitzende der siegreichen Partei werde automatisch Vizepräsident, womit auch das Nachfolgeproblem im Falle des Unerwarteten geklärt sei. Mit diesen Klarstellungen erhielten die Reformen des Herrschers nun Gabriel Gemstones vorsichtige Zustimmung, was viele Türen öffnete.
Das Global Ministry of Finance und die Global Bank gaben gemeinsam eine Erklärung heraus, in der sie dem Herrscher gratulierten, dass er von nutzlosen Vorhaben wie Marching to Heaven abließ – in Wahrheit benutzten sie die Wendung „über Bord werfen“ –, er alle Bedingungen, an die sie ihre Kredite knüpfen würden, im Voraus akzeptiere und dass er Technokraten, Kriegshelden und ausgewiesene Geschäftsleute ins Kabinett aufgenommen habe. Am Maßgeblichsten aber war die Bereitschaft, mit der neuen Regierung Verhandlungen über die Freigabe eingefrorener Kredite und Hilfsleistungen aufzunehmen. Kaniũrũ und Tajirika wurden nach Washington eingeladen, um dort über die Erfordernisse von Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik eines demokratischen Aburĩria zu berichten.
Alles lief so glatt, wie es sich der Herrscher nur wünschen konnte. Und obwohl er dies in erster Linie seinen Entscheidungen und Theorien verdankte, wusste er auch Kaniũrũs Beitrag zu schätzen.