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Sikiokuu hängte ein, weil er kurz vor einem hysterischen Anfall stand und sich beherrschen musste, am Telefon nicht laut loszulachen. Er musste einräumen, dass der Herr der Krähen über außergewöhnliche Kräfte verfügte. Die Behauptung jedoch, der Zauberer hätte lebendige Schatten erschaffen, die Leute entführten, sie vor Gericht stellten, verdroschen, verprügelten und grün und blau schlugen, war schwer zu schlucken. Hatte der Zauberer seine Schatten etwa in Amerika in die Welt gesetzt und sie dann quer über den Atlantik nach Aburĩria geschickt? Wie hätte es ihm möglich sein sollen, sich beim Herrscher in New York aufzuhalten und gleichzeitig bei Vinjinia in Eldares? Und wenn man bedachte, wie Kaniũrũ darauf hereingefallen war? Er hörte auf zu lachen, als ihm plötzlich durch den Kopf schoss, dass der Herr der Krähen ja vielleicht gar nicht ins Flugzeug nach Amerika gestiegen war. Aber er verwarf diesen Gedanken so schnell wieder, wie er ihm gekommen war. Schließlich hatten Kahiga und Njoya ihn zum Flughafen gebracht, in das Flugzeug gesetzt und gewartet, bis es abgehoben hatte.
Dann fiel ihm ein, nie eine Bestätigung erhalten zu haben, dass der Hexer tatsächlich in Amerika angekommen war. Sikiokuu beschloss, in Amerika anzurufen, um alle Zweifel zu zerstreuen, die Vinjinias Behauptungen aufgeworfen hatten.
Außerdem hoffte Sikiokuu, mehr über den Zustand des Herrschers in Erfahrung zu bringen. Wer konnte vorhersagen, was in Aburĩria geschehen würde, wenn sich die Krankheit verschlimmerte? Würde das einen Staatsstreich auslösen? Es behagte ihm nicht, an Krankheit, Tod und Nachfolge zu denken. Es war Hochverrat, solche Gedanken zu hegen, und das erneuerte die Furcht, der Herr der Krähen könnte Sikiokuus heimlichen Wunsch nach einem Leben an der Spitze des Staates erkannt haben. Würde der Zauberer dem Herrscher etwas über Sikiokuus verräterisches Begehren ins Ohr flüstern? Ein Erfolg bei der Behandlung des Herrschers könnte erreicht worden sein, weil der Zauberer zu einer Art Leibarzt des Herrschers ernannt worden war. Der Hexenmeister war eine Gefahr. Besser also, man war auf dem Laufenden.
Er rief in New York an, und obwohl allein der Klang der Stimme seines Erzrivalen Hass aufsteigen ließ, konnte Sikiokuu nicht umhin, nach Machokali zu fragen, weil dieser die E-Mail geschickt hatte, in welcher der Herrscher nach dem Herrn der Krähen verlangte.
Er konnte nicht glauben, was er zu hören bekam. Trieb Machokali ein Spielchen mit ihm? Log er ihn vielleicht sogar an? Nein, das konnte nicht sein. Machokali sprach mit einer Mischung aus Trauer, Zorn und sogar Mattigkeit. Vielleicht aber tat er nur so. Er bestätigte, dass der Herr der Krähen tatsächlich in Amerika angekommen und ein Mal von Seiner Allmächtigen Vortrefflichkeit empfangen worden sei. Doch dann sei er verschwunden. Er sei nirgends zu finden, obwohl niemand gesehen habe, dass er abgereist sei. Man habe seine Abwesenheit erst gestern entdeckt, und niemand könne mit Bestimmtheit sagen, wann genau er entschwunden sei oder ob er sich noch in Amerika aufhalte.
Die Nachricht vom mysteriösen Verschwinden des Zauberers traf Sikiokuu wie ein Schlag. War der Herr der Krähen wieder im Land? Vielleicht schon eine ganze Weile? Sprach Vinjinia also die Wahrheit, als sie sagte, sie sei ihm begegnet und habe persönlich mit ihm gesprochen? Was waren die Konsequenzen seiner Fähigkeit, lebendige Schatten erschaffen zu können? Was, wenn er eine Schattenarmee ins Leben rief und die Herrschaft an sich riss, jetzt wo er das gesamte Ausmaß der Krankheit des Herrschers kannte? Oh, er hatte vergessen, sich nach der Krankheit des Herrschers zu erkundigen! Spielte der unsichtbare Zauberer seinen Gedanken einen Streich?
Er war schockiert, ja, aber er erkannte schnell, dass er etwas dagegen unternehmen musste. Er erinnerte sich, bevor der Herr der Krähen nach Amerika abgereist war, die Idee ausgebrütet zu haben, ihn zu eliminieren. Die plötzliche und unerwartete Vorladung durch den Herrscher hatte die Ausführung des Plans verhindert. Jetzt aber, nach all der Verwirrung über den Aufenthaltsort des Zauberers …
Und mit einem Mal fühlte sich Sikiokuu in Hochstimmung. Gott liebt mich, so viel ist sicher, murmelte er vor sich hin. Es ist der Zeitpunkt gekommen, den Herrn der Krähen in die Hölle zu schicken, zusammen mit all seinen Zauberutensilien, einschließlich der Spiegel, die Beweise von Sikiokuus Ambitionen eingefangen haben könnten. Wenn er jetzt handelte, würde niemand genau erfahren, wann, wo und wie den Herrn der Krähen das Schicksal ereilt hatte, denn außer Vinjinia gab es keine glaubwürdige Person, die wusste, dass der Herr der Krähen offenbar in seinen Schrein zurückgekehrt war.
Oder sollte er besser eine Allianz mit dem Zauberer schmieden? Eine Schattenarmee, die Sikiokuu treu ergeben war? Aber das hieße, einem Hexenmeister, dem man nicht trauen konnte, zu viel Macht zu übertragen. Nein, Sikiokuu würde ihn heimlich verhaften und in sein Büro bringen lassen, wo er ihn mit List und Drohungen dazu zwingen würde, Nyawĩra herbeizuschaffen. Dann würde er ihn den hungrigen Krokodilen im Red River zum Fraß vorwerfen. Statt seine treuen Leutnants Kahiga und Njoya die Schmutzarbeit erledigen zu lassen, die beide Angst vor dem Herrn der Krähen hatten, würde Sikiokuu dieses Mal Freiwillige rekrutieren. Kaniũrũs Jugendbrigaden kamen ihm da gerade recht.
Er griff wieder zum Hörer, rief Kaniũrũ an und ließ es so aussehen, als nähme er ein zuvor unterbrochenes Gespräch wieder auf.
„Wir wurden unterbrochen, bevor ich alles gesagt hatte“, begann Sikiokuu. „Du weißt ja, wie das mit unseren Telefonleitungen ist. Ich hoffe auf den Tag, an dem unsere Telefone so reibungslos und effizient arbeiten wie in Japan oder Amerika. Was hatte ich noch gesagt, bevor die Verbindung abgeschnitten wurde? Dass der Herr der Krähen nicht im Lande war oder ist. Ich habe aber noch einmal intensiv darüber nachgedacht, was du gesagt hast, und ich denke Folgendes: Nehmen wir um der Sache willen einmal an, Vinjinia sagt die Wahrheit und hat den Herrn der Krähen tatsächlich gesehen und mit ihm gesprochen. Dann ruf eine Truppe aus treuen und vertrauenswürdigen jungen Leuten zusammen. Holt mir diesen Herrn der Krähen. Bringt ihn mir lebend. Alle anderen im Schrein, Angestellte oder Klienten, bringt ihr zum Red River. Die Krokodile sind krank vor Hunger.“
Kaniũrũ gefiel der Gedanke überhaupt nicht, als Anführer einer Truppe von Rowdies den Schrein zu überfallen. Deshalb hatte er um eine Polizeieinheit gebeten, der er Befehle erteilen konnte, während er selbst im Hintergrund blieb, oder, was noch besser war, die es ihm erlaubte, sich ganz vom Ort des Geschehens fernzuhalten und so dem Bannfluch des Hexenmeisters zu entgehen.
„Warum kann nicht … die Polizei … Warum geben Sie mir nicht eine Polizeieinheit mit Jagdgewehren – Sie wissen schon, solche, die sogar einen Elefanten in Fetzen reißen können?“
„Begreifst du das nicht? Wir wollen nicht der ganzen Welt verkünden, was wir tun; die Regierung hat damit nicht das Geringste zu tun. Das ist alles inoffiziell. Also, ruf deine Jugendtruppe zusammen. Ich bin sicher, einige von ihnen sind auch bewaffnet. Aber dass dir eins klar ist: Ich will den Herrn der Krähen lebend!“
Sikiokuu erwartete sich eine Menge von dieser letzten Begegnung mit dem Herrn der Krähen: den Ort von Nyawĩras Versteck, einen vollständigen Bericht über die Krankheit des Herrschers und möglicherweise ein Bündnis. Andererseits lagen ein paar Fragen in der Luft: Wann und wie war der Herr der Krähen aus Amerika entkommen? Und warum? Oder war er in New York getötet worden und jetzt Gegenstand einer Vertuschung?