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Im Mars Café saßen sie einander in kaum verhohlener Feindseligkeit gegenüber. Kaniũrũ bestellte Kaffee, Nyawĩra ein Sandwich mit Hühnchen und Gemüse, das sie mit gutem Appetit aß, als wäre es das vorzüglichste Essen ihres Lebens.

Von ihren Plätzen konnten sie einen Teil der endlosen Warteschlange sehen.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Kaniũrũ.

„Ist es das, was dich heute in diesen Teil der Stadt geführt hat?“

„Nein, du bist der Grund!“

„Hör auf, mir nachzustellen!“

„Das bin nicht ich, das macht mein Herz!“

„Ich wusste gar nicht, dass du eins hast.“

„Lass den Sarkasmus. Ich wollte dir nur sagen, dass ich seit unserem letzten Treffen ein paar Rechenübungen gemacht habe. Einige Ergebnisse könnten dich interessieren.“

„Du beschäftigst dich jetzt mit Mathematik? Was ist aus Palette und Pinsel geworden?“

„Soll ich dir was sagen? Ich stimme jetzt ganz und gar mit deinem Vater überein. Wenn ich in seiner Lage wäre, würde ich meine Tochter auch keinen Künstler heiraten lassen. Kunst ist etwas für Frauen und Kinder. Kunst ist unmännlich. Deshalb hast du mich auch abgelegt, stimmt’s?“

„Dich abgelegt? Auf welchen Stapel denn?“

„Lass uns ernst bleiben. Es geht um den Mann, über den wir neulich gesprochen haben … Auf dem Nachhauseweg habe ich gründlich über ihn nachgedacht. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Mann im Anzug, der auf die öffentliche Toilette gegangen ist, derselbe war, der sie in Lumpen wieder verließ. Nyawĩra, ich muss dir eins sagen: Der gehörte zu den Bettlern vor dem Paradise, und wir wissen inzwischen, dass die treibende Kraft hinter der Bettlerversammlung die sogenannte Bewegung für die Stimme des Volkes war. Er muss zu ihnen gehören, genau wie die Leute in der Schlange vor deinem Büro. Woher ich das weiß? Die Schlange beginnt genau an der Stelle, an der ich den Mann stehen sah. Das könnte heißen, dass er in Wahrheit die Gegend ausgekundschaftet hat, während er sich mit dir unterhielt. Diese Leute wollen allesamt den guten Ruf des Herrschers beflecken, indem sie die Härte der Arbeitslosigkeit und die Not der Arbeitslosen dramatisieren. Dieser Mann, dein Freund, ist eine Bedrohung für die Stabilität und Sicherheit dieses Landes.“

„Du hast sie doch nicht mehr alle. Bist du in die Kunst des Märchenerfindens eingestiegen? Gestern war er ein Dschinn, heute ist er ein Provokateur, der Aktionen gegen die Regierung anstiftet!“

„Es gibt keinen Grund, warum er nicht beides sein sollte. Wart nur ab. Die Regierung hat einen Experten für Dschinns und ihre Bekämpfung eingesetzt. Ich glaube, dass diese Dschinns ein einziger Schwindel sind, ganz gewöhnliche Sterbliche, die so tun, als ob. Und der Polizist – wie heißt er doch gleich? Gathere, Ariga oder so ähnlich – ist nichts anderes als ein Geschichtenerzähler.“

„Und das bist du natürlich nicht.“

„Egal, ob Mensch oder Dschinn, der Mann gehört zur Bewegung für die Stimme des Volkes. Du warst mit ihm zusammen. Und daraus folgt, dass du auch dazugehören könntest. Quod erat demonstrandum.“

Der weiß nichts, sagte sich Nyawĩra. Trotzdem fand sie seine Logik nicht gerade lustig, so verschroben sie auch war. Sie versuchte, ihn abzulenken und zu verwirren.

„Grace unterhält sich also mit John. John gehört zur Jugendbrigade. Daraus folgt, dass auch Grace zur Jugendbrigade gehört. Quod erat demonstrandum. Deine Logik ist umwerfend, eines Aristoteles würdig.“

„Nicht nur die Weißen kennen sich mit Logik aus. Auch wir haben unsere Logik, schwarze Logik, die sich in den Sprichwörtern findet. Du kennst doch die Redewendung, dass sich ansteckt, wer sich mit Leprakranken abgibt?“

„Gut gekontert“, erwiderte Nyawĩra lachend. „Prediger, mit wem gibst du dich ab? Mit Gaunern und Halunken. Demzufolge …“

„Hör auf mich. Ich bin der Einzige, der dich noch retten kann. Du hast ja sicher gehört oder gelesen, dass der Herrscher die Bewegung für die Stimme des Volkes verboten hat!“

„Ein altes Lied. Warum kommst du nicht mal mit einem neuen Liedchen, nachdem du der Stimme Deines Herrn gelauscht hast? Seit wann bist du der Jugendsprecher Seiner Allmächtigkeit? Ich habe dich noch nicht in einem Mercedes herumfahren sehen. So ein Auto ist schließlich der Gütestempel, dass man es geschafft hat.“

„Das ist nur eine Frage der Zeit. Nyawĩra, du scheinst nicht zu begreifen, was ich dir sagen will. Ich sag es noch mal deutlicher. Weißt du, was die Dissidenten als Letztes getan haben? Sie haben im ganzen Land Plastikschlangen und Flugblätter verteilt. Der Herrscher hat Sikiokuu mit besonderen Machtbefugnissen ausgestattet, diese Bewegung zu zermalmen: die gesamte Führungsmannschaft, die Mitglieder, die Anhänger und die Mitläufer. Der Minister beabsichtigt, den kompletten geheimen Sicherheitsapparat einzusetzen. Uns, die Jugendbrigade der Herrscherpartei, eingeschlossen. Verstehst du, worauf ich hinauswill? Ich gebe dir einen letzten freundschaftlichen Rat. Komm zu mir zurück, oder …“

„Das hört sich eher nach einer Drohung an als nach einem freundschaftlichen Rat. Aber egal, du verschwendest deine Zeit“, sagte Nyawĩra und stand auf, um zu gehen.

„Nyawĩra, bitte. Hör auf die Logik deines Herzens. Seit wir beide uns getrennt haben, hast du dich mit keinem anderen eingelassen. Ich auch nicht. Was sagt dir das?“

„Genau das, was du gerade gesagt hast, und nichts weiter“, antwortete Nyawĩra und ging kichernd davon.

„Verfluchtes Weib! Eines Tages wirst du auf Händen und Knien zu mir zurückkriechen!“, murmelte Kaniũrũ frustriert.

Herr der Krähen
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