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Das, so erzählt man sich, war die Szenerie, der sich drei Abgesandten der Global Bank gegenübersahen – ein Weißer, ein Brauner, ein Schwarzer –, als sie am siebten Tag mittags um ein Uhr das Zimmer betraten. Sie ließen sich ihre Überraschung nicht anmerken, nicht einmal, als sie die Scheußlichkeit registrierten, zu der der Herrscher, auf dem Teppich sitzend und an die Wand gelehnt, verkommen war, nicht, als sie die Minister in unterschiedlichen Gebetshaltungen vorfanden und, nein, auch nicht, als sie die Männer ansahen und die Qualen auf ihren ausgezehrten Gesichtern bemerkten, denn die Besucher glaubten, dies sei ein religiöses Eingeborenenritual.

Sie waren Abgesandte der Bank, geschult, dass Geld weder Religion noch Rasse, Hautfarbe oder Geschlecht kannte; dass Geld die Wurzel allen Geldes war, die einzig beständige Gesetzmäßigkeit der neuen Weltordnung. Außerdem hatte man sie Sensibilität gegenüber den unterschiedlichen Kulturen gelehrt, und deshalb fürchteten sie, es könnte stören und verletzen, wenn sie in ein lebendiges religiöses Ritual hineinplatzten. Einer der Banker hielt Ausschau nach jemandem, bei dem er sich entschuldigen konnte.

Zum Glück für die Besucher hatten sie das Zimmer genau in dem Augenblick betreten, als der Herrscher eine Pause einlegte, als ob die Worte, die wochenlang in ihm gesteckt hatten, nun aufgebraucht waren und er auf eine frische Zufuhr wartete. Er sah sie, und ohne irgendeinen Versuch zu unternehmen aufzustehen, rief er: „Willkommen, willkommen!“ Als sie das Wort „willkommen“ hörten, zwangen sich die Minister aus ihren unterschiedlichen Stellungen hoch, um Stühle für die Besucher und sich selbst zu holen, den Bankgesandten innerlich dankbar dafür, dass sie den sieben Tagen der Erschöpfung, des Dursts, des Hungers und der Schlaflosigkeit ein Ende bereiteten.

Der Herrscher verschwendete keine Zeit. Er bat seinen Finanzminister und den Schatzmeister, ihre Überlegungen zur Rolle von Marching to Heaven in der Wirtschaft Aburĩrias, Afrikas und der Welt insgesamt zusammenzufassen und alle Fragen zu beantworten, die im abschlägigen Bescheid der Global Bank vorgebracht worden waren. Doch bevor sich der Finanzminister räuspern und seine Zusammenfassung geben konnte, hatte der Herrscher bereits übernommen und ritt auf einer neuen Flutwelle von Wörtern.

Die Bankgesandten wurden unruhig und schauten immer wieder auf die Uhren, doch da sie sich schuldig fühlten, ein religiöses Ritual gestört zu haben, warteten sie aus Höflichkeit auf einen passenden Moment, um ein Wort einzuwerfen. Nach einer Stunde blickten sie hilfesuchend zu den Ministern, wer von ihnen den Herrscher wohl bitten könnte, ihr Anliegen vorzubringen. Aber kein Minister schien bereit, die Verantwortung übernehmen zu wollen.

Deshalb entschloss sich der ranghöchste Bankvertreter, nun doch zum Geschäftlichen überzugehen. „Entschuldigen Sie, Sir“, sagte er, aber es nutzte nichts. Er unternahm einige weitere Versuche, bemühte sich angestrengt um normale Lautstärke und einen höflichen Ton, sah sich aber schließlich gezwungen, beträchtlich lauter zu werden: „Mr. Präsident, Sir! Mr. Präsident, wir haben eine dringende Nachricht für Sie und sind wegen anderer Verpflichtungen in Zeitnot.“

Der Ausdruck „dringende Nachricht“ wirkte, und der Herrscher schaltete ab. Er entdeckte die Aktentaschen in den Händen der drei Abgesandten. Diese mussten den Vertrag zwischen der Global Bank und Aburĩria enthalten. Auch die Minister erweckte der Anblick der Aktentaschen zu neuem Leben. Hoffnung kam auf. Die überzeugenden Argumente des Herrschers mussten die Offiziellen in Bewegung gebracht haben. Deshalb klatschten sie alle wie in Zeitlupe, und es war nicht festzustellen, ob aus Erleichterung über den gestoppten Redefluss oder in Erwartung der guten Nachricht aus den Aktentaschen.

„Man hat uns zu Ihnen geschickt, weil Sie uns zu verstehen gegeben haben, dass es neue Informationen gibt, die Sie die Bank bitten wollen, in Betracht zu ziehen. Bevor wir jedoch dazu kommen, haben wir hier zwei Berichte über den gegenwärtigen Zustand Ihres Landes, und die Bank hat dazu einige Fragen.

Die erste betrifft die Frauen bei Ihnen. Wir haben erfahren, dass die aburĩrischen Frauen begonnen haben, ihre Männer zu prügeln. Unserer Meinung nach nimmt das die Befreiung der Frau etwas zu wörtlich und geht zu weit. Weibliche Gewalt als Mittel gegen männliche Gewalt ist nicht die Lösung für häusliche Gewalt und stellt eine ernste Bedrohung aller Familienwerte dar, die so, wie wir sie heute kennen, die Grundlage eines stabilen sozialen Umfelds bilden.

Die zweite Frage betrifft die Sache mit den Warteschlangen. Ich glaube, Sie hatten uns mitgeteilt, dem massenhaften Schlangestehen Einhalt geboten zu haben. Wir bekommen jedoch zu hören, dass Motorradfahrer unterwegs sind, die überall verkünden, Sie wünschten, dass die Warteschlangen wieder auferstehen, und dieser Aufruf in einigen Regionen sehr ernst genommen wird. Was, Mr. Präsident, haben Sie zu diesen zwei Punkten zu sagen?“

„Worüber reden Sie?“, fragte der Herrscher verwirrt, denn er hatte die Motorradfahrer völlig vergessen. Außerdem war er leicht verärgert, weil sie besser über sein Land Bescheid zu wissen schienen als er. „Ich bin sicher, dass der Warteschlangenunsinn das Werk einer terroristischen Dissidentenbewegung ist. Was ich aber überhaupt nicht verstehe, ist Ihre Behauptung, Männer, richtige Männer, ließen es zu, von Frauen verprügelt zu werden. Wollen diese Frauen Ehemänner werden und Männer in Ehefrauen verwandeln?“, fragte er und versuchte, die Sache leicht zu nehmen.

„Genau das ist der Punkt, Mr. Präsident. In Ihrem Land geht alles drunter und drüber. Ihre Frauen stellen sich gegen die natürliche Ordnung der Dinge und haben sogar ein so genanntes Volksgericht begründet, und gleichzeitig gefährden die Warteschlangen die gesellschaftliche Ordnung. Wir müssen Ihnen nicht das Offensichtliche vor Augen führen: Wenn die Massen das Gesetz in die eigenen Hände nehmen, bleibt in Ihren Händen nur Chaos zurück. Radikale Demokratie. Direkte Demokratie. Die alten Griechen haben das, glaube ich, im Stadtstaat von Athen versucht, und was ist passiert? Es war das Ende der griechischen Zivilisation. Mr. Präsident, kehren Sie nach Aburĩria zurück. Bringen Sie Ihr Haus in Ordnung. Dann können Sie uns ein Memorandum schicken und alles Neue anführen, was wir in Betracht ziehen sollen. Die Bank wird das sorgfältig prüfen … und jetzt entschuldigen Sie uns bitte. Wir haben noch einen weiteren Termin“, sagte der Bankvertreter, warf einen Blick auf die Uhr und verließ, gefolgt von den beiden anderen, die ebenfalls nach ihren Aktentaschen griffen, den Raum und murmelte vor sich hin: „Oh, verdammt, wir sind spät dran!“

Der Herrscher war entgeistert, dass die Bankvertreter einfach so hinausgingen, ohne sich seine Wirtschaftstheorie und Philosophie und vor allem seine architektonische Vision von Marching to Heaven angehört zu haben. Der Mund stand ihm offen. Der Hals wurde kraftlos und er lehnte seinen Kopf seitlich gegen die Wand. Er stieß einen stummen Schrei aus.

„Oh, nein, nicht schon wieder“, flüsterte Machokali schwer atmend. Noch ein Déjà vu. Der Herr der Krähen fiel ihm ein. Besorgt suchte er das Zimmer nach ihm ab, konnte ihn aber unter den Anwesenden nicht ausmachen. Er ging zur Tür, wo A.G. stand.

„Die Wortkrankheit hat ein zweites Mal zugeschlagen“, flüsterte er. „Wo ist der Herr der Krähen?“

Herr der Krähen
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