53
Kenny packte ein paar Hosen, T-Shirts, Unterwäsche, Bücher und seine Medikamente in eine Tasche. Dann ging er noch einmal um das Cottage herum. Die Luft war schwer von Paul Sugars Gegenwart und Jonathan Reeses Abwesenheit.
Er verschloss die Fenster und die Tür und steckte den Schlüssel unter den Steinblock neben der fahrbaren Mülltonne. Mary würde ihn dort finden.
Er warf den Rucksack und eine große Schachtel hinten in den Bulli, dann setzte er sich ans Steuer. Er griff in seine Tasche und holte die Liste heraus. Sie war zerknittert und schmuddelig, und er musste sie auf seinem Schoß glatt streichen.
Im Handschuhfach fand er einen Kugelschreiber und zog einen Strich durch Callie Bartons Namen. Nun sah die Liste so aus:
Mary
Mr Jeganathan
Thomas Kintry
Callie Barton
Jetzt merkte er, dass der einzige Name, der noch nicht durchgestrichen war, der einzig wirklich wichtige war.
Er knüllte die Liste zusammen und steckte sie wieder in die Tasche. Sie war bedeutungslos, nichts als ein Stück Papier – aber er wollte sie nicht auf denselben Boden werfen, den Paul Sugar betreten hatte, bevor er verschwunden war.
Er startete den Motor und fuhr los.
Desmond Cale hatte sich bereit erklärt, sich morgens um halb sieben mit ihm zum Kaffee zu treffen, also war es noch früh, als er bei Mary ankam.
Kenny wartete, bis sie die Vorhänge aufzog und den Bulli draußen parken sah.
Noch im Schlafanzug kam sie zur Tür.
Kenny stieg mit der zugeklebten Schachtel in den Armen aus dem Bulli. Er hinkte zur offenen Tür des pastellfarbenen Hauses auf dem steilen Hügel.
»Ist es zu früh?«
»Sei nicht albern«, sagte sie. »Komm rein.«
Die Kinder frühstückten gerade. Sie kreischten und schoben ihre Teller beiseite, als sie Kenny sahen. Kenny kniete sich hin und stellte die Schachtel ab, um sie zu umarmen und ihren feinen Duft einzuatmen.
Als Kenny sich erhob, stand Stever in einer gestreiften Pyjamahose und einem ausgewaschenen Futurama-T-Shirt vor ihm.
Kenny und Stever umarmten sich, klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Stevers Bart kitzelte Kenny im Gesicht, als er Kenny leise, aber ohne Scham ins Ohr flüsterte: »Wir lieben dich, Kumpel.«
Als Kenny Mary ansah, hatte sie Tränen in den Augen. Dann umarmte sie ihn.
Stever murmelte etwas über Zähneputzen und Anziehen und scheuchte die Kinder aus dem Zimmer.
»Du siehst so müde aus«, sagte Mary.
»Es ist alles in Ordnung. Mir geht’s gut.«
»Danke, dass du hergekommen bist.«
»Ich kann nicht lange bleiben.«
»Doch, das kannst du. Was ist das?« Sie tippte die Schachtel mit dem Zeh an.
»Gleich.« Er berührte ihr Gesicht, ihre Haut war glatt und frisch. »Ich wollte dir sagen, dass ich dir und Stever das Cottage vererbe«, sagte er.
Sie schüttelte einmal den Kopf. »Darüber will ich nicht sprechen.«
»Du musst mir zuhören, okay? Es ist kein Feriencottage. Es ist in einem chaotischen Zustand. Sobald es dir gehört, möchte ich, dass du einen kleinen Kredit dafür aufnimmst. Nicht viel. Nur für kurze Zeit.«
»Hör auf, so was zu sagen. Ich will das nicht hören.«
»Mit dem Geld, das du dir von der Bank leihst, renovierst du das Haus. Lass die Autos aus dem Garten wegschaffen und die Wellblechhäuschen abreißen. Das wird ein paar Tausender kosten. Lass im Garten neuen Rasen pflanzen. Schneide die Hecken unten am Bach und errichte einen neuen Zaun. Drinnen ist baulich alles in Ordnung. Man muss die Fußböden abschleifen, die Wände streichen, das Bad ein bisschen erneuern, in der Küche was machen lassen. Und dann verkaufst du es, okay?«
»Ich will darüber wirklich nicht sprechen. Das ist nicht nötig. Noch nicht.«
»Doch, das ist es. Du musst mich verstehen. Es ist mir egal, ob du weniger dafür bekommst, als du vielleicht vor zwei Jahren gekriegt hättest. Ich will, dass es verkauft wird und weg ist. Es ist kein glücklicher Ort. Es ist kein guter Ort.«
»Kenny …« Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf die Lippen. »Pssst. Bitte. Pssst.«
Er machte sich los. Sie sahen einander an. Er gab ihr die Schachtel.
Sie war leicht.
Sie schniefte und zog das Klebeband ab. In der Schachtel waren die Porträts, die Aled von Kenny als Kind gemalt hatte.
Er sagte: »Ich wusste nicht, was ich sonst damit machen soll.«
Mary blätterte in den Bildern von Happy Drummond, dem kleinen Jungen, der er gewesen war. Ihre Tränen tropften aufs Papier, zogen ein. Sie machten die Bilder wieder lebendig, gaben ihnen Wert.
Sie saugte einen Seufzer durch die Zähne, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab, dann stellte sie die Schachtel ab und küsste ihn auf die Wange. »Ich liebe dich.«
Er lächelte und erwiderte nichts. Aber er spürte es, und es zu spüren machte ihn stärker.
Sie drängten sich in der Tür, um ihn zu verabschieden – Mary und Stever und Daisy und Otis. Sie winkten und lächelten und taten so, als wäre diese Trennung nicht das, was sie war und was sie alle wussten, und Kenny fuhr weg.