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Nach der Arbeit fuhr Mary zurück nach Totterdown zu einem viktorianischen Reihenhaus auf einem steilen Hügel – einem bunten Haus in einer Straße voller bunter Häuser, blau und gelb und grün.

Sie stellte ihre Taschen im Flur ab und sah nach Stever und den Kindern.

Stever las ein Buch mit Kurzgeschichten von Ray Bradbury; es hatte ein grelles 70er-Jahre-Coverdesign. Otis und Daisy sahen Cartoon Network.

Mary umarmte die Kinder, gab ihnen einen Kuss und fragte, wie es ihnen gehe, aber sie sagten nicht viel. Das war in Ordnung, sie würden später mehr Zeit miteinander verbringen, wenn Mary auf dem Wannenrand saß, während die Kinder badeten, sich mit ihnen unterhielt, während sie sich abtrockneten und ihre Pyjamas anzogen, wenn sie ihnen Geschichten vorlas und mit Otis Ich sehe was, was du nicht siehst spielte.

Stever gab sie auch einen Kuss. Er trug abgeschnittene Jeans, Gummi-Flipflops und ein ausgewaschenes T-Shirt der Fernsehserie Nummer 6 – Patrick McGoohans Gesicht war nach den Jahren in der Waschmaschine und im Trockner schon ganz rissig und verblasst.

Stever hatte sehr langes Haar und einen dichten, kastanienbraunen Bart. Am Anfang hatte Mary ihn gedrängt, sich den Bart abzurasieren, weil er kitzelte, wenn sie sich küssten. Stever hatte ein wenig geschmollt, ihr aber den Gefallen getan. Sein Gesicht hatte einen fragenden, hilflosen Ausdruck angenommen, also entschuldigte Mary sich und bat ihn, den Bart wieder wachsen zu lassen. Nun fand sie das Kitzeln angenehm, es bedeutete Zuhausesein und Gemütlichkeit und stilles Wohlbefinden.

Sie saß mit den Händen auf den Knien und geradem Rücken da und starrte auf den Bildschirm. Stever warf ihr über sein Buch hinweg einen Blick zu, knickte dann die Ecke einer Seite um und legte es weg. »Was ist los?«

Er merkte immer, wenn etwas nicht stimmte. Das war auch etwas, was sie an ihm liebte.

»Ich hab mich heute mit Kenny getroffen. Oben am Cabot Tower«, antwortete sie.

Stever und Kenny waren einmal beste Freunde gewesen. Sie waren oft in Kennys altem VW-Bus aufs Land gefahren und hatten mithilfe von Brettern, langen Campingseilen und Heringen gemeinsam Kornkreise gefälscht. Sie waren noch immer Freunde, aber es war nicht mehr wie früher.

»Wie geht’s ihm?«, fragte Stever.

»Kommst du kurz mit raus?«, bat Mary.

Stever runzelte die Stirn, stand auf, strich sich das Haar aus dem Gesicht, folgte Mary in den engen Flur und schloss die Tür zu den Geräuschen von SpongeBob Schwammkopf.

»Er hat mir die hier gegeben«, sagte Mary und zeigte Stever das Bündel Skizzen.

Stever knotete die Schnur auf und blätterte die Skizzen durch. Er sah Mary an. »Warum?«

»Ich weiß nicht.«

»Ist alles in Ordnung mit ihm?«

»Ich weiß nicht.«

»Soll ich hinfahren und mit ihm reden?«

»Er wird dir nichts sagen. Nicht, wenn er mir nichts sagt. Er wird sich nur verschließen. Er tut so, als wäre nichts – vor allem vor uns.«

»Vielleicht sollte ich ihn anrufen. Ihn einladen. Wir könnten uns ein paar alte Videos ausleihen, Zombie 2 oder so was. Ich geh mit ihm ins New Found Out

Mary umfasste Stevers Hand mit beiden Händen, führte sie an ihr Gesicht und küsste sanft seine Fingerknöchel. »Warten wir noch ein paar Tage.«

»Meinst du wirklich?«

»Ja. Ich ruf ihn morgen an. Um sicherzugehen, dass alles okay ist.«

Am nächsten Tag rief Mary Kenny in ihrer Vormittagspause an. Mittags versuchte sie es noch einmal, und dann noch einmal am späten Nachmittag, aber Kenny hob nicht ab.

Auf dem Nachhauseweg im Bus schrieb sie ihm eine SMS: »ALLES OK? LG«

Auch darauf antwortete er nicht.

Mary besaß noch immer das kleine schwarze Adressbuch, das bei ihr und Kenny einst neben dem Telefon gelegen hatte. Die Seiten waren voll von Adressen, die im Lauf vieler Jahre hinzugefügt oder durchgestrichen worden waren. Jetzt bewahrte sie es in einer kleinen Kommode im Obergeschoss auf.

Sie holte es hervor und fand die Handynummer einer Frau namens Pat Maxwell. Sie wählte die Nummer und vernahm ein zögerliches, mürrisches »Hallo?«

»Hi Pat! Ich bin Mary. Kenny Drummonds Mary?«

»Kennys Mary?«

»Erinnerst du dich?«

»Die hübsche, kleine Mary mit den dunklen Haaren?«

Das rührte Mary, und sie hasste sich dafür.

Pat fragte: »Was kann ich für dich tun, Süße?«

»Ich wollte nur wissen, ob Kenny sich bei dir gemeldet hat?«

»Was – dein Kenny?«

»Ja, mein Kenny. Mein Exmann.«

»Schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Warum?«

»Nur so.«

»Wirklich?«

»Na ja, um ehrlich zu sein, wir machen uns ein wenig Sorgen um ihn.«

»Wieso?«

»Ach, keine Ahnung, es ist nicht der Rede wert.«

»So wenig, dass du mich deswegen anrufst? Geht’s um die Sache mit Kintry?«

»Nein, das ist es nicht.«

»Bist du sicher?«

»Ziemlich sicher. Pat, entschuldige bitte. Wahrscheinlich ist es gar nichts. Ich will dich nicht stören.«

»Tust du nicht, Süße. Ich freue mich, dass du angerufen hast. Weißt du was, wenn er sich meldet, ruf ich dich an. Ich sag dir Bescheid. Wie wär das?«

»Das wär toll. Ich meine, wahrscheinlich ist es gar nichts. Aber trotzdem. Danke.«

»Kein Problem. Wie geht’s den Kindern?«

»Prima.«

»Das freut mich.«

Mary gab Pat ihre Nummer, nur für den Fall und legte auf.

Sie hatte gehofft, dass Pats Stimme sie beruhigen würde. Aber sie hatte alles nur schlimmer gemacht.

Ebenso wie die Erwähnung Thomas Kintrys.