26

Spät am Nachmittag fragte Jonathan: »Können wir reden?«

»Natürlich«, antwortete Kenny.

»Ich brauche Essen.«

»Nein.«

»Es tut weh.«

»Ich weiß.«

»Ich halte es nicht mehr aus. Ich verhungere.«

»Es wird nur schlimmer. Du wirst schwächer werden.«

»Das ist Folter.«

»Dann tu was, damit es aufhört. Sag mir, was ich wissen will.«

»Das kann ich nicht. Ich weiß es nicht.«

Kenny hatte keine Gelegenheit, darauf zu antworten, denn sie wurden vom Geräusch eines Autos in der Kieseinfahrt unterbrochen.

Kenny eilte hinaus, um zu sehen, wer es war, und erblickte Marys Fiat Punto mit Mary am Steuer.

Er stürzte zurück ins hinterste Zimmer, griff nach dem Brecheisen und drückte es Jonathan von unten gegen den Kiefer. »Wenn du auch nur einen Ton von dir gibst, einen einzigen Ton, dann komm ich zurück und schlag dir den Schädel ein.«

Jonathan versuchte zu nicken, wodurch die Klaue des Brecheisens eine weiße Kerbe ins Fleisch seines Unterkiefers grub.

»Keinen Ton«, wiederholte Kenny, verließ das hinterste Zimmer und stocherte mit dem großen Schlüssel im alten Schloss herum.

Er war gerade dabei, das Brecheisen im Schränkchen unter der Spüle zu verstecken, als die Küchentür aufging und Mary eintrat.

Sie sah elfenhaft und schön aus, aber ihr Gesichtsausdruck war düster – und als sie Kenny sah, begann sie zu weinen.

Wortlos schloss er sie in die Arme. Er blickte über ihre Schulter, den Gang entlang zur hintersten Zimmertür.

Zuerst erstarrte sie in seiner Umarmung. Dann entspannte sie sich. Er konnte ihre Tagescreme riechen, ihr Waschmittel, ihre Haut, sogar dass sie an dem Tag eine Zigarette geraucht hatte. Er konnte ihre Tränen riechen.

Sie fragte: »Was ist los? Sag nicht ›nichts‹.«

Kenny blickte noch immer den Gang entlang. Dann sah er Mary an und streckte die Hand aus. »Komm mit.«

Auf einer Lichtung an einem nahe gelegenen flachen Hang standen die Überreste eines Steinkreises, der so unbekannt und vergessen war, dass Kenny nicht einmal wusste, ob er überhaupt einen Namen hatte. Er bestand aus acht Steinen, die nach oben spitz zuliefen wie Feuersteinäxte und alle bis auf zwei längst umgefallen und von Pflanzen überwuchert waren.

Er und Mary waren viele Male hier heraufgekommen. Es war ein guter Ort, ein friedlicher Ort, der Beständigkeit und Wandel ausstrahlte – Kenny dachte oft daran, was alles auf der Welt emporgekommen und gestürzt war, während diese Steine hier gestanden hatten, in dieser Erde.

Sie setzten sich nebeneinander mit dem Rücken an den kalten, blauen Stein. Die Erde unter ihnen war heiß und trocken, und der Himmel war blau, und sie konnten Schafe und Rinder sehen, die ferne Autobahn, das abgelegene Dorf – und Kennys Cottage, strahlend weiß in seinem grünen Kranz, den Bach dahinter, die Kurve der Straße, die zur Eingangstür führte.

Kenny behielt sie im Auge.

Er nahm Marys Hand und sagte: »Ich sterbe.«

Sie drehte sich zu ihm. »Was meinst du damit?«

Er sagte es noch einmal. Er erzählte ihr von dem aggressiven Tumor, der sich in seinen Schläfenlappen bohrte, seinen schwindenden Tagen auf der Erde, dem Prozess, die Welt loszulassen wie die Schnur eines Ballons.

Sie knurrte und boxte ihn in den Oberarm, dann stand sie mühsam auf und beschimpfte ihn. Er sei ein Bastard, ein egoistischer Wichser, ein Arschloch, ein gemeiner Mistkerl.

Dann setzte sie sich, ohne ihn zu berühren oder anzusehen, und starrte auf ihre eigenen Füße, während er alles noch einmal langsamer erklärte. Sie betrachtete den Rand der Wolken, die sich drehende Welt.

»Wie lange?«, fragte sie.

»Nicht lange. Ein paar Wochen.«

»Und es gibt nichts, was sie tun können …?«

»Nicht wirklich. Na ja, nichts, was man durchmachen möchte.«

Sie spielte mit einem Grashalm, konzentrierte sich darauf. »Zieh doch zu uns.«

»Da würden Stever und die Kinder sich aber freuen.«

Sie lachte und boxte ihn noch einmal in den Arm, diesmal sanfter. »Dann zieh ich eben zu dir.«

»Mary …«

»Bitte.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Du hast doch die Kinder. Und Stever.«

»Und du bist ganz allein.«

Das war er nicht. Aber er sagte: »Kannst du dir das vorstellen? Wie wir beide zusammenleben würden – in einer solchen Situation? Das wäre nicht gut. Weder für mich noch für dich. Es wäre nicht gut.«

»Hast du an … du weißt schon … Orte gedacht? Es gibt Orte. Wenn es zu schwierig wird. Hospize.«

»Steht schon auf meiner Liste.«

»Darf ich dir helfen, eins zu finden?«

»Wenn du möchtest. Es könnte etwas deprimierend werden.«

»Ich will helfen. Ich will etwas tun.«

»Okay. Dann hilf mir, einen Ort zu finden. Das wäre gut. Finde mir einen Ort. In Wales.«

»Warum in Wales?«

»Da gehöre ich hin. Du weißt schon. Walisisches Blut.«

Sie sah ihn blinzelnd an. »Okay.«

»Okay.«

Sie berührte ihn ganz vorsichtig. Strich ihm über die Stirn. »Tut es weh?«

»Nicht wirklich. Manchmal.«

»Wo ist er?«

Er nahm ihre Hand und führte sie seitlich an seinen Kopf, direkt über das Ohr. Der Tumor saß etwa einen Zentimeter unter ihren Fingerspitzen.

Sie zog die Hand zurück und rieb sie, als hätte sie sich verbrannt. Sie machte das nicht bewusst. »Kannst du ihn spüren?«

»Manchmal bekomme ich Kopfschmerzen. Ich hatte auch Anfälle. Ich kann besser sehen, ich kann besser hören. Ich kann mich an Dinge erinnern, als wären sie gestern gewesen, wie alte Leute immer sagen. Aber es stimmt. Als wäre es heute Morgen gewesen. Erinnerst du dich an die ganzen Campingausflüge? Mit dem Bulli an den Strand?«

Sie erinnerte sich an jeden einzelnen, aber sie ertrug es nicht, darüber zu sprechen. Stattdessen fragte sie: »Wie geht es weiter?«

»Vielleicht werden die Kopfschmerzen schlimmer. Vielleicht bekomme ich noch mehr Anfälle, häufiger. Oder vielleicht werden die Kopfschmerzen schwächer und die Anfälle hören auf. Das weiß anscheinend niemand so genau.«

»Es ist nicht fair.«

»Ach, ich weiß nicht. In gewisser Weise hat es auch was Gutes. Man wird sich über alles klar. Man wird sich darüber klar, was wichtig ist.«

»Und was ist wichtig?«

Er antwortete nicht. Sie blieb still, und Kenny sah, dass sie ein Gesicht machte wie dann, wenn sie sich sehr anstrengte, nicht zu weinen.

Er dachte an den Tag, als er sie verlassen hatte, um allein an diesem einsamen Ort zu wohnen.

Er hatte sie umarmt, und sie hatten geweint: um einander, um all die Dinge, die sie gefühlt und gesagt hatten, um all die Male, als sie sich gegenseitig zum Lachen gebracht, einander gepflegt hatten, wenn sie krank waren, tollpatschig hingefallen waren, Essen verbrannt, Liebe gemacht hatten. Und sie hatten um ihr verlorenes Baby geweint, ein tot geborenes Mädchen, dem sie nie einen Namen gegeben hatten, und über das zu sprechen sie nie fertiggebracht hatten.

Sie hatten sich getrennt, sich aber dabei versprochen, für immer Freunde zu bleiben. Und als Kenny seine Sachen in den gemieteten Transporter brachte, hatte er tief in seinem Inneren einen Schmerz gespürt, in seiner Wirbelsäule, seinen Organen.

Er war hinaus ins Cottage gezogen und das geworden, was er sich geschworen hatte, eines Tages zu sein: Porträtmaler.

Jetzt saßen sie beide hier, zwischen umgekippten Steinen, die schon genau so dagelegen hatten, bevor sie geboren wurden.

»Hast du Angst?«, fragte Mary.

»Nicht wirklich. Die Entwicklung verläuft angeblich so: Wut, Depression, Verhandeln mit Gott. Danach, wenn ich Glück habe, wenn ich so viel Zeit habe, kommt die Akzeptanz. Aber was für einen Sinn hat das alles schon? Wer hat denn Zeit?«

»Versuchst du nur, mich aufzumuntern?«

»So ziemlich.«

Mary hatte nichts dabei, um sich das Gesicht abzuwischen. Kenny zog sein T-Shirt aus und faltete es zusammen wie einen Lappen. Er reichte es ihr. Sie wischte sich mit dem Saum die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht.

Kenny sagte: »Stever ist ein guter Kerl.«

»Ich weiß.«

»Und er ist ein toller Vater. Aber er sollte sich die Haare schneiden lassen.«

Mary lachte unter Tränen. Sie warf das zusammengefaltete T-Shirt nach ihm.

Er fing es auf und zog es an. Der Saum war nass, aber das kümmerte ihn nicht. Warum sollte es ihn auch kümmern?

Sie schlenderten zurück zu ihrem rostigen kleinen Punto und hielten dabei Händchen wie Teenager.

Am Auto angekommen, lehnte sie sich an die Tür und streckte die Hand aus, um ihn sanft an den Nackenhaaren zu zupfen. »Wie kann ich dich denn jetzt allein lassen?«

Er sagte nichts. Sie wartete, dann gab sie auf und hielt resigniert eine Hand hoch. Sie kramte ihren Autoschlüssel hervor und mimte »ruf mich an«.

Kenny nickte. Er wartete, bis der Punto losfuhr und außer Sichtweite war. Dann drehte er sich um und rannte zurück zum Cottage.

Er schoss durch die Küche und schlug dabei mit der Hüfte gegen eine halb offene Besteckschublade. Er fluchte und knallte sie zu, dann rannte er durch den Gang zum hintersten Zimmer.

Er schloss die Tür mit zitternder Hand auf, öffnete sie, trat ein.

Jonathan Reese war geflohen.