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Pat verließ Kennys Cottage, fuhr etwa vier Kilometer über die Landstraßen, dann blieb sie stehen. Sie holte tief Luft, hielt sie für einen Moment an, stieß sie schaudernd wieder aus.

Mehrere Minuten lang musste sie gegen den Drang ankämpfen, sich zu übergeben. Sie atmete schnell und ballte die Fäuste so fest, dass ihre Fingernägel sich tief ins Fleisch ihrer Handflächen bohrten.

Als die Übelkeit nachließ, kramte sie ihre Zigaretten heraus und kurbelte das Fenster herunter, um die kühle Nacht und den Regen hereinzulassen.

Sie zündete sich eine John Player Special an und rauchte sie bis zum Filter. Ab und zu glitten die gelben Augen vorbeifahrender Autos über sie. Einmal wurde sie vom blendenden Xenonlicht eines Mercedes kalt-blau und geisterhaft erleuchtet.

Sie stieg aus, um sich die Beine zu vertreten. Im hohen, feuchten Gras am Rand einer Kuhweide holte sie ihr Handy heraus und rief Paul Sugar an.

»Pat!«, rief er. »Ich hab mir schon gedacht, dass du anrufen würdest. Wo sollen wir uns treffen?«

Sie verspürte plötzlich eine heftige Zuneigung zu ihm, wegen seiner fröhlichen Verlogenheit, seiner Selbsterkenntnis und unverfrorenen Eigennützigkeit.

Sie sagte: »Meine Knie tun zu weh, um den ganzen Weg bis nach Bristol zu fahren.«

Es war eine Lüge, aber sie fühlte sich nicht sehr schlecht deswegen.

Am nächsten Morgen spazierten sie über die Promenade von Weston-super-Mare.

Es war ein öffentlicher Ort, aber nicht so öffentlich, wie Pat gewollt hatte. Der Sommer war armselig gewesen, und jetzt war auch noch der Pier weg, bis auf diesen geschwärzten Stumpf, der aus dem Sand hochragte wie ein verbrannter Knochen. Es gab kaum einen Grund für irgendjemanden, hierherzukommen, erst recht nicht so früh an einem Werktag. Die Esel standen verloren und reiterlos auf dem braunen Strand.

Paul aß einen Hotdog. »Und, wie komme ich zu der Ehre?«

»Ich glaube, das weißt du wahrscheinlich schon.«

»Sag’s mir trotzdem.«

Pat blieb so abrupt stehen, dass Paul fast mit ihr zusammenstieß. »Was ist?«, fragte er.

»Du nimmst dieses Gespräch nicht auf, oder? Keine Gimmicks? Keine Aufnahme-Kulis oder was weiß ich was?«

»Was hätte ich denn davon?«

Aber er hob bereitwillig die dicken Arme, streckte den ballonartigen Bauch und die massigen Schenkel vor, damit sie ihn abtasten konnte.

Stattdessen sagte sie: »Wenn du dieses Gespräch aufnimmst und versuchst, es gegen mich zu verwenden, dann werd ich dir verdammt noch mal einen ganz gewaltigen Denkzettel verpassen, das schwöre ich beim Namen des heiligen Jesuskindes. Und der Denkzettel wird so verdammt heftig ausfallen und du bekommst ihn so verdammt schnell, dass du nur noch eine Bremsspur hinterlässt.«

»Mein Gott, Pat. Jetzt krieg dich mal wieder ein. Ich esse gerade.«

»Schön.«

Sie gingen weiter. Paul sagte: »Also. Du befindest dich in einer Scheißlage.«

»Glaubst du?«

Er hatte den Hotdog aufgegessen und tupfte sich Ketchup von den rosa Lippen. »Du kommst zu mir in jemandes Auftrag, dessen Namen du nicht nennen willst und der dieses Mädchen sucht. Callie Barton. Wie sich herausstellt, hat sie diesen Namen nicht mehr getragen, seit sie sozusagen ein Baby war. Also frage ich mich: Dein Klient – wer kann das sein? Ein ehemaliger Liebhaber? Unmöglich, denn das letzte Mal, als er von ihr gehört hat, war sie elf, verdammt noch mal. Ein perverser Lehrer? Ein pädophiler Onkel? Aber das würdest du nicht unterstützen. Ich erinnere mich, wie du einmal diesen Pädophilen Harris bei den Eiern gepackt hast. Du hast seinen Schwanz zusammengerollt wie ein Stück Lakritze.«

»Ich erinnere mich daran. Ich hab ihm fast den Pimmel abgerissen.«

Paul schnaubte anerkennend. Und Pat grinste, während sie sich eine Zigarette anzündete.

Paul fuhr fort: »Na ja, egal. Du bezahlst mich dafür, dass ich rausfinde, wo sie ist, weil du keinen Bock darauf hast. Keine fünf Minuten später verschwindet ihr Mann.«

»Das war Selbstmord, soviel ich aus den Zeitungen erfahren habe.«

Er schnaubte noch einmal, ziemlich freundlich.

»Die zusammengefalteten Kleider«, ergänzte Pat. »Die Uhr. Das Handy.«

»Ach, komm schon.«

»Du bist ein Arsch, Paul«, sagte sie, »aber du verpfeifst niemanden.«

»Nein. Ich bin nur verschuldet. Du weißt zumindest, wer es getan hat. Was bedeutet, dass du Beweismittel für ein Kapitalverbrechen zurückhältst.«

»Ich bin eine niedliche kleine alte Dame. Wer würde mich schon auf die Anklagebank setzen?«

»Der Crown Prosecution Service würde alles tun, um zu zeigen, wie tadellos sie arbeiten. Wenn die auch nur einen Blick auf dich werfen: Expolizistin, in irgendwas Schmutziges verwickelt – dann verfolgen sie dich mit der ganzen Macht des Gesetzes.«

»Ich würde höchstens einen Monat kriegen.«

»Meinst du? Na ja, das ist deine Entscheidung. Ich muss nur zum Telefonhörer greifen. Wir werden ja sehen.«

Pat sagte: »Es gibt da ein Cottage.«

»Was meinst du mit: Es gibt da ein Cottage?«

»Ich vermute, es ist nicht ganz nach deinem Geschmack. Aber es ist, sagen wir, zweihunderttausend wert. Es gehört dir, wenn …« Sie mimte einen Reißverschluss vor ihrem Mund. »Wenn du die Klappe hältst.«

Paul grinste.

Pat wurde wütend. »Das hier ist kein fettiges Bündel Zehner in einem gepolsterten Umschlag, Paul. Ich besteche dich. Ganz wie es sich gehört.«

»Und wo ist der Haken?«

»Der Haken ist, dass du warten musst.«

»Wie lange?«

»Nicht lange. Ich kann’s nicht genau sagen.«

»Das reicht mir nicht.«

»Dein Pech. Dann ruf an. Buchte mich ein. Bleib verschuldet.«

»Ich brauche Beweise.«

»Du kriegst keine Beweise. Du kriegst nur mein Versprechen.«

»Glaubst du etwa, ich bin von gestern? ›Da hast du ein Haus, Paul! Da hast du ein wundervolles, unsichtbares Cottage.‹ Scheiß drauf. Lass dir was Besseres einfallen.«

»In Ordnung. Du bekommst es durch ein Testament. Rein wie Schnee. Keine Geldwäsche, keine Lügen. Keine Fragen. Legal und absolut wasserdicht.«

Paul pfiff. »Was auch immer da vor sich geht, es klingt nach ganz gewaltig tiefer Scheiße.«

»Das kannst du dir nicht vorstellen, Kumpel. Im Ernst.«

»Geht’s dir gut?«

»Kümmert dich das?«

»Klar kümmert es mich. Mir macht diese ganze Sache auch nicht mehr Spaß als dir. Mir wird ganz übel, wenn ich mit Freunden über Geld reden muss.«

»Dann hast du den falschen Beruf.«

Er dachte darüber nach und sagte: »Wenn du mir das vor zwanzig Jahren gesagt hättest, wären wir heute Morgen beide besser dran.«

»Ich glaube, das habe ich.«

»Ich hab nicht drauf gehört. Ich bin ein Idiot. Willst du was trinken?«

»Wenn du mich einlädst.«

»Ich lade dich ein. Wenn du mir zwanzig Pfund leihst.«

»Steht’s so schlimm?«

»Es wird auch wieder besser werden. Sobald ich zum Besitzbürgertum gehöre.«

»In Ordnung. Dann lade ich dich ein. In der Annahme, dass dieses Gespräch beendet ist.«

»Das hoffe ich. Ich hab schon Kopfschmerzen davon.«

Sie gingen in den Pub.