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Becks nahm den Anruf bei der Arbeit entgegen. Sie hatte einen schweren Tag, weil sie sich um die Folgen der Pleite einer weiteren Billigreisegesellschaft kümmern musste. Tausende von Kunden steckten in Griechenland und Spanien und auf den Kanaren fest, und alle schrien Becks an, als wäre es ihre Schuld.
Deswegen verärgerte sie der Anruf der Polizei zunächst nur – nachdem sie sich tagelang nicht gemeldet hatten, wollten sie plötzlich, dass sie augenblicklich auf die Wache kam. Dann klappte der Ärger unter ihren Füßen weg wie eine Falltür, und in ihrer normalen Stimme, nicht ihrer Arbeitsstimme, fragte sie: »Worum geht es?«
Die Polizistin Jenny Cates sagte nur: »Wenn Sie so schnell wie möglich herkommen könnten, wäre das super. Wenn Sie möchten, holen wir Sie mit dem Auto ab.«
Becks war nach fünfundvierzig Minuten dort.
Jenny Cates zeigte ihr die Tonbandkassette, die am Morgen mit der Post gekommen war – abgestempelt in Yate, zwei Tage zuvor.
Jenny Cates sagte: »Ich muss Sie fragen – haben Sie diese Kassette abgeschickt?«
»Wieso sollte ich Ihnen eine Kassette schicken? Ich glaube, ich habe keine Kassette mehr gesehen, seit ich elf war oder so.«
»Wir glauben, dass die Kassette möglicherweise von Jonathan aufgenommen wurde.«
»Von Jonathan? Warum?«
»Das darf ich leider nicht sagen. Ich möchte, dass Sie sich ein Stück davon anhören und mir sagen, ob Sie glauben, dass das Jonathans Stimme ist. Können Sie das machen?«
»Ja, das kann ich. Warum?«
Jenny drückte PLAY.
Becks hörte:
Mein Name ist Jonathan Reese. Ich mache diese Aufnahme freiwillig und ohne Zwang.
Jenny drückte STOP. »Ist das Jonathans Stimme?«
»Was sagt er sonst noch?«
»Sie bestätigen also, dass das auf dem Band Jonathan Reeses Stimme ist?«
»Ja, das ist er. Was sagt er sonst noch?«
»Sind Sie ganz sicher?«
»Ich kenne seine Stimme. Was sagt er sonst noch?«
»Das ist leider streng vertraulich und Teil der laufenden Ermittlungen.«
»Bitte.«
»Es tut mir leid, Rebecca, ich kann nicht weiter ins Detail gehen.«
»Ist es ein Geständnis?«
»Ich kann keine weiteren Inhalte dieser Aufnahme bestätigen oder dementieren.«
»Es ist ein Geständnis. O Gott.« Becks hatte so ein Gefühl. Irgendetwas durchfuhr sie mächtig und kalt. »Sagt er, dass er es getan hat? Sagt er das?«
»Rebecca, wir sind beunruhigt wegen des Zeitpunkts, zu dem das Band bei uns eingetroffen ist.«
»Was meinen Sie damit?«
»Haben Sie es abgeschickt?«
»Nein.«
»Haben Sie eine Idee, wer es sonst abgeschickt haben könnte? Irgendwelche Freunde von Jonathan? Sonst irgendjemand?«
»Nein. Warum?«
»Weil es abgeschickt wurde, nachdem Jonathan …«
»Nachdem Jonathan was?«
»Sich umgebracht hat.«
»Was wollen Sie damit sagen? Gott. Ich verstehe nicht. Was meinen Sie damit?«
»Ist das Ihre Handschrift?«
Sie zeigte Becks ein Faksimile des kleinen, von Hand beschrifteten, gepolsterten Umschlags, in dem die Kassette abgeschickt worden war. In enger, aber schlampiger Schrift stand darauf: »DRINGEND!!! Betr.: Jonathan Reese.«
»Das ist nicht meine Schrift. Sie kennen meine Schrift. Sie haben sie auf Formularen gesehen.«
»Kommt Ihnen diese Schrift irgendwie bekannt vor?«
»Nein.«
»Da sind Sie sich sicher?«
»Vollkommen.«
»Okay. Danke, dass Sie so kurzfristig herkommen konnten. Wir hätten Sie nicht darum gebeten, wenn es nicht wichtig wäre. Geht es Ihnen gut? Ich weiß, dass es schwer für Sie sein muss, und es tut mir leid. Soll ich jemanden anrufen, der Sie nach Hause bringt?«
»Nein. Ja. Können Sie Ollie anrufen?«
»Oliver Quinlan?«
»Ja. Ich glaube, ich schaffe es nicht, ihn anzurufen. Ich glaube, ich kann nicht sprechen.«
»Wir rufen ihn an. Macht es Ihnen was aus, hier zu warten? Nur einen Augenblick?«
»Nein. Nein, kein Problem. Ich warte.«
Jenny verließ den Raum rücksichtsvoll und mit gebührendem Respekt. Aber dann legte sie an Geschwindigkeit zu, und als sie im Büro ankam, rannte sie beinahe. Alle sahen auf.
Jenny holte tief Luft und genoss den Moment. Dann sagte sie: »Die Freundin bestätigt. Er ist es.«
Nachdem die Aufregung sich bei allen ein wenig gelegt hatte, begannen sie zu telefonieren, befassten sich mit den Formalitäten, verhandelten mit zivilen Mitarbeitern.
Jenny saß an ihrem Schreibtisch. Sie hatte einen Kopfhörer an ihren vergilbten alten Computer angeschlossen. Sie drückte die Leertaste und hörte sich noch einmal die digitale Kopie des Analogbands an, das am Morgen angekommen war.
Mein Name ist Jonathan Reese. Ich mache diese Aufnahme freiwillig und ohne Zwang. Ich möchte gestehen, dass ich meine Frau Caroline Reese am 27. Juni 2004 nach einem Streit unter Alkoholeinfluss umgebracht habe. Ich habe sie geschlagen und dann mit einem Kissen erstickt. Ich habe ihre Leiche zur leer stehenden Hazel Farm bei den Bath Valley Woods gebracht …
Ollie kam auf die Polizeiwache, um Becks abzuholen.
Draußen, neben seinem schmutzigen, weißen Lieferwagen, der im sonnigen Nieselregen hell leuchtete, fragte er: »Alles in Ordnung?«
Becks runzelte die Stirn, sie war noch nicht ganz zu sich gekommen. »Ja. Ja, mir geht’s gut.«
Sie sah blass und verwirrt aus. Ollie fürchtete, sie stände unter Schock. »Soll ich bei dir auf der Arbeit anrufen?«, fragte er.
Sie hörte auf, im Kreis zu gehen, und umklammerte fest ihre Jacke. »Würde’s dir was ausmachen?«
Er kramte sein Handy heraus, und sie diktierte ihm die Nummer. Ollie wandte ihr den Rücken zu, während er telefonierte, dann legte er auf. »Schon erledigt.«
»Was hast du gesagt?«
»›Persönliche Probleme.‹«
Sie lachte und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Ach du Scheiße.«
»Was willst du jetzt machen?«
»Keine Ahnung.«
»Was hat er gesagt? Auf dem Band. Was hat er gesagt?«
»Ich weiß es nicht. Dass er es getan hat, schätze ich. Warum sollte er es sonst herschicken?«
Ollie steckte die Hände in die Taschen und sah zum Himmel.
»Tut mir leid«, sagte Becks.
»Wer hat das Band abgeschickt?«
»Das wissen sie nicht.«
»War es Jonathan?«
»Das glauben sie anscheinend nicht. Sie haben mir den Umschlag gezeigt, die Handschrift. Um zu sehen, ob ich sie erkenne.«
»Und, hast du sie erkannt?«
»Nein.«
»Gott. Ich muss mich setzen.«
Er schaffte es nicht einmal mehr bis in den Van, er setzte sich einfach mit dem Rücken an den Wagen gelehnt auf den Boden, nahm seine Mütze ab und drehte sie nervös in den Händen.
Becks setzte sich neben ihn.
Er fragte: »Was sollen wir seinen Eltern sagen?«
»Ich weiß es nicht. Die Polizei wird sie informieren.«
»Glaubst du?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht auch nicht.«
Ollie stieg in den Lieferwagen, um anzurufen.
Als er wieder herauskam, sagte er, dass Dennis schockiert und höflich gewesen sei – komisch, wie höflich sie plötzlich alle zueinander waren. Er hatte sich bei Ollie dafür bedankt, dass er ihm Bescheid gesagt hatte.
Ollie hatte Dennis versprochen, sich wieder zu melden. Er bat ihn, auf sich und seine Frau aufzupassen. Dennis sagte, er wolle bei der Polizei anrufen und fragen, ob es weitere Neuigkeiten gebe.
Dann hatte Ollie aufgelegt.
Becks saß neben ihm auf dem Beifahrersitz und starrte auf den Verkehr und die Leute. »Kannst du dir heute freinehmen?«, fragte sie.
»Ja, ich denke schon.«
»Dann lass uns zu dir gehen und uns betrinken.«
Ollie hatte eine kleine, düstere Wohnung in einem viktorianischen Block, nicht weit von Jonathans Haus. Die Küche war ein einziges Chaos, und an den Wänden hingen Poster von Bands, von denen Becks noch nie gehört hatte: Hawkwind, King Crimson, Chrome.
Die Regale bestanden aus langen, auf Backsteine gestützten Brettern. Darauf standen einige Hundert Schallplatten, mehr Vinyl, als Becks je gesehen hatte.
Vorhänge gab es keine, nur irgendwelche indische Tücher, die über den Fenstern festgesteckt waren. Die Luft hier drinnen war blassorange, wie ein halbgelutschtes Bonbon.
Sie begannen mit einer Flasche bulgarischem Wein aus dem Laden an der Ecke und redeten über Jonathan – wie sie ihn kennengelernt hatten, wie witzig er war, wie rücksichtsvoll, wie sehr er sich von Kleinigkeiten stressen ließ und wie dringend man ihn trotzdem in einer Krisensituation bei sich haben wollte.
Sie öffneten eine zweite Flasche. Ollie drehte einen Joint. Keinen starken – nur um soweit runterzukommen, dass sie sich entspannen konnten.
Ollie fragte Becks, ob sie – tief in ihrem Inneren – je gedacht habe, dass Jonathan es getan haben könnte.
Becks fragte zurück: »Wieso? Du etwa?«, und fing an zu weinen. Sie sagte, sie fühle sich schmutzig, als müsste sie sich waschen.
Ollie hielt ihre Hände. »Sei nicht albern. Du bist wundervoll. Ich hätte es wissen müssen. Ich.«
Und sie antwortete: »Sei du nicht albern.«
Es war nicht seine Schuld. Er war ein guter Freund gewesen.
Ollie sah so traurig aus mit seinen großen Augen und den dreckigen Nägeln. Und dann küsste sie ihn, steckte ihm die Zunge in den Mund. Und Ollie legte die Hand auf ihr Bein unter dem Arbeitsrock, dann, weniger zögerlich, weiter oben auf ihren Schenkel. Sie bewegte die Hüften und seine Hand rutschte noch höher. Das erste Mal war drängend und verletzt und wütend. Das zweite Mal war langsamer und besser.
Becks blieb nackt in Ollies grauweißen Laken liegen. Später wurden sie nüchtern, zogen sich aber nicht an. Sie saßen einfach nackt da, sahen fern, warteten auf die Nachrichten.