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Kenny schlief achtzehn Stunden. Als er am folgenden Nachmittag aufstand, fühlte er sich rein und frisch, wie Bergluft nach einem heftigen Sturm.

Mit nacktem Oberkörper, barfuß und in Pyjamahosen machte er sich einen Kaffee und setzte sich an seinen Laptop.

Er wusste, dass er nach Lokalnachrichten von Juni 2004 bis ungefähr Juni 2005 suchen musste. Darin musste eine Vermisste mit Vornamen Callie oder Caroline vorkommen.

Trotzdem wurde er nicht gleich fündig. Er musste erst die lächelnden Schnappschüsse anderer toter oder vermisster Frauen ertragen. Aber er war hartnäckig, und schließlich fand er, was er suchte.

 

»RUF AN!«

DRINGENDER AUFRUF DES EHEMANNS AN VERMISSTE FRAU

 

Der Ehemann der vermissten Caroline Reese, 34, aus Bath startete heute einen dringenden Aufruf an seine Frau mit der Bitte, sich bei ihrer Familie zu melden, damit er sein »Leben wieder in Ordnung bringen« könne.

Der Aufruf des Ehemanns Jonathan Reese erfolgt sechs Wochen nachdem Callie angeblich nach einem Abend mit Freunden nicht nach Hause zurückgekehrt ist.

Der Landschaftsgärtner Reese wurde von der Polizei der Grafschaften Avon und Somerset mehrere Tage lang befragt und daraufhin ohne Anklage freigelassen.

Eine Polizeisprecherin teilte mit, dass die Polizei das Verschwinden gegenwärtig als Vermisstenfall behandle, ein Verbrechen jedoch nicht ausschließen könne.

In seiner von einem Anwalt vorgetragenen Aussage bekräftigte Reese, er wolle seine Frau einfach nur in Sicherheit wissen.

»Ich muss nicht wissen, wo Caroline ist. Ich will einfach nur wissen, dass sie glücklich und in Sicherheit ist. Mein innigster Wunsch ist, dass Caroline nach Hause kommt. Wenn sie das jedoch nicht möchte, wünsche ich mir, sie würde mich einfach wissen lassen, dass sie in Sicherheit ist, damit ich anfangen kann, mein Leben wieder in Ordnung zu bringen.«

Kenny las den Artikel dreimal, bevor er seinen Augen erlaubte, die zugehörigen Bilder zu betrachten.

Das Foto, eigentlich ein Schnappschuss, war vergrößert und zu einem Porträt zurechtgeschnitten worden. Es zeigte eine dunkelhaarige, hübsche Frau, die in die Sonne lächelte. Ihre Zähne waren gerade und ihre zusammengekniffenen Augen von sympathischen Fältchen umgeben. Sie trug eine Baseballmütze und einen Pferdeschwanz.

Die Bildunterschrift lautete: »Vermisst: Caroline Reese«.

Kenny spürte flüchtig eine eigenartige Erfüllung. Hinter dem erwachsenen Gesicht erkannte er das Mädchen vom Klassenfoto.

Daraufhin studierte Kenny das Gesicht des Ehemanns, von dem er nun wusste, dass er Jonathan Reese hieß. Hager, kurze, dunkle Locken. Der Fotograf hatte ihn vor einer Polizeiwache erwischt, er wirkte ausgezehrt, angespannt und gehetzt.

Kenny ging ins Bad und übergab sich.

Er spülte sich den Mund mit Mundwasser aus, ging dann zurück an den Computer und googelte: LANDSCHAFTSARCHITEKTUR + BATH + REESE.

Dies führte ihn zur ziemlich überholt aussehenden Website einer Firma namens Gartenlandschaften Bath.

Die Startseite zeigte eine stilisierte, ansatzweise architektonische Skizze eines idyllischen englischen Gartens. An der linken Seite des Bildschirms gab es mehrere Buttons untereinander.

Der erste war »Über uns«. Kenny klickte drauf und las:

 

Gartenlandschaften Bath ist Baths führende Landschaftsgärtnerei für Gewerbe- und Privatkunden. Wir decken alle Bereiche der Landschaftsgestaltung und Baumchirurgie ab, einschließlich Pflasterung, Einzäunung, Wasseranlagen, Holzbau, Einfahrten …

Er hörte auf zu lesen und sah sich stattdessen die übrigen Buttons an. »Gartengestaltung und Vorgehensweise« … »Bepflanzungspläne« … »Konzeptgestaltung«.

Schließlich fand er ganz unten »Kontakt«.

Auf der Seite stand: Jonathan Reese, 25 Coney Lane, Bath BA2 1JP. Eine Firmen-E-Mail-Adresse, Festnetz- und Mobilfunknummer waren angegeben. Kenny bekam alle Informationen, die er brauchte, aber sie sagten ihm nichts.

Wie er so in Schlafanzughosen dasaß und der saure Geschmack von Erbrochenem und Mundwasser ihm in der Kehle brannte, fragte er sich, was er da eigentlich machte.

Er wackelte mit dem Kopf, weil er hoffte, auf dem glänzenden Computermonitor sein Spiegelbild erkennen zu können. Aber er sah nur, dass sich etwas bewegte: Der tiefgraue Schatten seines Kopfes und seiner Schultern zeichnete sich auf dem Bildschirm ab. Sein Gesicht war ein Schatten über ihrem, wie eine Wolke, die über einen sonnenbeschienenen Hügel zieht.

Er sah ein, dass Pat recht hatte. Das kleine Mädchen gab es nicht mehr und hatte es schon seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Das Einzige, was blieb, war der leuchtende Funke einer Erinnerung, eine Elfe, gefangen in der Höhle seines Schädels. Sie war nichts als ein Netz von Verbindungen zwischen seinen Synapsen, das sich bald auflösen würde, weil das Gefäß, in dem es sich befand, leer wäre, einfach ein hohler Schädel.

Die Zeit lief ab. Er wusste, dass es seine Pflicht war, Callie Barton zu retten. Sie war seine Guinevere, die vom König des Sommerlandes in die Dunkelheit entführt worden war. Seine Aufgabe war es, in die Dunkelheit einzudringen, ihre Hand zu ergreifen und sie aus der anderen Welt zurückzuholen. Ihrer Geschichte ein Ende zu geben.

Er holte seinen Rucksack aus dem Schrank im Flur. Er packte schnell, denn er brauchte nicht viel.