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Es klang fast so, als hätte Pat Maxwell Kennys Anruf erwartet; sie wusste sofort, dass er es war. »O, hallo Rembrandt.«
Beim Klang ihrer rauen Raucherstimme überkam Kenny eine heftige Wehmut. Er fragte, ob er vorbeikommen könne, um sie zu sehen.
Sie sagte, dass sie schon vor Jahren umgezogen sei, kurz nach ihrer Pensionierung.
Zeit. Wie sie verging.
Nun stand Kenny vor einem Wohnwagen, einem großen Caravan doppelter Breite auf dem Worlebury Hill über Weston-super-Mare.
Er war früher als Ferienwohnung vermietet worden, nun war er etwas heruntergekommen, hatte die Farbe von Clotted Cream, dazu kaffeefarbene Zierleisten, und stand fest verankert auf einer Grasfläche, die von Ebereschen und Holzapfelbäumen eingefasst wurde. Man hatte einen schönen Ausblick auf Weston und den langen, leeren Bogen des schlammigen Strandes.
Unsicher in Sachen Wohnwagenetikette blieb Kenny auf der Schwelle stehen, bis Pat die Tür aufriss.
Er stellte überrascht fest, dass sie eine alte Frau in Gartenkleidung und einer Strickjacke geworden war, die an ihren Hüften herunterhing wie die Lefzen einer Dogge. Ihr strenger Haarschnitt war an der Stirn stumpf und von Weiß durchzogen. Aber der prüfende Polizistenblick war noch da.
Sie sagte: »Komm rein, ich setz Wasser auf«, und er folgte ihr in den Caravan. Drinnen war alles orange und karamellfarben. Es gab einen tragbaren Fernseher, ein Katzenklo, sonst nicht viel. Es roch nach Gas und Katzen.
Pat stand in der Kochnische und machte zwei Tassen Tee mit Milch, blass wie ein Wintermorgen. Katzen wanden sich um ihre Knöchel und Waden, dann um Kennys.
»Und, wie lebst du hier so?«, fragte Kenny.
»Na, siehst du doch. Wie Gott in Frankreich.«
Er sah ihr an, dass sie hier glücklich war, aber sich schämte, es zuzugeben. Manchmal wollten die Leute nicht zugeben, dass sie glücklich waren, weil das, was sie glücklich machte, nicht Erfolg oder Leidenschaft waren. Es waren nicht Liebe oder Sex oder Geld, sondern einfache Dinge, die andere vielleicht nicht verstanden: ein kleiner Garten, ein reichlicher Vorrat an Zigaretten, eine Tasse guter Tee, Modelleisenbahnen auf dem Dachboden, Nachmittagsvorstellungen in leeren Kinos.
»Und was machst du so?«, fragte Kenny.
»Was denkst du denn? Ich sitz den ganzen Tag faul auf dem Arsch rum. Ein bisschen jäten, Zeitung lesen. Die eine oder andere Zigarette. Wenn’s genehm ist.«
Er wusste, dass er nicht blinzeln durfte, während sie seine Reaktion beobachtete. Er und Pat hatten dieselben Fähigkeiten, dasselbe Talent für Gesichter. Jetzt gerade studierte sie ihn, schätzte seine Absichten ein.
Sie fragte: »Wie läuft’s mit dem Malen?«
»Ich kann davon leben.«
»Es ist ein Geschenk Gottes. Mach was draus. Ich hab gehört, deine Mary hat wieder geheiratet.«
»Sie ist glücklich.«
»Dann ist es wohl besser so.«
»Ja, es ist besser so.«
Er folgte ihr mit seiner Teetasse nach draußen. Sie stellten sich ins hohe Gras, wo die Hecken sie von der Hügelstraße abschirmten.
»Also, was willst du?«, fragte Pat.
»Jemanden finden.«
»Wollen wir das nicht alle?«
Er ließ den Satz verklingen, bis sie fragte: »Wen willst du finden?«
»Ein Mädchen. Aus meiner Schule. Aus der Grundschule.«
»Weil …?«
»Weil sie nett zu mir war. Als ich ein Kind war. Sie war die Einzige, die nett war. Ich will ihr sagen … na ja, dass ich das nie vergessen habe.«
»Und das ist alles?«
»Mehr oder weniger.«
»Warum?«
»Wenn man etwas Nettes getan hat, soll man wissen, dass es etwas bedeutet hat.«
»Dann schau doch mal im Dingsda, im Internet. Google sie. Das machen doch alle.«
»Das hab ich schon versucht.«
»Na ja, jemanden zu finden, der sich nicht versteckt, ist nicht sehr schwierig. Hast du irgendwelche Daten?«
»Ich weiß, in welcher Straße sie gewohnt hat. Ihren Nachnamen. Das Geburtsjahr. So was eben.«
»Dann schaffst du es auch allein. Gib mir einen Stift. Ich schreib dir auf, was du machen musst.«
»Ich hab keine Zeit.«
»Dann beauftrage jemanden. Ich kann dir Leute nennen. Einen Preis aushandeln.«
»Ich möchte gerne, dass du es machst.«
»Warum?«
»Weil es privat ist.«
Er hielt ihrem Blick stand.
»Sie wird verheiratet sein«, sagte Pat. »Oder geschieden. Sie wird Kinder haben. Sie wird sich die Haare färben, weil sie graue Strähnen bekommt. Sie wird Krampfadern haben und Titten, die ihr bis an die Knöchel hängen. Wer immer sie ist, sie ist nicht mehr das kleine Mädchen. Sie ist das, was aus dem kleinen Mädchen geworden ist.« Ihr Gesicht entspannte sich und sie fügte hinzu: »Als ich zehn war, habe ich Ballett gemacht.«
Sie zeigte auf ihren Körper – kartoffelförmig, geschwollene Knöchel. Kenny grinste höflich.
Sie sagte: »Ich kann das Mädchen nicht für dich finden. Es gibt sie nicht mehr.«
»Das weiß ich.«
»Was soll das Ganze dann? Du bist jung. Nur alte Männer trauern der Vergangenheit nach. Hör auf damit.«
»Ich sterbe.«
In der darauf folgenden Stille musterte sie sein Gesicht. Schließlich seufzte sie. »Krebs, stimmt’s?«
»Im Gehirn.«
»Wie lange hast du noch?«
»Ein paar Wochen.«
Sie war der erste Mensch, dem er es erzählte. Es hatte komisch geklungen, als es aus seinem Mund kam – aber nicht bedeutend, und nicht einmal besonders wichtig.
»Ach, das ist ein Jammer. Du bist ein sehr netter Mensch.«
»Danke.«
»Und natürlich helfe ich dir gerne.«
Er kratzte sich verlegen und wurde rot: »Und wie viel denkst du …?«
»Schenk mir einfach ein Bild. Eins, das du gern magst – eine schöne Landschaft oder so was. Einen Sonnenuntergang. Irgendwas, was ich mir an die Wand hängen kann. Wer weiß, vielleicht wird es ja mal wertvoll … wenn du tot bist.«
Sie lachten.
Sie notierte sich seine Telefonnummer, seine Postanschrift und seine E-Mail-Adresse. Dann schrieb sie alle Informationen auf, die er ihr geben konnte.
Als Kenny zum Auto zurückging, spürte er, dass sie im Türrahmen stand und ihm nachsah, während sich die Katzen um ihre Knöchel schmiegten.
Er fühlte sich gut – so, als hätte er den ersten Schritt einer langen Reise getan.